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       # taz.de -- Pollesch-Inszenierung im Autokino: Gehupt wird trotzdem
       
       > Benzingeruch und Popcorn. Mit seinem Stück „Stadion der Weltjugend“
       > belebt Regisseur René Pollesch etwas fast Vergessenes wieder: das
       > Autokino.
       
   IMG Bild: Parken mit Popcorn: René Polleschs Stück „Stadion der Weltjugend“ im Autokino bei Kornwestheim
       
       Es könnte kaum romantischer sein. Die untergehende Sonne taucht die Felder
       rund um den Parkplatz des Autokinos in Kornwestheim, einem Vorort von
       Stuttgart, in goldenes Licht. Es riecht nach warmem Beton und Popcorn, als
       man am alten Kassenhäuschen vorbei auf den Parkplatz rollt. Über der
       Einfahrt heben sich die großen Metalllettern „Stadion der Weltjugend“
       gegen den Freitagabendhimmel ab. Menschen lehnen an ihren Autos, rauchen,
       reden und trinken Bier. Kein Instagramfilter könnte so viel romantische
       Nostalgie über einen Moment legen, wie sie vor Beginn von René Polleschs
       Inszenierung spürbar ist.
       
       Obwohl die riesige Wand, auf die das live gespielte Stück projiziert wird,
       noch leer bleibt, befindet man sich gefühlt längst im ersten Akt. So fremd,
       so spannend kommt einem dieses Setting des Autokinos vor, das in einer
       Gegenwart von medialer Dauerberieselung seine Berechtigung verloren zu
       haben scheint. Die kindliche Euphorie, mit der sich Zuschauer zwischen
       Autotüren fragen, auf welcher Frequenz die Tonspur zu empfangen sei, macht
       den Autokinobesuch zum vergessenen Abenteuer, was neu entdeckt werden
       könnte.
       
       Schon dröhnt wie die Versprechung eines cineastischen Feuerwerks
       orchestrale Actionfilmmusik aus den Autoradios. Als Potpourri großer
       Kinohelden erscheinen Julischka Eichel im gelben Kill-Bill-Kostüm, Manuel
       Harder und Christian Schneeweiß in karierten Detektivfummeln, Abak
       Safaei-Rad als Filmdiva und Martin Wuttke mit „Der Pate“-Oberlippenbart
       riesig auf der Leinwand. Immer dicht gefolgt von einem Kamerateam. Gespielt
       wird mal unter oder mal neben der Leinwand.
       
       In Anlehnung an „Bullit“, den Film, mit dem das Autokino Kornwestheim 1969
       eröffnete, rauscht die Gruppe vor einem Greenscreen im Cabriolet sitzend
       durch die Straßen von Los Angeles. Gerade als man sich gespannt ins
       Sitzpolster zurücklehnen möchte, werden der Pomp abrupt ab- und
       theoretische Gedankenexkurse angedreht
       
       ## Eine gigantische, aufblasbare Frauenfigur
       
       Den Großteil des übrigen Abends verbringen die fünf DarstellerInnen, in
       wechselnder Kostümierung, beengt ins Kunstleder eines Kleinwagens gepresst
       und führen Pollesch-typische Diskussionen zu Genderfragen, Authentizität
       und Liebe. „Das waren noch Zeiten. Als man sich nicht immer selbst spielen
       musste“, meint Martin Wuttke, und etwas später fragt Christian Schneeweiß
       ratlos von der Rückbank. „Wo ist denn die Epoche hin, in der man etwas
       spielte, was man nicht ist?“
       
       Auf die Euphorie des Publikums folgt Ernüchterung. Es ist nicht mehr 1969.
       Das ist das Traurige an diesem Abend, denn man hätte sich insgeheim gerne
       in vergangene Filmwelten geflüchtet und so getan, als wären es noch die
       Narrative der Gegenwart. Trotz aller Kostümreferenzen auf Filmklassiker
       liegt Martin Wuttke schließlich, mit erschreckender Ähnlichkeit zu Woody
       Allen, im Schoß einer gigantischen aufblasbaren Frauenfigur, die sich wie
       eine Erektion mit Brüsten vor der Leinwand erhoben hatte, und muss
       feststellen: „Warum funktioniert das alles nicht mehr? Das bringt doch
       alles nichts mehr. Wo ist denn da die Künstlichkeit?“
       
       Das ist der viel zitierte „Anschlussfehler“, der immer wieder in den
       Diskussionen auftaucht. Die alten Narrative wollen nicht mehr greifen, und
       neue künstliche, utopische Filmwelten scheint es aufgrund des
       Authentizitätsdiktats der Gegenwart nicht zu geben. Man fragt sich, ob das
       nicht der eigentliche Horror ist: dass man anderthalb Stunden Menschen auf
       der Leinwand zuschaut, die sich selbst spielen und die man selbst sein
       könnte.
       
       Die Tragik, dass die Flucht ins Autokino 2016 nicht mehr funktioniert, ist
       nicht die reaktionäre Sehnsucht nach überholten Hollywoodversprechungen. Es
       ist die Einsicht, dass die Traumfabrik keine zeitgenössischen Utopien
       produziert. In diesem Sinne kann der Abend nur als Aufforderung gemeint
       sein, nach dem gegenwärtigen Pendant des Autokinos zu suchen. Beim
       Hupapplaus kehrt die anfängliche Euphorie aber nochmal kurz zurück.
       
       6 Jul 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Judith Engel
       
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