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       # taz.de -- Kulturkampf im Iran: Wenn 50 Kilo Kirschen subversiv sind
       
       > Die Regierung Rohani bemüht sich im Inneren um Freiheit, kann die
       > Kulturschaffenden aber nicht vor den islamistischen Hardlinern schützen.
       
   IMG Bild: Die Schauspieler Shahab Hosseini und Taraneh Alidosti mit Asghar Farhadi (Mitte) in Cannes
       
       Beim diesjährigen Filmfestival von Cannes wurde der iranische Schauspieler
       Shahab Hosseini, Hauptdarsteller in dem Film „Forushande“ (Der
       Handlungsreisende) von Asghar Farhadi, als bester Schauspieler
       ausgezeichnet. Auch Regisseur Farhadi erhielt eine Auszeichnung für das
       beste Drehbuch.
       
       „Forushande“ ist eine iranisch-französische Koproduktion. Der Film fängt an
       mit der Inszenierung von Arthur Millers „Tod eines Handlungsreisenden“,
       Hosseini und Taraneh Alidoosti spielen die Hauptrollen. Bald darauf muss
       das Ehepaar die eigene Wohnung verlassen, weil das Haus zusammenzubrechen
       droht. Ein Schauspielerkollege bietet ihnen eine Übergangslösung in einer
       kürzlich freigewordenen Wohnung an.
       
       Die beiden wissen aber nicht, dass bei der Vorgängerin fremde Männer ein
       und aus gingen. Allein in der Wohnung, geht die Frau eines Abends unter die
       Dusche. Die Wohnungstür lässt sie offen, weil sie glaubt, ihr Mann habe
       geklingelt. Doch es ist ein Fremder, der in die Wohnung kommt und die Frau
       vergewaltigt. Der Vorfall erschüttert die Beziehung des Ehepaars.
       
       Die Geschichte könnte man als Beschreibung der Lage der iranischen
       Künstler, Schriftsteller oder Filmemacher im Iran auffassen. Viele von
       ihnen müssen ihre Heimat verlassen, weil sie die bedrohliche Repressionen
       zu Hause nicht aushalten.
       
       ## Tortur für Filmemacher
       
       Während zum Beispiel iranische Filmemacher und Darsteller im Ausland hohe
       Auszeichnungen erhalten – Farhadi bekam 2012 für seinen Film „Nader und
       Simin – eine Trennung“ einen Oscar, auch andere iranische Filmemacher wie
       Kiarostami, Makhmalbaf, Panahi erhielten auf internationale Filmfestivals
       höchste Auszeichnungen – müssen sie und ihre Kollegen in der Heimat bei
       jedem ihrer Filme eine Tortur durchmachen, bis sie von der Zensurbehörde
       Dreherlaubnis und nach der Produktion die Genehmigung zur Vorführung
       erhalten.
       
       Doch selbst wenn alle Hürden überwunden und die Filme für die Kinos
       freigegeben werden, ja selbst wenn ein Film bereits in den Kinos läuft, ist
       nicht sicher, dass er nicht verboten wird. Dieses Schicksal erlebten drei
       Filme, deren Produzenten sich am 30. Mai vor Gericht verantworten mussten.
       Said Molkan mit dem Film „Die Ewigkeit und ein Tag“, Mostafa Shayesteh mit
       „Fünfzig Kilo Kirschen“ und Mansur Lashgari Ghutshani mit „Die namenlose
       Gasse“ wurde vorgeworfen, in persischsprachigen Auslandmedien für ihre
       Filme geworben zu haben.
       
       Der Teheraner Staatsanwalt Abbas Dschafari Dolatabadi bezeichnete die drei
       Produzenten als „Konterrevolutionäre mit Verbindung zum Ausland.“
       
       ## Gesellschaftskritischer Inhalt
       
       Alle drei Filme, besonders „Fünfzig Kilo Kirschen“, gehörten zu den Filmen
       mit höchsten Zuschauerzahlen. Der tatsächliche Grund für das Verbot war
       nicht die Werbung in den Auslandmedien, sondern ihr gesellschaftskritischer
       Inhalt.
       
       Ähnlich wie den Filmemachern geht es den Musikern. Seit einigen Monaten
       werden immer häufiger Konzertveranstaltungen kurz vor Beginn abgesagt.
       Obwohl die Veranstalter offiziell die Erlaubnis vom Kulturministerium
       erhalten haben, werden die Konzerte angeblich aus Sicherheitsgründen
       ausgesetzt. Als Vorwand weisen die Ordnungskräfte auf „angekündigte
       Protestdemonstrationen“ oder Äußerungen eines Predigers beim Freitagsgebet
       hin.
       
       Zu dieser allmählich gängigen Praxis nahm die Regierung Stellung.
       Regierungssprecher Mohammed Bagher Nobacht sagte, Präsident Rohani sei
       entschieden gegen die Absage von musikalischen Darbietungen, die zuvor vom
       Kulturministerium genehmigt worden seien. Er habe bei verschiedenen Reden
       „deutlich seinen Unmut“ darüber geäußert. „Wir erwarten, dass solche
       Absagen nicht mehr vorkommen, denn sie haben sozial und kulturell negative
       Folgen“, sagte Nobacht.
       
       ## Von Islamisten geleitet
       
       Doch die Ordnungskräfte, Revolutionswächter, die Sittenpolizei, die
       Geheimdienste, die Zensurbehörde und die Justiz, die fast ausschließlich
       von Islamisten geleitet werden, kümmern sich nicht um die Verordnungen der
       Regierung, die kulturell eine Öffnung nach innen anstrebt.
       
       Ein zuvor für zwei Abende angekündigter Auftritt des weltberühmten
       iranischen Kamantscheh-Spielers (ein iranisches Streichinstrument) Keyhan
       Kalhor und seines Ensembles in der Stadt Neyschabur wurde eine Stunde vor
       der Aufführung abgesagt. Die Künstler waren gerade auf dem Weg vom
       Flughafen zum Konzertsaal.
       
       Auch ein Popkonzert von Masiar Fallahi in der Stadt Yasd durfte nicht
       stattfinden. Geplant waren vier Auftritte an vier nacheinander folgenden
       Abenden. Angeblich hatte eine Gruppe von Motorradfahrern dagegen
       protestiert.
       
       ## Kampf um die Kulturpolitik
       
       Die Einigung im Streit über das iranische Atomprogramm hat den schon seit
       Jahren bestehenden Kampf um die Kulturpolitik im Iran erheblich verschärft.
       Während die Reformer und die Gemäßigten auch im Bereich der Kultur eine
       größere Öffnung nach innen und außen anstreben, wächst bei den Islamisten
       die Furcht vor einer kulturellen Unterwanderung.
       
       Diese Unterwanderung werde erheblich verstärkt, sobald westliches Kapital
       und westliche Unternehmen Zugang zum iranischen Markt erhalten, meinen sie.
       Sie haben gegen den Import moderner Technik und Technologie nichts
       einzuwenden, sind aber entschieden gegen jegliche kulturelle Einflussnahme
       des Westens.
       
       Revolutionsführer Ali Chamenei weist bei jeder Gelegenheit auf die Gefahren
       hin, die aus dem Westen die Islamischen Republik bedrohen. Er ging kürzlich
       dabei so weit, dass er die „bevorzugte Verbreitung der englischen Sprache“
       kritisierte. „Andere Länder unterbinden den Einfluss fremder Sprachen“,
       sagte er vor einer Versammlung von Lehrern. „Ich sage nicht, dass wir ab
       morgen aufhören sollten, die englische Sprache zu lehren. Aber wir sollten
       uns darüber im Klaren sein, was wir tun.“
       
       ## „Übermäßiger Einfluss“ der englischen Sprache
       
       Chamenei hatte schon früher den „übermäßigen Einfluss“ der englischen
       Sprache kritisiert. Da sei plötzlich einer auf die Idee gekommen, dass die
       Kinder schon in der Grundschule, ja sogar im Kindergarten Englisch lernen
       sollten, sagte er spöttisch. Wenn jemand es für nötig halte, Englisch zu
       lernen, könne er dies auch im erwachsenen Alter tun.
       
       Der Leiter der Kommunikationsabteilung im Chameneis Büro wurde noch
       deutlicher. Der erste Schritt der Kolonialisten sei, einem Volk seine
       Muttersprache zu nehmen, mit dem Ziel, seine Identität und seinen Willen
       nach nationaler Souveränität zu zerstören.
       
       Was die Islamisten befürchten, ist nicht allein der Einzug der Dekadenz,
       die sie dem Westen zuordnen. Es sind vielmehr die Vielfalt, die Freiheit
       der Kritik und der Meinungsäußerung, die Tabubrüche, die freie Wahl des
       individuellen Daseins, die die Machthaber zu unterbinden versuchen.
       
       ## Frauenpower-Zeichen auf Unterarm
       
       Schon die Tattoos einer bekannten Schauspielerin hatten heftige Reaktionen
       hervorgerufen. Taraneh Alidoosti, die im anfangs erwähnten Film „Der
       Handlungsreisende“ die Rolle der Ehefrau spielt, hatte auf ihren Unterarm
       ein Frauenpower-Zeichen tätowieren lassen, was bei einer gemeinsamen
       Pressekonferenz mit Regisseur Farhadi und dem Schauspieler Hosseini zu
       sehen war.
       
       Sie habe sich als Feministin entpuppt, hieß es in den konservativen Medien,
       was aus Sicht der Islamisten mit „abartig“ gleichzusetzen ist. Die
       32-Jährige reagierte auf Twitter mit den Worten: „Bewahrt die Ruhe! Ja, ich
       bin Feministin. Eine Feministin ist eine Person, die an die soziale,
       politische und wirtschaftliche Gleichheit der Geschlechter glaubt.“
       
       Vor wenigen Tagen beklagte sich Revolutionsführer Chamenei vor einer
       Versammlung von Hochschullehrern und Studenten über die herrschende
       Atmosphäre an den Universitäten des Landes. Es könne nicht sein, dass die
       Universitäten sich zu einem Tummelplatz für Gegner der Revolution und
       islamischer Werte verwandelten, sagte er. Wer, unter welchem Vorwand auch
       immer, die islamische Staatsordnung infrage stelle, könne an der
       Universität nicht geduldet werden.
       
       ## Freiheit der Presse, der Kunst und Literatur
       
       Die Hoffnung der Menschen im Iran, mit der Regierungsübernahme durch
       Präsident Rohani werde das Land sich auch nach innen öffnen, war bislang
       vergeblich. Zwar bekennen sich der Präsident und sein Kulturminister immer
       wieder verbal zu Freiheit der Presse, der Kunst und Literatur.
       
       „Ein Buch ist Ausdruck der Gedanken des Geistes eines denkenden Menschen.
       Wenn ein solcher Mensch beim Schreiben auf hundert Dinge Rücksicht nehmen
       soll, die die Zensur beanstanden könnte, wird er nicht weiterkommen“, sagte
       Rohani. Aber die Regierung kann kaum etwas ausrichten. Die Instrumente der
       Macht befinden sich in der Hand der Islamisten, die kein Ausscheren aus den
       festgesetzten Schranken dulden.
       
       12 Jul 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Bahman Nirumand
       
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