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       # taz.de -- Debatte Neoliberalismus: Die Blasphemie des Brexit
       
       > Die Macht der Märkte und die vermisste Ratio beim Referendum: Warum
       > Unvernunft manchmal ganz vernünftig erscheint.
       
   IMG Bild: Für die Märkte ist der Brexit eine Katastrophe. Aber deswegen auch insgesamt?
       
       Die vornehme Erzählung zum Brexit verweist auf die Geschichte
       Großbritanniens, die Flüchtlingskrise, den erstarkenden Nationalismus,
       demokratische Defizite, Brüssels Bürokratie und eine ziemlich komplizierte
       Welt. Die Empörung über das britische Votum benennt eine ungebildete
       Unterschicht als Ursache und unterstellt eine mangelnde Einsicht in die
       Notwendigkeiten unser Zeit.
       
       Doch die hier vermisste Vernunft ist das eigentliche Problem. Was als
       zwingende Rationalität auftritt, reißt Staaten in den Abgrund und macht
       Millionen von Menschen obdachlos.
       
       Wer den Brexit verstehen will, kann bei Wolfgang Streeck nachlesen. Der
       ehemalige Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung
       schrieb geradezu seherisch: „Wenn Vernunft heißt vorauszusetzen, dass die
       Forderungen der ‚Märkte‘ an die Gesellschaft erfüllt werden müssen, und
       zwar auf Kosten ebenjener Mehrheit der Gesellschaft, der nach Jahrzehnten
       neoliberaler Marktexpansion nichts bleibt als Verluste, dann könnte in der
       Tat das Unvernünftige das einzig Vernünftige sein“. Das ist in seinem Buch
       „Gekaufte Zeit“ von 2013 nachzulesen (Suhrkamp Verlag).
       
       Der Brexit ist nicht vernünftig, aber welche Vernunft führte zur
       Finanzkrise, deren Konsequenzen bis zu diesem Votum reichen? Warum war es
       nicht möglich, die Ursachen zu erkennen und anzupacken?
       
       Weil diese Vernunft tiefgreifender ist als eine verfehlte Wirtschafts-,
       Sozial- und Finanzpolitik. Weil sich diese Vernunft wie eine Virus-DNA in
       unsere Gesellschaften einnisten konnte und seither Denkschablonen
       reproduziert, die ihre Politik als unumstößliches Naturgesetz erscheinen
       lassen.
       
       ## Steuerstaat wird Schuldenstaat
       
       Deregulierung, Privatisierung und die Entfesselung der Märkte wurden mit
       den wirtschaftlichen Krisen in den 1970er Jahren zu Synonymen dieser neuen
       Vernunft. Wolfgang Streeck beschreibt eine Entwicklung vom Steuerstaat zum
       „Schuldenstaat“.
       
       Die routinemäßige Schuldenfinanzierung erforderte eine leistungsfähige
       Finanzindustrie. Sinkende Steuereinnahmen werden durch Schulden ersetzt.
       Die Kürzung der Staatsausgaben durch gesetzlich fixierte Schuldenbremsen
       funktioniert wie ein Anreiz, immer mehr Bereiche des Gemeinwesens zu
       privatisieren. Der Motor einer Ideologie, der sich als solides Haushalten
       verkleidet.
       
       Der Staat ist nicht mehr nur von Bürgerinnen und Bürgern abhängig, sondern
       zunehmend auch von seinen privatrechtlichen Gläubigern. Ihre Ansprüche
       resultieren nicht aus der Verfassung, sondern dem Zivilrecht. Private
       Schiedsgerichte, mit denen Konzerne öffentliche Haushalte anzapfen, sind
       ein Geschäftsmodell, das auf dem Geschacher einer globalen Neo-Politik
       fußt. Die „Freiheit“, die beim transatlantischen Freihandelsabkommen TTIP
       anklingt, entspricht nur dem ideologischen Neusprech.
       
       ## Immunisierte Fiskalpolitik
       
       Streeck bezeichnet das Finanzkapital als zweites Volk, als „Marktvolk“.
       Mächtiger und international, tritt es zunehmend mit dem nationalen
       „Staatsvolk“ in Konkurrenz. Das verbirgt sich hinter dem Ringen um das
       „Vertrauen der Märkte“.
       
       Es wird erlangt durch den „Übergang zu einer regelgebundenen
       Wirtschaftspolitik, zu unabhängigen Zentralbanken und einer gegen
       Wahlergebnisse immunisierten Fiskalpolitik; durch Verlagerung von
       wirtschaftspolitischen Entscheidungen in Regulierungsbehörden und Gremien
       sogenannter Experten; sowie durch verfassungsförmig installierte
       Schuldenbremsen, mit denen Staaten sich und ihre Politik über Jahrzehnte,
       wenn nicht für immer, rechtlich binden“, wie Streeck schreibt.
       
       Millionen spüren eine abstrakte Übermacht, die nicht greifbar erscheint,
       aber allgegenwärtig ist. Eine Logik, die unser Leben beeinflusst und das
       Denken selbst verändert.
       
       Die Berkeley-Politologin Wendy Brown beschreibt ausführlich, wie der
       Neoliberalismus zur mächtigsten Ideologie unserer Gegenwart werden konnte.
       Diese prägt nicht nur Politik und Wirtschaft, sondern durchdringt bereits
       alle Teilbereiche der Gesellschaft und modifiziert selbst unser Wissen. Sie
       löst die Demokratie, wie wir sie kennen, durch eine neue, totalitäre
       Gesellschaftsform ab. Einen neoliberalen Postdemokratismus.
       
       ## Globale Ungleichheit mit feudalen Zügen
       
       Wo Alternativen nicht einmal mehr denkbar sind, entstehen Eruptionen. Sie
       äußern sich überall in Europa. Im Extremismus, in immer gewaltigeren
       Demonstrationen. Ein Unbehagen, das sich gegen das Fremde richtet; doch die
       Flüchtlingskrise selbst ist eine Folge dieser globalen Vernunft.
       
       Weltweit geht die Wahlbeteiligung drastisch zurück, das obere eine Prozent
       zahlt so gut wie keine Steuern und erfährt in den USA 80 Prozent des
       Vermögenszuwachses der letzten Jahrzehnte. Wir sehen eine globale
       Ungleichheit, die feudale Züge trägt.
       
       Doch Märkte gelten gemeinhin als Mechanismus, der optimale Verteilung
       garantiert, wenn er sich ausschließlich selbst steuert. Als Gegenpol zu
       dieser Erzählung ist soziale Gerechtigkeit als Verunreinigung des Systems
       konstruiert, erscheint selbst als korrupt.
       
       ## Zerrbild eines Systems
       
       „Märkte, so die von der kapitalistischen Öffentlichkeitsarbeit unermüdlich
       forcierte Unterstellung, verteilen nach allgemeinen Regeln, Politik dagegen
       verteilt nach Macht und Beziehung“, schreibt Streeck. Das Ideal des freien
       Austauschs der Kräfte ist das Zerrbild eines Systems, das sich kartellhaft
       organisiert und durch Intransparenz und abgeschottete Monopole vor
       tatsächlichem Wettbewerb schützt.
       
       Wie Investoren und Märkte reagieren würden, lautete die drängendste Frage
       nach dem Brexit. Kapital ist flüchtig, grenzenlos und offshore. Zu
       akzeptieren ist diese Kapitalphysik, die falsche Politik sogleich durch
       Ausweichbewegung bestraft und Alternativen als weltfremd stigmatisiert.
       Heute zwängen Ratingagenturen selbst in Deutschland Städten und Kommunen
       mit ihren Noten ihre „neutrale“ Politik auf. Sie gehören allesamt
       Finanzkonzernen.
       
       Abstrakte Märkte verkünden endgültige Wahrheit, so absolut wie einst die
       katholische Kirche, als diese noch das Monopol der Weltauslegung besaß.
       Glauben und Wissen waren damals wie heute eins. Häretikern geht es an den
       Kragen.
       
       9 Jul 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Kai Schlieter
       
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