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       # taz.de -- Laurie Penny über den Brexit: „Ja, es ist Panik“
       
       > Die Stimmung in Großbritannien hat sich verfinstert, sagt die Feministin.
       > Sie warnt davor, dass die Linke sich zerfleischt. Und bittet: Lasst uns
       > nicht allein.
       
   IMG Bild: Bei ihrer Buchbesprechung in Berlin: Laurie Penny
       
       taz: Frau Penny, PopulistInnen erstarken weltweit. Sie ziehen den Typus des
       wütenden weißen Mannes in den Bann. Hat in England der wütende weiße Mann
       gewonnen? 
       
       Laurie Penny: Nein. Das war nicht nur ein Rückschlag der Männer. Ich denke,
       gerade das ist wirklich schwierig im Moment. Eine Menge Leute in
       Großbritannien beschuldigen sich gegenseitig und sagen: Oh, es war der
       Fehler der weißen Arbeiterklasse, es war der Fehler der liberalen Jungs, es
       ist ein Fehler der PolitikerInnen.
       
       Dieser Typus ist weiß. Ist das das Thema? 
       
       Es geht um Rassismus, es geht absolut um Rassismus. Eine der
       erschreckendsten Sachen, die wir in den vergangenen Tagen sehen, ist ein
       gut dokumentierter Anstieg rassistischer Angriffe. Leute, die Türen
       eintreten, die polnische Bürger auffordern: „Gesindel, geh nach Hause.“
       Kinder werden auf der Straße angegriffen. Es wurden sehr viele Vorfälle von
       Gewalt, Einschüchterungen und verbalen Bedrohungen gemeldet.
       
       Aber sind denn wirklich alle, die für den Brexit gestimmt haben,
       RassistInnen? 
       
       Mitnichten. Eine Menge Leute haben dafür gestimmt, weil sie an ihren Lohn
       dachten, um es dem Establishment zu zeigen, dass sie das alles satthaben.
       Sie haben Angst, dachten, sie könnten sich die Macht zurückholen. Aber
       unglücklicherweise haben wohl alle, die rassistisch sind, für den Brexit
       gestimmt. Und die anderen, die das auch getan haben, müssen sich nun der
       Tatsache stellen, dass sie eine rassistische Minderheit ermächtigt haben.
       PolitikerInnen und KampagnenführerInnen mit asiatischen Wurzeln oder
       muslimischen hören jetzt: „Geht dahin zurück, woher ihr kommt.“
       
       Hat sich Ihr Land seit Donnerstag wirklich so massiv verändert? 
       
       Ich denke, das Land wird sich in den nächsten Tagen, Wochen, Jahren massiv
       verändern. Aber es wäre doch etwas einfach zu sagen, dass sich alles über
       Nacht verändert hätte. Das gab es doch vorher schon: ein riesiger Anstieg
       von Ungleichheit, massive soziale Frustration, zunehmende rassistische
       Kampagnen, skrupellose PolitikerInnen. Jetzt sehen wir die Verzweiflung.
       Die Stimmung hat sich verfinstert.
       
       Verfinstert? 
       
       Ganz sicher. Eine Verfinsterung der Stimmung im Sinne von Ungewissheit.
       Niemand weiß doch, was jetzt passiert. Niemand weiß, was uns die nächsten
       paar Wochen und Monate bringen werden. Denn niemand kennt den Plan für
       einen EU-Austritt. Wird es ein weiteres Referendum geben? Wird das
       Parlament den Austritt blockieren? Wir haben keinen Premierminister. Die
       Labour-Partei frisst sich selbst auf. Es ist die größte Krise seit Ende des
       Zweiten Weltkriegs. Es ist ein Chaos. Und die Leute sind sehr ängstlich.
       
       Im New Statesman haben sie geschrieben, dass es nicht genug Tee im ganzen
       Land gebe, „um uns zu beruhigen“. Das klingt nach Panik. 
       
       Ja, es ist Panik. Ich denke – und viele Leute bringen das in den sozialen
       Medien zum Ausdruck –, die Menschen sind sehr ängstlich, weil sie wissen,
       dass weder die Brexit-Kampagne noch die Regierung einen Plan in der
       Schublade für diesen Fall hat. Das Ganze ist destabilisierend.
       
       Gibt es derzeit überhaupt irgendein anderes Thema, über das die Leute reden
       außer dem Brexit? 
       
       Nicht wirklich. Die Spiele in Frankreich vielleicht?
       
       Über was sprechen wir hier eigentlich? Wirklich über den Brexit? 
       
       Ich glaube, für viele Menschen war es genauso ein Referendum über die
       Moderne wie über andere Themen. Ja, es war ein Referendum über den Zustand
       der modernen Welt. Eine Menge Leute in Großbritannien sind sehr empört,
       unzufrieden und unglücklich über den Zustand der modernen Welt. Es gibt
       immer weniger Sicherheiten. Es ging auch gegen David Camerons
       Austeritätspolitik. Das hat er dem Land in den vergangenen Jahren
       eingehämmert. Ja, es war ein Referendum über den Zustand des modernen
       Großbritanniens und die politische Klasse. Die Wut auf das Elitentum der
       politischen Klasse der EU ist ungeheuer groß.
       
       Aber greift die Argumentation mit der Austeritätspolitik nicht zu kurz?
       Großbritannien war auch vor David Cameron kein soziales Paradies. 
       
       Nein. Der Lebensstandard ist für eine Masse von Leuten gesunken.
       Großbritannien ist in den letzten Jahren immer ungleicher geworden. Gewiss
       ist das auch eine Folge der Bankenkrise. Aber die soziale Spaltung ist eine
       Wirklichkeit. Und das ist die Folge von 30 Jahren neoliberaler Politik. Das
       ist seit Margret Thatcher so. Aber Cameron hat Thatchers Programm der
       Restrukturierung der Nation nach neoliberalem Modell vollendet.
       
       Hat Labour sich zu sehr darauf konzentriert, moderne Linke zu sein, und
       sich zu sehr auf Fragen der modernen Gesellschaft wie beispielsweise
       LGBT-Rechte fokussiert? Hat Labour die Probleme der „normalen“ Leute
       vernachlässigt? 
       
       Nein. Das halte ich für kompletten Unsinn. Zuallererst: Eine Menge Leute,
       die normale Leute sind, sind LGBT, Frauen. Wenn über „normale“ Leute
       gesprochen wird, sind damit in der Regel weiße, mittelalte Männer gemeint.
       Aber gewöhnliche Leute sind sehr divers. Keine Partei kann dafür beschimpft
       werden, dass sie sich solcher Themen annimmt. Ich bin sehr froh, dass die
       britische Labour-Partei und überhaupt viele sich für LGBT-Rechte einsetzen.
       Das sind Themen einer modernen Zivilgesellschaft. Für viele Menschen geht
       es dabei um Leben und Tod. Das war kein Fehler von Labour. Die Art, wie wir
       Labour verantwortlich machen wollen, ist völlig falsch.
       
       Also hat Labour alles richtig gemacht? 
       
       Im Moment verhält sich Labour absolut unpassend. Richtig wäre es, wenn die
       Partei den Fokus etwas weniger auf sich selbst richten und stattdessen sich
       mehr um die aktuelle Krise kümmern würde. Aber es ist typisch für die
       Linke, sich selbst zu beschuldigen. Anstatt wütend zu werden auf die Leute,
       die es verdient haben, werden wir sauer auf uns selbst und werfen uns
       gegenseitig vor, nicht genug getan zu haben. Für Selbstvorwürfe ist später
       auch noch Zeit.
       
       In Deutschland und in anderen Ländern Europas fragen sich die
       sozialdemokratischen Parteien durchaus, ob sie in den vergangenen Jahren
       nicht genug für die einfachen Leute getan haben. Jetzt müssten sie wieder
       mehr auf soziale Belange schauen anstatt auf die kulturellen Diversitäten
       einer modernen Gesellschaft. Und es scheint uns so, als ob dieser Kampf in
       Großbritannien noch stärker ist. 
       
       Ja, da ist was dran. Aber das sollte uns auf keinen Fall auf den Gedanken
       bringen, dass gewöhnliche oder einfache Leute, dass die gesamte
       Arbeiterklasse Rassisten sind. Ich glaube, die ArbeiterInnen, die einfachen
       Leute, sind weit verschiedener als das.
       
       Labour ist am Boden, der Premier tritt zurück. Sehen Sie derzeit eine
       Persönlichkeit, die eine politische Perspektive sein könnte? 
       
       Nicola Sturgeon, die Vorsitzende der Scottish National Party (SNP), scheint
       die einzige Person zu sein, die einen Plan hat. Sie ist die einzige
       Erwachsene in der Politik. Im Moment warten wir ab, ob es doch noch eine
       adäquate linke Antwort auf all das gibt. Wissen Sie, die meisten Linken
       befinden sich momentan in einem Zustand der Schockstarre. Eine erhebliche
       Zahl linker BritInnen hat auch für den Brexit gestimmt. Sie glaubten, das
       würde dazu führen, EU-Restriktionen zurückzuweisen und dass wir unsere
       Industrien renationalisieren könnten. Aber das wird nie geschehen. Das war
       nie im Spiel.
       
       Warum gab es eigentlich angesichts dessen keine stärkere Kampagne für den
       Verbleib in der EU? Die jungen Leute haben überwiegend gegen den Brexit
       gestimmt, aber sie haben sich nicht zusammengeschlossen? 
       
       Viele EU-BefürworterInnen hatten keine Lust, sich an die Seite von Cameron
       und anderen Koservativen zu stellen. Gerade in Großbritannien ist es extrem
       schwer, für die EU zu argumentieren. Denn viele der Vorwürfe, etwa der, die
       EU sei antidemokratisch, treffen einfach zu. Trotzdem war der Verbleib in
       der EU die beste Option, die wir hatten. Aber das bloße Argument der besten
       Option ist unglücklicherweise überhaupt kein inspirierender Slogan. Erst
       recht nicht, wenn die Raus-Kampagne Kuchen für alle verspricht.
       
       Jetzt, wo es zu spät ist, scheinen viele energischer zu werden. Wir haben
       den Eindruck, dass die jungen BritInnen richtig sauer sind. Stimmt die
       Wahrnehmung? 
       
       Ja, das stimmt. Aber es sind eine Menge Leute wütend, einschließlich
       derjenigen, die für den Brexit gestimmt haben und nun sehen, wie sehr sie
       belogen wurden. Jetzt sehen sie, wie die Austrittsanführer sie mit ihren
       Versprechen beschwindelt haben: Sie haben gesagt, es könnte 315 Millionen
       Pfund extra geben jeden Tag. Und jetzt heißt es: Nein, nein, so haben wir
       das nicht gemeint. Die Leute fühlen sich belogen und betrogen. Ja, es gibt
       eine Menge Wut und eine Menge Angst. Und ich weiß auch nicht, was geschehen
       wird. Es tut mir leid, das sagen zu müssen. Aber im Moment versuchen wir
       nur, durch die nächsten Wochen zu kommen. Wir warten, dass der Staub sich
       legt.
       
       Was kann Europa beitragen, damit Großbritannien aus dieser Krise findet? 
       
       Es hat mich wirklich berührt, dass viele Deutsche solidarisch zu uns stehen
       und nicht unterscheiden in wir und die. Nun geht es darum, das Beste für
       die Leute rauszuholen, die sich jetzt belogen und betrogen fühlen von der
       politischen Klasse. Bitte tretet nicht auf die Briten, während sie am Boden
       liegen. Ja, ich bitte darum: Lasst uns nicht fallen und bestraft uns jetzt
       nicht noch mehr.
       
       30 Jun 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Barbara Junge
   DIR Patricia Hecht
       
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