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       # taz.de -- Debatte Brexit-Folgen für den Westbalkan: Nicht den Anschluss verlieren
       
       > Durch das Brexit-Referendum ist die Europäisierung des Balkans ins
       > Stocken geraten. Stattdessen bringen sich autoritäre Mächte ins Spiel.
       
   IMG Bild: Straßenszene aus dem heutigen Sarajevo. Welche Folgen hat der Brexit für die weitere Entwicklung der Westbalkanstaaten?
       
       In der bei allen Krisen und Kriegen nie um Witze verlegenen Bevölkerung von
       Sarajevo werden zurzeit Vergleiche zwischen der EU nach dem
       Brexit-Referendum und dem Zerfall Jugoslawiens gezogen. Wer konnte sich in
       diesem zwar in die Krise geratenen, aber grundsätzlich friedlichen und
       fortschrittlichen Land Jugoslawien Ende der 1980er Jahre auch vorstellen,
       was dann mit dem von allen Seiten unterschätzten Aufstieg des Nationalismus
       kam? Manches an den Reaktionen und Diskussionen im heutigen europäischen
       Haus erinnert an die Anfangszeit des vor fast genau 25 Jahren begonnenen
       Zerfalls des Vielvölkerstaats.
       
       Die balkanische Erfahrung ist kurz gefasst: Die nationalen Mobilisierungen
       waren begleitet von Hysterie und Lügen, die erfolgreich Misstrauen zwischen
       den Bevölkerungsgruppen säten. Alle strukturellen und wirtschaftlichen
       Probleme der Gesellschaft wurden mit der „Schuld der anderen“ begründet. So
       bei der Angst um Arbeitsplätze oder bei den Verteilungskämpfen im Staate.
       Nationale Mythen lebten wieder auf, ebenso die Sehnsucht nach der als
       glorreich verklärten Vergangenheit. Der Ruck nach rechts und die
       Propagandakampagnen führten schließlich zu Hass und Kriegsbereitschaft.
       
       Die Entwicklung hin zum Hass sei heute in Europa schon sichtbar, stellen
       Freunde in Sarajevo fest. „Was bedeutet diese Auseinandersetzung in der EU
       für uns?“, ist aber die bange Frage. Denn bisher hatte das 2003 in
       Thessaloniki gegebene Versprechen der EU den Bevölkerungen Hoffnung
       gegeben, die Westbalkanstaaten könnten nach Assoziierungsverhandlungen,
       nach der Durchsetzung von demokratischen Reformen in Staat, Wirtschaft und
       Gesellschaft, ihren Weg in die europäische Staatengemeinschaft finden.
       Slowenien und Kroatien haben es ja auch geschafft. Noch heute hoffen starke
       Mehrheiten in allen Gesellschaften des Westbalkans, also in Albanien,
       Bosnien, Montenegro, Mazedonien, Kosovo und Serbien, auf die Perspektive,
       Bürger der EU zu werden.
       
       ## Die EU scheint zu wackeln
       
       Denn das Versprechen Europa bedeutet auch, die Macht der korrupten und
       unfähigen eigenen Eliten einzugrenzen. Ein Beispiel für die Europäisierung
       des Balkans war doch, dass vor dem Eintritt Kroatiens in die EU hohe
       Staatsfunktionäre und ein ehemaliger Premierminister wegen Korruption ins
       Gefängnis kamen. Doch ist eine Annäherung an Europa noch realistisch? Die
       EU scheint zu wanken. Selbst wenn ihre Krise gemeistert werden sollte,
       steht jetzt schon fest, dass der Einfluss der EU auf den Lauf der Dinge –
       zum Bedauern der meisten prowestlichen Intellektuellen – in diesem Teil
       Europas geschwächt worden ist. Die Eliten sind keineswegs so
       europabegeistert wie die Bevölkerungen, müssen aber auf deren Stimmung
       Rücksicht nehmen. Angesichts der kroatischen Erfahrungen ist der größte
       Teil des Führungspersonals allerdings sehr vorsichtig geworden, sich Europa
       anzunähern.
       
       So sind diese Bürokraten auch bereit, dem Werben anderer Mächte Gehör zu
       schenken. Putins Offensive auf dem Balkan setzte schon 2006 ein. Sein
       Wunsch, Serbien offen auf seine Seite zu ziehen, ist bisher zwar
       gescheitert. Doch Russlands Einfluss ist in Serbien und der serbischen
       Teilrepublik in Bosnien und Herzegowina nicht zu unterschätzen, vor allem
       durch die Unterstützung der nationalistischen Politik im
       Weltsicherheitsrat. Auch der Einfluss der orthodoxen Kirche Russlands auf
       die orthodoxen Kirchen in Serbien, Griechenland, Bulgarien, Rumänien und
       Mazedonien ist nicht geringer geworden. Putins Strategie, die orthodoxen
       Nationalismen des Balkan für sich einzunehmen, wird inzwischen ergänzt
       durch seine westlichen Freunde. Wie die österreichische FPÖ unterstützen
       auch andere rechte und rechtsradikale Bewegungen und Parteien aus dem
       Westen die extremen Nationalisten auf dem Balkan.
       
       ## Der dornige Weg der Demokratisierung
       
       Autoritäre Lösungen für die Krise der eigenen Gesellschaften zu suchen,
       anstatt den dornigen Weg der Demokratisierung zu gehen, wird für manche der
       Potentaten auf dem Balkan zunehmend zu einer interessanten Alternative. Vor
       allem, weil jetzt auch andere autoritäre Spieler auf den Plan getreten
       sind. Die Türkei versucht seit Jahren, ihren Einfluss auf den Balkan, also
       dem über Jahrhunderte von den Osmanen beherrschten Teil Europas, wieder zu
       festigen. Zentrum der Bemühungen ist Sarajevo. So wird die erzkonservative
       Politik des türkischen Regimes unter Erdoğan in einer Reihe von religiös
       dominierten privaten Universitätsgründungen unterstützt.
       
       Doch letztliches Ziel ist es, nicht nur Einfluss auf die Muslime des
       Balkans, ob im Kosovo, Mazedonien, Serbien und Montenegro (die zwischen
       beiden Staaten geteilte Region Sandschak) zu gewinnen, sondern Einfluss
       auf alle Staaten zu haben. Hinzu kommen Investitionen türkischen Kapitals
       im gesamten Raum. Die türkische Nationalideologie ist sogar ausgeweitet
       worden: Türken und Bosniaken seien eine Nation, heißt es nun aus Ankara.
       Doch auch die Golfstaaten und Saudi-Arabien weiten ihren Einfluss auf den
       Balkan und vor allem in Bosnien und Herzegowina aus.
       Milliardeninvestitionen in den Tourismus des Landes werden begleitet durch
       die Unterstützung islamistischer Gruppen und Politiker.
       
       Gerade Großbritannien war es, das zusammen mit Deutschland die
       Europäisierung im Zentrum des Balkan, im Vielvölkerstaat Bosnien und
       Herzegowina, wo traditionell alle Spannungen der Region kulminieren,
       stärken wollte. Mit der Entscheidung der Briten, die EU zu verlassen,
       scheint nun Deutschland allein diese Rolle zugewiesen. Kürzlich versuchte
       die Kanzlerin in Berlin, den Präsidentschaftsrat des Landes auf eine
       Einigung für das Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen, das am 18.
       Juli in Brüssel verabschiedet werden soll, zu verpflichten.
       
       Durch das Brexit-Referendum wird die prowestliche, demokratische Position
       auf dem Balkan weiter geschwächt. Die Europäisierung des Balkan ist ins
       Stocken geraten. Ob der Wunsch der Bevölkerungen nach Integration in die EU
       dennoch erfüllt wird, hängt vom politischen Willen in Berlin und der
       weiteren Entwicklung in der EU ab. Von der Westbalkankonferenz in Paris
       waren jedenfalls keine Wunder zu erwarten.
       
       7 Jul 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Erich Rathfelder
       
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