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       # taz.de -- EMtaz: Brexit, Fußball und Cohn-Bendit: Und man findet – ein Fest!
       
       > Hooligans, schlechte Laune und Sicherheitsparanoia bei der EM? Alles
       > unwahr. Fans feiern friedlich sich und andere. Mit Daniel Cohn-Bendit.
       
   IMG Bild: Ein Nordire und ein Ire bei einem europäischen Fußballturnier. Feiernd
       
       Ein paar hundert Meter entfernt vom Friedhof Montparnasse und den Gräbern
       Jean-Paul Sartres, Simone de Beauvoirs und Serge Gainsbourgs ist ein
       formidables Fischrestaurant. Davor isst an diesem Tag Daniel Cohn-Bendit zu
       Mittag und spricht dabei über die Fußball-EM und die europäische Lage
       angesichts des britischen Votums zum EU-Austritt. Er redet sich warm. Am
       Nachmittag wird er dazu seinem Leib- und Magenblatt Libération ein großes
       Interview geben.
       
       In Paris scheint nach trüben Wochen endlich die Sonne. Entsprechend hat
       sich auch die Stimmung der Leute aufgehellt, die am Tisch stehen bleiben,
       um den französischen National-Europäer zu fragen, wie er die Lage sieht.
       Oder ihm einfach nur zu danken.
       
       „Wofür?“ fragt er lächelnd.
       
       „Dass Sie Sie sind“, sagt Madame.
       
       Na, das will man doch hören. In den wenigsten Fällen sagt einem das mal
       jemand.
       
       Einen Tag später sagen die Briten nein zur EU. Und die Leute sagen: „Siehst
       Du, Dany, dein Europa funktioniert nicht.“ Da kriegt er seine
       Revolutionsstimme. „Das ist nicht mein Europa“, ruft er, „das ist das
       Europa von Merkel, Hollande und Cameron.“ Manche verstehen immer noch
       nicht, dass die EU nicht a priori „neoliberal“ ist, sondern Ausdruck
       demokratisch gewählter Mehrheiten.
       
       „Alles nebeneinander“: Hooligans, Brexit, fröhliche Leute 
       
       Cohn-Bendit, 71, hat In diesem Viertel als Anführer der europäischen Grünen
       2009 zwei Drittel der Stimmen geholt. Für ein entschiedenes Bekenntnis zur
       Weiterentwicklung der Europäischen Union. Das sagt er auch jetzt. Nicht
       weniger, sondern ein besseres Europa. Dafür kämpft er. Aber er kämpft
       gleichzeitig mit seinem Wissen über die Komplexität der Lage.
       
       Die Welt fühlt sich in diesen sonnigen Pariser Tagen nämlich seltsam schön
       an. Aber, sagt Cohn-Bendit, eben auch surreal. Unwirklich. Die fröhlichen
       Leute in den Stadien, die gewalttätigen Hooligans, die Unwetter, der
       Brexit, die Massendemonstrationen wie am Donnerstag an der Bastille, die
       brechend vollen Straßencafe's, der immer autoritärer agierende
       Staatspräsident Hollande: „Alles nebeneinander.“
       
       Und dahinter stehen die Terror-Anschläge. Die Toten des November. Die
       Franzosen hätten den Terror verdrängt, sagt Cohn-Bendit.
       
       Was kann man denn auch Besseres machen? Man kommt mit einer medialen
       Zuspitzung im Kopf nach Frankreich, also verbrecherischen Hools,
       nationalistischen Propagandisten und opportunistischen
       Katastrophismus-Politikern, die alle die EM als Werbefläche missbrauchen.
       Und dann findet man – als einen Teil des Ganzen, aber immerhin – ein Fest.
       Wenn die Nordiren in Paris unterwegs sind oder die Isländer und
       Österreicher: Das sind keine Horden. Das sind Herden, viele Männer, einige
       Frauen, ein paar Kinder. Auf der Suche nach, tja, was? Das könnten sie
       selbst nicht genau sagen.
       
       Chöre als Form des sozio-kulturellen Sich-Verbindens 
       
       Es ist nicht nur Spaß. Ich vermute, sie wollen sich in der Gemeinschaft
       spüren. Wenn die Deutschen auf dem Rückweg vom Prinzenpark in der Linie 9
       grölen, dass sie „die Nummer eins der Welt“ sind, dann müssen Linkspartei-
       und Grünenvorsitzende nicht ihre liebgewordenen Totalitarismusfantasien
       herauskramen. Das klingt hier nicht nach Über-alles-Chauvinismus.
       
       Es geht um das gemeinsame Singen. Chöre gelten als altbürgerlicher
       Spießerkitsch, aber sie sind eine tradierte Form des sozialen und
       kulturellen Sich-Verbindens. Zum zweiten drückt es das Bedürfnis aus,
       „etwas“ zu sein. Als Ich. Und als Wir. Der Deutsche ist nicht amtierender
       Weltmeister. Aber der deutsche Fußball. Also nehmen die konformistischen
       Individualisten der deutschen Gegenwartsgesellschaft das als Auszeichnung.
       Kostet ja nichts.
       
       Das Fußballfantum gilt prioritär einem Team und einem Sport. Die meisten
       Fans sind Fans einer Fußballmannschaft. Das heißt nicht, dass sie Fans
       eines Landes sind und schon gar nicht Bürger eines Landes. Es geht ihnen ja
       gerade um das Eintauchen in diese andere Welt der unkomplizierten
       Bindungen. Die Trikots sind Fantrikots. Und die Hymne? Jeder hat die
       herrlichsten Berge, die besten Äcker und die schönsten Männer und Frauen.
       So what? Wer sich selbst für hässlich hält, ist eine größere Gefahr für die
       Menschheit, wie man an minderwertigkeitsgeplagten Kleinstbürgern sehen
       kann.
       
       Ein britischer Fußballjournalist der Times hielt diese Woche ein –
       vergebliches – Plädoyer gegen Großbritanniens EU-Austritt. Diese Union sei
       keine Frage der Politik und der Wirtschaft, sondern eine Sache der
       europäischen Menschen, die sich etwas zu geben hätten. Er zählte als Belege
       seine vielen positiven Erfahrungen mit europäischen Mitbürgern auf. Dadurch
       habe er Europa „erfahren“.
       
       Alle Europäer in Frankreich feiern 
       
       Ob und wie man als EM-Tourist Europa „erfahren“ kann, ist schwer zu sagen.
       Es ist jedenfalls etwas anderes, wenn man „da“ ist und nicht zuhause vor
       dem Fernseher. Insofern hat es eine Auswirkung, dass zum ersten Mal 24
       europäische Teams und ihre Fans da sind. Diese sogenannten kleinen Teams
       kommen meist aus kleineren oder schwächeren EU-Ländern. Das sind nicht nur
       neue ökonomische Märkte, sondern auch neue Teilhabe-Märkte. Das mag aus
       fachspezifischen Gründen eine Verwässerung sein, aber aus europäischer
       Sicht ist es eine verdichtende Erweiterung. Übrigens auch sozial gerechter.
       Mehr Leute bekommen etwas ab.
       
       All diese Europäer in Frankreich feiern. Sie feiern sich. Ihre Gruppe.
       Manchmal mit einer anderen Gruppe. Sie feiern, dass sie da sind. Dass sie
       teilhaben. Sie feiern zwischen Kriegsdenkmälern, die nur noch Architektur
       sind. Vermutlich kämen die wenigsten auf die Idee, sich einen
       Soldatenfriedhof anzuschauen. Die europäische Vergangenheit der ständigen
       Kriege scheint einfach weit weg. Aber, sagt Daniel Cohn-Bendit: „Wenn wir
       diesen Verbund auflösen, kann die innere Dynamik von Staaten jederzeit
       wieder etwas nach oben spülen.“
       
       Im Grunde, um das mal hart zu sagen, feiern wir bei dieser EM, wie wir
       heute in Europa leben. Mit neoliberalen Bierpreisen, aber trotzdem.
       
       Das Wichtigste, was man vom Fußball lernen kann: Er funktioniert nur, wenn
       man den Konkurrenten gleichzeitig als Mitspieler versteht. Es gibt keinen
       Fußball ohne die anderen Teams. Keine großen Momente, keine Tore, nichts.
       Du kannst nur gegen andere spielen, wenn du mit ihnen spielst. Du bist ein
       Teil des ganzen Fußballs – oder du bist gar nichts.
       
       Das ist der Kern des Fußballpatriotismus.
       
       24 Jun 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Peter Unfried
       
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