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       # taz.de -- Merkel, die Deutschen und der Brexit: Es muss wie Routine klingen
       
       > Für die Kanzlerin ist es der wohl bitterste Tag ihrer Regierungszeit: Sie
       > hat wichtige Verbündete verloren.
       
   IMG Bild: Knappe Rede, keine Emphase: Merkel am Freitag im Kanzleramt
       
       Um viertel vor eins liest Angela Merkel die Erklärung zur Lage vor. Man
       solle ruhig und besonnen auf das Votum aus London reagieren, sagt sie. Und:
       „Es gibt nichts drumherum zu reden.“ Eine knappe Rede, ohne Emphase
       vorgetragen, mit Textbausteinen, die sie schon in unzähligen EU-Reden so
       ähnlich vorgetragen hat. Es soll wie Routine klingen. Jetzt keine Appelle.
       Keine Aufregung. Der Sound ist sachlich. Genau das spiegelt das Drama der
       Lage.
       
       Vielleicht ist es der 24. Juni der bitterste, abgründigste Tag ihrer
       Kanzlerschaft. Mehr als die Flüchtlingskrise, mehr als Fukushima. Denn das
       waren Ereignisse, auf die man reagieren konnte. AKWs abschalten, Grenzen
       öffnen. Aber was jetzt? Nun folgt ein Hagel von EU-Krisengipfeln in Brüssel
       und Berlin. Aber zu ändern ist nichts mehr.
       
       Am frühen Morgen schleppt sich Elmar Brok in eine Villa am Berliner
       Tiergarten, in die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik. Er geht
       vorbei am Buffet mit dem kontinentalen Frühstück. Im Saal debattieren
       EU-Experten die Lage. Brok lässt sich grußlos auf seinen Stuhl sacken. Er
       hat nicht viel geschlafen in der letzten Nacht.
       
       Niemand in der CDU lebt so sehr für Europa wie er. Seit 1980 sitzt der
       Ostwestfale im Brüsseler Parlament. In EU-Fragen ist er ein wichtiger
       Vertrauter der Kanzlerin. Dass die Briten jetzt gehen wollen, nach 43
       Jahren, es trifft ihn. „Out is out“, sagt er. Und: „Die Briten werden noch
       rausfinden, was ein Austritt bedeutet. Das werden Scheidungsverhandlungen.“
       
       Elmar Brok klingt wie ein Mann, der verlassen wurde und der jetzt keine
       Schwäche zeigen will. Und der zornig ist. Und der trotzdem noch hofft.
       „Vielleicht kommt der Tag, an dem die Briten wieder beitreten wollen. Dafür
       sollten wir Ihnen die Tür offen halten“ sagt er. Irgendwie, irgendwann.
       
       ## Es macht ihn müde
       
       Drei Stühle neben Brok referiert ein Politikwissenschaftler über die
       Formalien des Austritts. Brok schließt die Augen, sein Kopf sinkt auf die
       Brust. Das alles macht ihn müde.
       
       Für Angela Merkel ist Politik, so hat sie es mal gesagt, „agieren in einem
       Kraftfeld, das immer relativ ist“. Der Austritt der Briten ist nicht
       relativ. Er ist absolut. Dafür gibt es in Merkels Art, Politik zu machen,
       keinen vorhergesehenen Platz. Das Leave-Votum verändert das Kraftfeld für
       die Merkel. Es macht alles schwerer – in der EU und als Parteichefin.
       
       Merkel, die Technokratin, glaubt nicht an viel. Aber an eins gewiss. Es
       kommt in zahllosen ihrer Reden vor, meist weiter hinten. Es ist einer ihrer
       Überzeugungskerne. In der EU leben 7 Prozent der Weltbevölkerung, aber die
       EU hat die Hälfte der globalen Sozialausgaben. Das ist Merkels Mantra.
       
       Deshalb muss die EU sparen und noch wettbewerbsfähiger für den globalen
       Markt werden. Deshalb braucht Europa TTIP, deshalb muss Frankreich den
       Arbeitsmarkt reformieren. Diese Merkel, hart, überzeugt und neoliberal,
       sieht man in Paris, Madrid, Athen deutlicher als in Berlin. Und dieser
       Merkel fehlt nun ihr stärkster Verbündeter in der EU, nicht nur bei TTIP.
       
       ## Problem für die Partei
       
       Als Parteichefin wird es auch nicht leichter. Europa ist eine der wenigen
       verbliebenen Sinnressourcen der Union, eine unstrittige Tradition. Merkel
       beruft sich in ihrer Pro-EU-Haltung, gegen die Skeptiker, die gegen die
       Griechenlandhilfe stimmten, auf Adenauer und Kohl. Wenn auch der
       Pro-Europa-Faden reißt, wird es eng.
       
       Die Lage ist gerade für die liberale CDU ziemlich düster.
       Parlamentspräsident Norbert Lammert versucht es an diesem schwarzen Freitag
       mit britischem Understatement. „Die Sonne“, sagt er, „ist ja trotzdem
       aufgegangen.“
       
       Nutzt, was der wirtschaftsliberalen CDU schadet, den Linken? In der
       SPD-Fraktion keimen vage Hoffnungen, dass man ohne London bei der Sozial-
       und Wirtschaftsunion schneller vorankommen kann. Irgendwann. Es ist eher
       Idee als Plan.
       
       Die Linkspartei hat schon sehr früh am Morgen eine gemeinsame
       Presseerklärung der Partei und-Fraktionsspitze veröffentlicht. Damit
       niemand auf die Idee kommt, dass es Dissens über den Brexit gibt. In der
       Linkspartei glauben manche, dass man, weil die Rechtspopulisten auf dem
       Vormarsch sind, die EU nun verteidigen muss. Jetzt erst recht.
       
       ## Wagenknecht will Neustart
       
       Fraktionschefin Sahra Wagenknecht hingegen setzt weiter auf scharfe
       EU-Kritik. „Die EU mit ihren neoliberalen Verträgen und ihrem
       undemokratischen Machtapparat hat sehr viel Vertrauen verspielt“, so
       Wagenknecht zur taz. Wenn die EU bleibe, wie sie ist, werde sie zerfallen,
       prognostiziert sie. „Denn dann wird es auch in anderen Ländern irgendwann
       Entscheidungen wie in Großbritannien geben.“ Wagenknecht gibt der EU nur
       eine Chance, wenn es zum sozialen Neustart kommt.
       
       Der Linkspartei-Parlamentarier Jan van Aken sitzt am Vormittag im
       Restaurant des Bundestags, die Augen sind gerötet. Seit morgens um vier hat
       er die Auszählung verfolgt. Er ist müde und – „erschüttert“. Die „Wir haben
       es ja immer gesagt“-Rhetorik mancher linker EU-Skeptiker will ihm nicht
       über die Lippen. „Es herrscht große Einigkeit, dass der Brexit die
       Nationalisten und Rassisten stärken wird“, so van Aken. Nach Jubel klingt
       das nicht.
       
       24 Jun 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Anna Lehmann
   DIR Stefan Reinecke
   DIR Tobias Schulze
       
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