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       # taz.de -- Grüne zur Massentierhaltung: Auf gut Deutsch: Verarschung
       
       > Anton Hofreiter und einige Parteikollegen wollen in 20 Jahren keine
       > Massentierhaltung mehr. Klingt gut, ist aber nicht annähernd so gut
       > durchdacht.
       
   IMG Bild: Eins von Hofreiters Forderungen: Das Kupieren von Schweineschwänzen verbieten
       
       So etwas hört man natürlich gern: Die Grünen wollen die Massentierhaltung
       abschaffen, und das sogar innerhalb von zwanzig Jahren. Das verlautbarte
       Anton Hofreiter kürzlich gegenüber Zeitungen, und er schreibt es auch in
       seinem [1][jüngst erschienen Buch über die „Fleischfabrik Deutschland“]
       (Riemann Verlag, Juni 2016).
       
       Im Grunde müssten ihm dafür auch die Wähler*innen anderer Parteien Beifall
       klatschen, denn Massentierhaltung mag schließlich keiner. Außer vielleicht
       einige, die an ihr verdienen. Alle anderen jedoch, die die Produkte der
       Massentierhaltung bloß konsumieren, würden zwar gerne diese Produkte
       beibehalten, bloß halt ohne die schmutzige Assoziation industrieller
       Tierquälerei. Mit dem Gedanken, dass er zumindest gelegentlich „bio“ kauft,
       was er sich fälschlicherweise wie Bullerbü vorstellt, tröstet sich der
       Konsument über den alltäglichen Einkauf und die schrecklichen
       Dokumentationen zum Elend der Massenställe hinweg.
       
       So ist der Term „Massentierhaltung“ von einem kritischen Begriff längst zu
       einem Mittel der Gewissensberuhigung durch Abgrenzung geworden: Jeder
       Fleischesser, der heutzutage etwas auf sich hält, lehnt sie ab, ist aber
       nicht bereit, an seinem Verhalten das Geringste zu ändern. Und leider läuft
       auch Anton Hofreiters Ankündigung, die Massentierhaltung abschaffen zu
       wollen, auf ein weiteres Angebot an die Konsument*innen hinaus, ihr
       Gewissen zu beruhigen, wenn sie im Gegenzug versprechen, nicht so genau
       nachzufragen.
       
       Was man aber eigentlich tun sollte. Also habe ich an einer Fachtagung in
       Hannover teilgenommen, wo die Grünen mit Bauern und
       Lebensmittelindustriellen über „100 Prozent faire Tierhaltung“ diskutiert
       haben; habe Hofreiters Buch gelesen, Mails mit der Presseabteilung der
       Grünen gewechselt und ein Papier zum „Pakt für faire Tierhaltung“ von Anton
       Hofreiter, Nicole Maisch und Friedrich Ostendorff gelesen. Das ist die
       Grundlage für die folgenden Spekulationen, was die Grünen beziehungsweise
       Hofreiter tatsächlich intendieren.
       
       ## Wenig Raum und Arbeitskraft
       
       Die Spekulation fängt schon beim Titel des Autorenpapiers an, der nur noch
       von „fairer“ Tierhaltung spricht, nicht von „100 Prozent fair“ („[2][Pakt
       für faire Tierhaltung]“). Bezüglich der tierhalterischen Fairnessgrade
       herrscht offenbar noch Verwirrung. So wird die 100-Prozent-Marke zwar auch
       in Hofreiters Buch erwähnt, allerdings fällt dort ebenfalls die
       Formulierung, dass sich die Tiere künftig „einigermaßen wohl fühlen“
       sollen. In dem Positionspapier heißt es wiederum nur, es sei anzustreben,
       dass es den Tieren „deutlich besser geht“ als jetzt. Einigermaßen?
       Deutlich? Also vielleicht 20 bis 40 Prozent fair – was bitte heißt das?
       
       Diese Fragen sind keineswegs akademisch oder pfennigfuchserisch gemeint.
       „Wir setzen auf eine Politik der machbaren Schritte, die ein klares Ziel im
       Blick hat.“ schreibt Hofreiter. Doch genau dieses Ziel fehlt – und muss im
       Bereich des „fairen“ Tiere-Nutzens wohl auch notgedrungen fehlen.
       
       Die Landwirtschaft mit Tieren hat sich seit dem Zweiten Weltkrieg stark
       industrialisiert, weil auch auf diesem Wirtschaftszweig ein großer Druck
       lastet, mithilfe von möglichst wenig Raum und Arbeitskraft möglichst viel
       „herauszuholen“. Das geht zu Lasten der Landwirte, der Böden – und der
       Tiere. Teilweise möchten die Grünen nun EU-Subventionen umverteilen, um
       „bäuerliche“ Landwirtschaft mehr zu unterstützen. Aber wie „bäuerlich“ kann
       Landwirtschaft in einer nichtbäuerlichen Postindustriegesellschaft sein?
       Wir sind in Deutschland über 80 Millionen Menschen, nur 1,5 Prozent davon
       sind Landwirte. Wie sollen diese 1,5 Prozent den gesamten Rest „bäuerlich“
       versorgen?
       
       Die Maßnahmen der Effizienzsteigerung lassen sich, selbst bei bestem
       Willen, nur begrenzt zurückschrauben. So sprechen die Grünen eben von mehr
       Platz im Stall, von weniger stark verzüchteten Tieren, von einem Verbot von
       Verstümmelungen und Amputationen (Kupieren von Schwänzen und Schnäbeln).
       Aber das ist vage, und es trifft nicht den Kern des Problems. Worunter die
       Tiere in der Landwirtschaft derzeit leiden, sind nicht nur Zucht, engste
       Enge und Amputationen. Sie leiden darunter, dass Haltung und Nutzung in
       jede Phase ihres Leben eingreifen, ja, das Ausleben eines tierlichen Lebens
       stark beeinträchtigen oder sogar verhindern.
       
       ## Großes Schweigen im grünen Walde
       
       Stichwort Kinder: Eine rentable Milchwirtschaft, bei der die Kuh nicht ein
       Vielfaches der natürlichen Milchmenge produziert und gleichzeitig das Kalb
       behalten „darf“, das aus ihrem Euter trinkt, ist meines Wissens noch nicht
       erfunden.
       
       Stichwort Mütter: Kein einziges der über 800 Millionen ökonomisch
       „erzeugten“ Küken wird von einer Henne ausgebrütet, sie schlüpfen in
       elektrisch beheizten Schubladen, werden über Förderbänder und in Lkws viele
       Stunden ohne Futter und Wasser transportiert; müssen sich in den Ställen
       ohne Henne orientieren, was zu etlichen Prozent „Hungertoten“ führt. Genau
       wie das Kalb braucht auch das Küken seine Mutter.
       
       Stichwort Bewegung: Auf so ziemlich jeder Tagung zum Tierwohl wird freudig
       betont, wie einfach Stroh als Beschäftigungsmaterial eingesetzt werden und
       somit Schweine von kannibalistischem Verhalten abhalten kann – aber
       Schweine brauchen keine Ergotherapie und keine Beschäftigung, sie brauchen
       ein Leben!
       
       Sollen also nach grüner Vision alle Spaltenböden mit den darunterliegenden
       Güllegruben abgeschafft und die Schweine wie in Mittelalter und Früher
       Neuzeit wieder in den Wald geschickt werden? Soll das maschinelle Ausbrüten
       endlich wieder durch Naturbrut ersetzt werden? Dürfen bei „100 Prozent
       fair“ alle Kühe ihre Kälber behalten? Wird, last, but not least, die
       boomende Aquakultur unterbunden, bei der bislang Fische auf kleinstem Raum
       zusammengequetscht werden dürfen, was nach jüngst veröffentlichten
       Untersuchungen zu Depressionen und selbstmordähnlichem Verhalten unter
       anderem bei Zuchtlachsen führt? Großes Schweigen im grünen Walde.
       
       ## „Weil es Tiere sind“
       
       Immer wieder versuchen die Lobbyisten der Agrarindustrie, den
       Konsument*innen den Begriff der „Intensivtierhaltung“ anstelle von
       „Massentierhaltung“ schmackhaft zu machen. Dazu schreibt Hofreiter: „Das
       ist Schönfärberei, auf gut Bayerisch Verarschung. Ich bin ein Freund
       deutlicher Worte.“
       
       Ich auch. Wer 100 Prozent faire Tierhaltung ankündigt, dann aber bloß
       zwischen „deutlich“ und „einigermaßen“ herumeiert (Freiland natürlich), wer
       im Grunde nur ein Ringelschwänzchen heile lassen, etwas mehr Platz
       „gewähren“, Hühner und Küken weiterhin elektrisch in Schubladen ausbrüten,
       Rindern und Schweinen den Nachwuchs von den mütterlichen Zitzen reißen und
       sie im juvenilen Alter in den Schlachthof fahren lassen will, der betreibt
       Schönfärberei. Kann man nicht nur auf Bayerisch, sondern auch auf
       Hochdeutsch Verarschung nennen.
       
       Ungern lasse ich mich von den Grünen verarschen und mir Marketing-Slogans
       wie „100 Prozent fair“ andrehen, wenn tatsächlich „10 Prozent weniger übel“
       gemeint ist. Es ist klar, dass der Weg der Realpolitik aus kleinen
       Schritten besteht, aber dann darf man nicht versprechen, dass man nach 20
       Jahren in einer Utopie ankommt.
       
       Dabei wurde die wirklich heikle ethische Frage in diesem Text ja noch nicht
       einmal angetippt: Wie kann man überhaupt von Fairness sprechen, wenn man
       dem anderen tatsächlich nach dem Leben trachtet und ihn im Alter weniger
       Monate umzubringen gedenkt? Ich stellte diese Frage auch auf der erwähnten
       Grünen-Tagung in Hannover. Zufällig saß ich danach neben Anton Hofreiter.
       Er beugte sich zu mir herüber und sagte: „Die Antwort ist: weil es Tiere
       sind.“
       
       Das ist im Jahre 2016, nach 40 Jahren Tierethikdebatte, Tierrechtsdemos auf
       allen Kontinenten und nahezu täglichen Meldungen aus der Biologie, wie
       ähnlich uns Tiere sind, keine Antwort mehr. Mehr Stringenz muss her,
       mutigere Visionen und eine deutlichere ethische Haltung. Auch und gerade
       bei den Grünen.
       
       7 Jul 2016
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Buch-ueber-deutsche-Fleischproduktion/!5307451/
   DIR [2] https://www.gruene-bundestag.de/fileadmin/media/gruenebundestag_de/themen_az/agrar/Faire_Tierhaltung.pdf
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Hilal Sezgin
       
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