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       # taz.de -- Debatte Colonia Dignidad in Chile: Der Schatten der Kolonie
       
       > Es ist das dunkle Kapitel der deutsch-chilenischen Beziehungen. Gaucks
       > Besuch in Chile könnte zur Aufarbeitung beitragen.
       
   IMG Bild: Die chilenische Polizei im Jahr 1997 bei der Durchsuchung des Hauses von Sektenführer Paul Schäfer
       
       Bundespräsident Joachim Gauck ist am Montag in Chile eingetroffen. Auch
       wenn die deutsche Botschaft in Santiago und das Bundespräsidialamt im
       Vorfeld betont haben, dass das Thema „Colonia Dignidad“ keine zentrale
       Rolle während des Staatsbesuchs einnehmen soll: Chilenische
       Menschenrechtsgruppen verbinden mit dem Besuch des vormaligen
       Bundesbeauftragten für die Unterlagen des DDR-Staatssicherheitsdienstes
       Hoffnungen, dass dieses schwarze Kapitel in den bilateralen Beziehungen
       endlich umfassend und ernsthaft aufgearbeitet wird.
       
       Gemeinsam mit Präsident Gauck ist Regisseur Florian Gallenberger zu einer
       Vorpremiere seines Films „Colonia Dignidad“ angereist, der nach einigem Hin
       und Her im August anlaufen wird. Damit stehen erstmals auch in Chile die
       unrühmliche Rolle der bundesdeutschen Botschaft in Santiago und des
       Auswärtigen Amts in Bonn bezüglich der Menschenrechtsverbrechen in der
       Foltersekte auf der politischen Agenda.
       
       Die 300 Quadratkilometer umfassende Colonia Dignidad wurde 1961 von dem
       Deutschen Paul Schäfer gegründet. Sie liegt rund 400 Kilometer südlich der
       Hauptstadt Santiago. 44 Jahre lang, von 1961 bis 2005, lebten bis zu 300
       SiedlerInnen in der geschlossenen Welt der „Kolonie der Würde“ – vor allem
       Deutsche, zuletzt aber auch chilenische Kinder und Jugendliche.
       
       Bald wurde ein straffes quasimilitärisches Regime mit Zwangsarbeit und
       religiöser Indoktrinierung errichtet. Schäfer selbst missbrauchte
       reihenweise Kinder und Jugendliche. Wem die Flucht gelang, für den war
       allzu oft die Botschaft Endstation – trotz frühzeitiger Informationen über
       das Treiben in diesem „Staat im Staate“ herrschte eine jahrzehntelange
       Komplizenschaft.
       
       ## Deutsche Komplizenschaft
       
       Nach dem Wahlsieg des Sozialisten Salvador Allende 1970 verbündete sich die
       Colonia-Führungsriege mit rechtsextremen Kreisen. In den ersten Jahren der
       Pinochet-Diktatur (1973–90) installierte der chilenische Geheimdienst Dina
       auf dem weitläufigen Gelände eines seiner Folterzentren, wo vermutlich über
       hundert Regimegegner ermordet wurden. Auch handfeste Hinweise auf
       Waffenhandel, Giftgasproduktion und Geldwäsche gibt es im Zusammenhang mit
       der Foltersekte. Die Ermittlungen in Chile gehen schleppend voran –
       Verbündete in Justiz und Politik gibt es bis heute.
       
       Schäfer wurde nach seiner Flucht 1997 und der Festnahme in Argentinien 2005
       verurteilt, 2010 starb er in Haft. Ein Jahr darauf wurde sein
       Stellvertreter Hartmut Hopp wegen Beihilfe zum Kindesmissbrauch zu fünf
       Jahren Haft verurteilt, er reiste jedoch aus und lebt seitdem in Krefeld.
       Erst vor wenigen Wochen beantragte die dortige Staatsanwaltschaft die
       Vollstreckung dieses Urteils.
       
       Jahrzehntelang, selbst unter demokratischen Regierungen, hatte der
       chilenische Staat die Kolonie, als ein „deutsches“ Problem angesehen –
       umgekehrt waren die während der Pinochet-Jahre dort „Verschwundenen“ lange
       ein Tabu. Doch in den vergangenen Jahren hat sich Berlin bewegt. Seminare
       und eine Publikation wurden finanziert, und Bundesaußenminister
       Frank-Walter Steinmeier fand im April bemerkenswert selbstkritische Worte,
       als er die Akten der Jahre 1986 bis 1996 des Auswärtigen Amtes zum Thema
       „Colonia Dignidad“ freigab.
       
       ## Achtung der Menschenrechte standen nicht so hoch im Kurs
       
       Doch das ist nicht genug. Es geht um mehr als ein stillschweigendes
       Einverständnis zwischen konservativen Auslandsdeutschen und von der
       Bundesrepublik Deutschland entsandten Beamten, auch um mehr als das
       Fehlverhalten einzelner Diplomaten.
       
       Steinmeier hat eingeräumt, dass damals „die Wahrung der Menschenrechte auf
       anderen Kontinenten […] nicht zentraler Gegenstand […] der deutschen
       Außenpolitik“ war. Ja, in den 1970er Jahren standen für die sozialliberale
       Koalition in Bonn Antikommunismus und gute Geschäftsbeziehungen höher im
       Kurs als die Achtung der Menschenrechte in den zivilmilitärischen
       Diktaturen Argentinien, Brasilien oder Chile, zuweilen auch wenn deutsche
       StaatsbürgerInnen betroffen waren.
       
       Die deutsche Regierung müsste die rasche und umfassende Auswertung der
       jetzt freigegebenen Akten des Auswärtigen Amtes ermöglichen und zudem die
       diesbezüglichen Dokumente des Kanzleramts und des Bundesnachrichtendienstes
       zugänglich machen. Beispielsweise war der Waffenhändler und BND-Agent
       Gerhard Mertins mit Dina-Chef Manuel Contreras befreundet und gründete 1978
       den Freundeskreis Colonia Dignidad, dem auch etliche Unionspolitiker
       angehörten.
       
       ## Forderung nach Entschädigung
       
       Neben einer offiziellen Entschuldigung für die Komplizenschaft deutscher
       Behörden und Diplomaten mit dem Unrechtssystem Colonia Dignidad, die
       sicherlich auch berechtigte Forderungen nach Schadenersatz nach sich ziehen
       dürfte, bedarf es einer umfassenden juristischen und politischen
       Aufarbeitung der Verantwortlichkeiten. Zusammen mit der chilenischen
       Regierung sollte ein umfangreiches Hilfsprogramm für die noch lebenden
       chilenischen und deutschen Opfer von Folter, Zwangsarbeit und sexuellem
       Missbrauch der Colonia Dignidad aufgelegt werden.
       
       Als dafür ungeeignetes Mittel hat sich der aus Bundesmitteln geförderte
       Umbau der Kolonie in die Touristenattraktion „Villa Baviera“ erwiesen, die
       heute von der zweiten Generation der früheren Führungsriege geleitet wird.
       Weiter Oktoberfeste feiern lassen, wo früher vergewaltigt, gefoltert und
       gemordet wurde? Chilenische Opfer und MenschenrechtlerInnen fordern eine
       angemessene Gedenkstätte in Chile, gute Vorschläge liegen auf dem Tisch.
       
       Zu Recht macht sich Joachim Gauck für eine tragende Rolle der
       Zivilgesellschaften beim Ausbau der Demokratie stark. Chilenische
       Menschenrechtsgruppen haben diesbezüglich viel erreicht. Nun geht es um
       Wahrheit, Gerechtigkeit und Erinnerung. Die Opfer müssen ihre Würde
       zurückerlangen, die ihnen durch das kriminelle System Colonia Dignidad
       genommen wurde.
       
       12 Jul 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Gerhard Dilger
   DIR Ingrid Wehr
       
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