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       # taz.de -- Kronzeuge des Terrors: „Die Szene wächst“
       
       > Harry S. reiste nach Syrien, um für den „Islamischen Staat“ zu kämpfen.
       > Doch bei Dschihadisten greifen wir oft auf Stereotype zurück, sagt der
       > Politologe Heiner Vogel.
       
   IMG Bild: Der Angeklagte Harry S. im Gerichtssaal im Hamburger Strafjustizgebäude
       
       taz: Herr Vogel, im Prozess gegen Harry S. basieren Anklage und Urteil
       maßgeblich auf seinen eigenen Aussagen. Er wirkt klar und glaubhaft. Ist
       das auch Ihr Eindruck? 
       
       Heiner Vogel: Seine Erzählungen über sein bisheriges Leben und das, was er
       bei seiner kurzen Syrien-Reise erlebt hat, zeigen ein ähnliches Bild,
       welches von Bekannten von ihm gezeichnet wurden, mit denen ich mich
       ausgetauscht habe. Harry S. suchte nach Halt und Anerkennung in der
       Gesellschaft. Er rutschte vor seiner Ausreise immer weiter ab und zwar in
       ein Umfeld, das leichtes Spiel hatte mit einem Mitläufer wie ihm.
       
       Ist das Bild vom unreflektierten jungen Mann, der in der westlichen
       Gesellschaft keinen Halt findet und ihn im Islamismus sucht, ein Vorurteil? 
       
       Wir bedienen uns vor allem bei Salafismus und Dschihadismus oft stereotyper
       Beschreibungen und Narrative, die eine intensivere Beschäftigung mit dem
       Thema abwürgen. Es ist einfacher, sich unter einem Dschihadisten jemanden
       vorzustellen, der beruflich gescheitert ist, kriminell wird und seinen
       Selbsthass auf die westliche Gesellschaft projiziert. Im salafistischen wie
       dschihadistischen Spektrum finden wir alle sozialen Schichten, nicht nur
       den Menschen aus dem kriminellen Hochhausmilieu, welchen wohl Harry S.
       verkörpert, der selbst als sehr intelligent gilt.
       
       Wie kommt es, dass jemand wie Harry S. in London zum Islam konvertiert? 
       
       In London wurde er mit einer anderen gesellschaftlichen Realität
       konfrontiert. Hier leben viele konservative Muslime, die aus Asien, dem
       Nahen Osten und Afrika stammen. In Bremen hatte er als Christ häufiger mit
       Ausgrenzungen aufgrund seiner Hautfarbe zu kämpfen. Das stand offenbar im
       starken Kontrast zum Londoner Alltagsleben. Auch mit Salafisten kam er in
       Kontakt. Vor allem sie verstanden es, ihm das Gefühl zu geben, akzeptiert
       zu werden. Egal wie du aussiehst, woher du kommst oder wie viel Geld du
       hast: Du bist willkommen.
       
       Harry S. beschreibt seinen Freundeskreis als multikulturell … 
       
       … ja, viele Freunde waren Araber, Kurden und Türken, die wie er einen
       Migrationshintergrund hatten. Die meisten von ihnen waren Muslime, hatten
       aber mit Salafismus nichts am Hut. Nicht wenige hatten Erfahrung mit
       Kriminalität. Alle einte das Ziel, aus der Armut zu entfliehen und einen
       gewissen gesellschaftlichen Status zu erreichen.
       
       In Bremen radikalisierte er sich im Kontakt zu Vertretern der
       Takfir-Ideologie. Was ist an der so besonders? 
       
       Was den Salafisten häufig vorgeworfen wird ist, dass sich die Anhänger
       stark von den übrigen muslimischen Gläubigen abgrenzen. Wer nicht ihrer
       Ideologie folgt, wird, je nach Grad der radikalen Meinung, als unrein oder
       sogar als abtrünnig bezeichnet. Generell gehört Bremen neben Hamburg,
       Berlin und Frankfurt zu den Hochburgen der deutschen Salafisten. Dort, wo
       Harry S. lange Zeit ein und aus ging, der mittlerweile verbotene „Kultur-
       und Familienverein“ (KUF), ließen sich die meisten Islamisten für den
       Dschihad rekrutieren. Insgesamt sind wohl deutlich mehr als 30 Bremer nach
       Syrien ausgereist, darunter Harry und sein Freund Adnan.
       
       Hat das Verbot des Kultur- und Familienvereins, das der Bremer Innensenator
       2014 erlassen hat, die islamistische Szene in Bremen dezimiert? 
       
       Das Verbot des KUF wurde damit begründet, dass dort zahlreiche Leute für
       den Dschihad rekrutiert worden sind. Vor allem um solche Orte der
       militanten Radikalisierung machen sich Behörden zu Recht Sorgen. Aber die
       Bremer Salafisten-Szene ist nach wie vor groß. Und sie wird wohl in den
       nächsten Jahren weiter wachsen. In Bremen gibt es wie in Hamburg und Berlin
       Stadtteile, in denen viele Menschen ohne jegliche Perspektive leben.
       Natürlich muss man sagen, dass sie in erhöhtem Maße dem Risiko einer
       Radikalisierung ausgesetzt sind. Dieses Problem wird uns sicher noch viele
       Jahre beschäftigen.
       
       Wie groß ist das Problem einer Radikalisierung in deutschen Gefängnissen? 
       
       Analysen des Bundeskriminalamtes (BKA) haben ergeben, dass sich bislang
       deutschlandweit etwa 11 von 544 Personen, die nach Syrien gereist sind, im
       Gefängnis radikalisiert haben. Das ist im Vergleich zu anderen
       Radikalisierungsfaktoren ein sehr geringer Wert. Nichtsdestotrotz ist das
       Problem da. Denn die Zahl der in deutschen Gefängnissen radikalisierten
       Salafisten, die nicht in den Dschihad gereist sind, dürfte um ein
       Vielfaches höher ausfallen. Dazu gibt es bisher aber keine offiziellen
       Zahlen. Im Fall von Harry S. ging die JVA Oslebshausen womöglich ein
       unnötiges Risiko ein. Denn Renee Marc S., ein einflussreicher Islamist,
       wurde schon zuvor dabei beobachtet, wie er Insassen mit Dschihad-Propaganda
       indoktrinierte. Harry wurde diesem Mann schutzlos ausgeliefert. So kann
       Resozialisierung natürlich nicht funktionieren.
       
       Wird genug gegen die Gefahr der Radikalisierung in Gefängnissen getan? 
       
       Nein. Zwar versuchen einige Bundesländer, staatlich ausgebildete Imame in
       den Gefängnissen als Seelsorger einzusetzen, bedenkt man aber, dass ein
       beträchtlicher Prozentsatz der Insassen muslimischen Glaubens ist, reichen
       solche Einzelmaßnahmen nicht aus.
       
       Was riskiert Harry S. mit seiner Offenheit gegenüber deutschen Behörden? 
       
       Harry wird nicht nur in den Reihen der IS-Anhänger, sondern auch in der
       gesamten Salafisten-Szene als Verräter angesehen. Dass Leute mit den
       Behörden reden und Informationen über ihre „Brüder“ preisgeben, wird dort
       nicht gern gesehen. Ob er damit ein Risiko eingeht, darüber kann man nur
       spekulieren. Doch ich sehe für ihn nach seiner Haftentlassung eine gute
       Chance, ein normales Leben zu führen, ohne sich verstecken zu müssen.
       Aussteigern wie Irfan Peci ist das auch gelungen.
       
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       8 Jul 2016
       
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