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       # taz.de -- Flüchtlinge in Griechenland: Frau Gazis blieb
       
       > Mit dem EU-Türkei-Deal sanken die Flüchtlingszahlen. Als tausende Helfer
       > abreisen, gründet eine junge Griechin ihre eigene NGO.
       
   IMG Bild: Zwei junge Migranten auf Lesbos
       
       Mitilini taz | Hämmern schallt über den Betonplatz vor zwei großen
       Lagerhallen auf Lesvos, irgendwo zwischen der Inselhauptstadt Mytilini und
       dem Dorf Molivos. Labouri Yahya aus Marokko zersägt Holzleisten. Hassan,
       auch aus Marokko, schlägt Nägel ein. Es ist zehn Uhr morgens, noch liegt
       der Vorplatz der Halle im Schatten, doch das bleibt nicht so. „Ab 12 Uhr
       wird es schwierig, hier zu arbeiten“, sagt Nefeli Gazis, „dann brennt die
       Sonne.“
       
       Die 24-Jährige sitzt auf einer braunen Kiste und sortiert Kleiderspenden
       aus blauen Plastiksäcken und Paketen. In manchen liegen Briefe oder
       Zeichnungen für die Flüchtlinge. „Mit viel Liebe und Kuscheleinheiten“,
       steht auf einem der Zettel, er kam mit einer voller Stofftiere. „Sorgt euch
       nicht, es gibt Hoffnung“, hat ein anderer Spender geschrieben.
       
       Seit September lebt die Griechin Gazis auf der Ägäisinsel Lesvos, in
       Sichtweite der türkischen Küste. Sie hat das „Projekt Mensch“ ins Leben
       gerufen. Es betreibt das Attica Warehouse, vor dem die zwei Marokkaner
       jetzt sägen und hämmern. Holzpaletten stapeln sich draußen, Pakete mit
       Kleiderspenden drinnen. Die Männer stellen aus den Paletten Möbel her. „Die
       Menschen sitzen hier fest, haben nichts zu tun, außer zu warten“, sagt
       Gazis, während sie die nächste Kiste mit einer Schere aufschneidet.
       
       ## Eigentlich wollte sie eine Weltreise machen
       
       Die Flüchtlinge laufen auf Lesvos herum, ein geregeltes Leben gibt es für
       sie nicht. Sie fühlen sich nutzlos und haben keinen Tagesablauf.
       Hauptsächlich sind es junge Männer. Und so kam Gazis die Idee mit den
       Möbeln.
       
       Früh um neun fährt sie mit ihrem Kleinbus herum und sammelt ihre
       Mitarbeiter ein, um sie nach Attika zu fahren. Dort bauen sie Schultische
       und Stühle für den Sprachunterricht in Moria, einem der staatlich
       betriebenen Aufnahmelager, und Bänke und Regale für das Flüchtlingscamp in
       Kara Tepe.
       
       Eigentlich wollte sie eine Weltreise machen, sagt Gazis. Lange habe sie
       dafür gespart. Doch die ausgebildete Pflegerin hätte die Reise nicht
       genießen können „bei all dem, was da an den Grenzen Europas passiert“. So
       beschloss Gazis, als Freiwillige nach Lesvos zu reisen. Hunderte haben das
       im letzten Jahr vor ihr getan. Doch im Gegensatz zu den meisten von ihnen
       ist Gazis jetzt, ein Jahr nachdem die Zahlen auf Lesvos extrem in die Höhe
       geschnellt sind, immer noch da.
       
       Als im März der EU-Türkei-Deal umgesetzt wurde, haben viele Freiwillige die
       Insel verlassen, berichtet Gazis. Das Abkommen sieht vor, alle illegal nach
       Europa eingereisten Flüchtlinge in die Türkei zurückzubringen. Flüchtlinge,
       die seit dem 20. März die Insel erreichen, werden von Polizei oder
       Küstenwache nach Moria gebracht. Einst war es ein Registrierungscamp, heute
       ist es ein Internierungslager. „Freiwillige HelferInnen kommen nicht mehr
       rein“, sagt Gazis. Auch zahlreiche kleinere NGOs dürfen nicht mehr in die
       Lager hinein. Die Versorgung durch Ärzte mit Essen oder Kleidung sei
       seither hoch problematisch.
       
       Die vielen alternativen Camps, die die Freiwilligen auf der Insel betrieben
       hatten, wurden auf Druck der Behörden nach und nach geschlossen.
       Flüchtlinge und Migranten, die dort untergekommen waren, mussten sich in
       Moria melden. „Bis geklärt war, wer wo benötigt wird, waren alle
       Freiwilligen weg“, sagt Gazis, während sie ein graues T-Shirt mit Nieten
       auf den Schultern begutachtet. Das sei sehr beliebt unter den Mädchen im
       Teenageralter hier, sagt sie. „Die reißen sich darum.“ Das nächste
       Kleidungsstück – eine grüne Hotpants – sortiert Gazis aus. „Zu extrem“.
       
       ## „Der Mensch geht in der Masse unter“
       
       Es ist Nachmittag, und Gazis fährt mit ihrem Kleinbus nach Moria. Jeden Tag
       kommt sie hierher. Als der Zugang für freie HelferInnen nach Moria gesperrt
       wurde, trat Gazis der Schweizer Menschenrechtsorganisation SAO bei, um sich
       weiterhin Zugang zu verschaffen. Ihr „Projekt Mensch“ betreibt sie weiter
       wie bisher. „Der Mensch geht hier in der Flüchtlingsmasse unter“, sagt sie.
       Sie hingegen wolle sich „um das Individuum“ kümmern.
       
       Jasmin Saifi ist dabei. Die 27-Jährige ist aus Deutschland angereist, um zu
       helfen. „Ich habe gesehen, dass es zu wenige ÜbersetzerInnen gibt“, sagt
       sie. Die junge Frau spricht Farsi. „Meine Eltern sind vor 40 Jahren aus
       Afghanistan nach Deutschland gekommen.“ Und wenn das damals nicht geklappt
       hätte, sagt sie, würde sie jetzt vielleicht auch in Moria sein. Sie fühlte
       sich in der Pflicht zu helfen und ist für „Projekt Mensch“ als
       Rechtsberaterin im Freiwilligeneinsatz.
       
       Obwohl die NGOs für Flüchtlinge lokale Anwälte organisieren und bezahlen,
       gibt es nicht genügend Rechtsbeistand, sagt Saifi. Sie wolle die „Lücken
       füllen“, sagt sie. „Die großen NGOs müssen erst mal viel zu viel Bürokratie
       beiseiteschaffen, bevor sie überhaupt handeln können.“
       
       Nachdem die Flüchtlinge nach Moria gebracht werden, dürfen sie das Lager
       bis zu ihrer vorläufigen Registrierung nicht verlassen. Rund drei Wochen
       dauert die Internierung, während der die Menschen eng gedrängt, mit
       Tausenden anderen, auf ihr Aufenthaltspapier warten. Es gestattet ihnen den
       Aufenthalt von 30 Tagen in Griechenland. Erst damit dürfen sie sich frei
       auf Lesvos bewegen.
       
       ## Geputzt wird nur für Ban-Ki-Moon
       
       Genaue Informationen, was danach passiert, bekomme niemand. Nicht einmal
       vom UN-Flüchtlingswerk UNHCR sei Genaues zu erfahren. Die würden „eher
       Politik betreiben als Verantwortung übernehmen“, sagt Gazis. „Zum Beispiel,
       als UN-Generalsekretär Ban-Ki-Moon anreiste.“ Da hätten die
       MitarbeiterInnen des UNHCR noch „schnell alles blitzblank geputzt“.
       
       Ansonsten werde nicht viel auf die Sauberkeit geachtet. Und die wenigen
       Toiletten und Duschen reichten nicht für die derzeit 3.322 Menschen, die in
       dem Lager leben müssen. „Viele der Flüchtlinge sind mittlerweile
       hoffnungslos, sind müde, ständig dieselben Fragen zu stellen, auf die sie
       von den Freiwilligen sowieso keine Antwort bekommen“, sagt Gazis.
       
       Manche der Menschen seien hier schon seit einem halben Jahr – vor allem
       sind es solche, die nicht als Flüchtlinge anerkannt werden. „Die gehen im
       System unter, aber auch Menschen aus Eritrea, die eigentlich als
       Flüchtlinge gelten“, sagt Gazi.
       
       ## Spannungen unter den Nationalitäten
       
       Der Fokus der Hilfsorganisationen liegt auf den Flüchtlingen aus dem Krieg
       in Syrien. Das führe im Camp Moria oft zu starken Spannungen unter den
       Menschen verschiedener Nationalitäten, die auf engem Raum gemeinsam diese
       Ungewissheit aushalten müssen. Die meisten der Flüchtlinge jedoch wissen
       nicht, dass sie in der Zeit, in der sie sich auf Lesvos frei bewegen
       dürfen, einen Asylantrag stellen können und müssen, wenn sie irgendeine
       Aussicht haben wollen, im Land zu bleiben.
       
       Gazis parkt den Bus schräg gegenüber dem bewachten Eingang von Moria.
       Kürzlich habe sie mitbekommen, dass eine große Wohnung direkt unter ihrer
       eigenen am Hafen von Lesvos frei werde. Die hat sie kurzerhand angemietet.
       „Hier bringe ich Flüchtlinge unter, die einfach mal durchatmen müssen.“ Die
       Miete bezahlt sie von ihrem für die Weltreise ersparten Geld und von
       Spenden. „Ich wache jetzt auf und wecke erst mal 14 Jungs.“ In den
       Flüchtlingslagern werde keine Rücksicht auf das Einzelschicksal genommen.
       Manche, vor allem gerade volljährige Menschen kämen damit nicht zurecht.
       Wer etwas Abwechslung will, kann nun jeden Morgen mit Gazi nach Attika
       fahren und dort Möbel bauen. „Abends gebe ich manchmal Griechisch- und
       Englischunterricht“, sagt Gazis. „Die jungen Leute müssen Beschäftigung
       haben.“
       
       Wie lange sie noch weitermachen wird, weiß sie nicht. Erschöpft schließt
       sie die Bustür, zündet sich eine Zigarette an. Kurze Pause. Ihre Mutter
       habe mit ihr geschimpft, sagt Gazis müde. Sie würde sich aufreiben,
       kaputtmachen. Sie arbeite zu viel, fand ihre Mutter, die sich langsam
       Sorgen machte.
       
       „Natürlich tu ich das“, sagt sie. „Weil viele überhaupt nichts machen.“
       Deswegen trügen einzelne Menschen die Last der Flüchtlingsunterstützung auf
       ihren Schultern. Und ja, sagt Gazis dann noch, vielleicht gehe sie nach und
       nach daran kaputt. Sie drückt die Zigarette aus. Dann gehen sie und Saifi
       durch den Eingang nach Moria.
       
       14 Jul 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Theodora Mavropoulos
       
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