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       # taz.de -- Die Wahrheit: Steile Stoßgebete
       
       > Im Bundesland Niedersachsen behandelt der Schulzahnarzt jetzt auch
       > Lehrer, bei denen das Heulen und Zähneklappern groß ist.
       
   IMG Bild: Der Schulzahnarzt bei seiner liebsten Betätigung: Angst und Schrecken verbreiten
       
       Die Nachricht hatte er gleich in der großen Pause gehört, als seine
       Kollegin kreidebleich ins Lehrerzimmer gewankt kam, die Augen panisch
       geweitet. Jetzt kauert er da, Dr. Horst Rawinski, hinter den Mülltonnen am
       Rande des Schulhofs, und bibbert am ganzen Leib. Schweiß läuft über seine
       Stirn, tropft auf seinen Pullunder.
       
       Am Goethe-Gymnasium in Diepholz ist heute der Teufel los. Der Schulzahnarzt
       ist da. Für die Schüler ist er nicht gekommen, für die war er schon vor
       drei Wochen da. Seit 2015 sind in Niedersachsen auch Lehrer verpflichtet,
       sich den Maßnahmen des schulzahnärztlichen Dienstes zu unterziehen, Jahr
       für Jahr.
       
       „Das Ziel ist eine Verbesserung der Zahngesundheit sämtlicher
       Lehrerkörper“, erläutert Margarete Schwerbig vom „Arbeitskreis
       Beamtenzahnpflege“.
       
       ## Erfolglose Fluchtversuche der Schüler
       
       „Es ist nicht einzusehen, dass an denen, die die zahnärztliche Untersuchung
       am dringendsten brauchen, der Kelch immerzu vorbeigeht“, sagt auch Joost
       Janssen von der Zahnärztekammer. „Und: Lehrer sollen Vorbild sein, den
       Schülern mit gutem Beispiel vorangehen. Auch hier!“
       
       Jahrzehntelang hatte sich Dr. Horst Rawinski immer auf den Besuch des
       Schulzahnarzts gefreut. Hatte die erfolglosen Fluchtversuche der Schüler
       beobachtet, die vor Angst starrenden Augen. Daran hat Rawinski sich
       genüsslich geweidet im oftmals grauen Schulalltag.
       
       Die Nachricht vom Schulzahnarzt hatte sich an diesem Morgen im Lehrerzimmer
       wie ein Lauffeuer verbreitet. Ein paar Kollegen begannen zu schluchzen,
       irgendwer pulte mit der Spitze seines Geodreiecks Maoam-Reste aus den
       Backenzähnen, andere schrubbten mit den bloßen Fingern zwischen ihren
       angstverzerrten Lippen hin und her. Nur die weißhaarige Schuldirektorin
       hatte zufrieden gelächelt, aber die besaß auch ein künstliches Gebiss.
       
       Jetzt stehen die Lehrer des Goethe-Gymnasiums vor Raum 1.204 in einer
       langen Schlange, und der Hausmeister passt auf, dass niemand türmt. Ein
       Trauerzug wie vor Jesu Kreuzigung, und genauso ist die Stimmung.
       
       Dr. Rawinski hört die Todesschreie noch hier draußen, hinter den stinkenden
       Mülltonnen. Die Schreie der Gedemütigten. Der Erniedrigten. Er ist nicht
       darunter, er harrt hier aus. Die dritte Stunde ist für alle Lehrkörper der
       Oberstufe zwecks Zahnarztvisite freigestellt. Die vierte Stunde wird er
       wieder Latein unterrichten. Noch 25 Minuten.
       
       Doch was, wenn ihn hier bis dahin jemand findet? „Magen-Darm“ wird er dann
       vorschützen. Magen-Darm hat er gleich auch wirklich, wenn er noch einmal an
       das zynische Lächeln des Schulzahnarzts denkt. Dieser glattrasierte
       Schnösel mit den kalten, amalgamgrauen Augen. Letztes Frühjahr war er schon
       einmal da. Hat die Finger in Rawinskis Mund gerammt, Finger, die nach
       Gauloises und Garstigkeit schmeckten.
       
       „Der hat ja nicht mal einen Doktortitel“, empört sich der Studienrat.
       „Vermutlich ist das auch der Grund, warum er Schulzahnarzt ist.
       Schulzahnarzt, das ist doch das Letzte, die allerunterste Hierarchiestufe,
       wie Gefängnisarzt oder Hilfssheriff!“
       
       Ganz unrecht hat Horst Rawinski nicht. Schulzahnärzte haben keine eigene
       Praxen, vagabundieren von Schule zu Schule, stampfen aus siffigen
       Klassenräumen eine improvisierte Praxis heraus, flüchtig wie ein
       Nomadenzelt. Und alles, was an dem Job wirklich Spaß macht – Verplompen,
       ganze Zahnreihen rausreißen und Bohren ohne Betäubung –, erledigen die
       niedergelassenen Zahnärzte in hübsch eingerichteten Praxen. „Hätt ich mir
       wenigstens heut mal die Zähne geputzt“, seufzt Dr. Rawinski, „oder letzte
       Woche.“
       
       Die Zahnärztekammer hat versucht zu beschwichtigen. Der Zahnarzt gucke doch
       nur mal rasch in den Mund. Gebohrt werde nicht, und wenn wirklich was zu
       beanstanden sei, gäbe es eine Überweisung zum richtigen Zahnarzt, der mache
       dann alles Weitere. Aber er, Dr. Horst Rawinski, hat gar keinen richtigen
       Zahnarzt, „das ist ja das Problem!“, ächzt der 53-Jährige mit den arg
       lädierten Beißern. „O dulce nomen libertatis“, O süßer Name Freiheit,
       flüstert er, schlotternd hinter den Mülltonnen.
       
       ## Hunderte Lehrer demonstrieren in Hannover
       
       Doch es gibt auch Hoffnung. Im Großraum Hannover hat sich gerade eine
       Gegeninitiative gebildet. Mit „Recht auf körperliche Unversehrtheit“
       argumentieren die Protestler, und „Wir sind viele! Wir sind die 99
       Prozent!“, wenn wieder Hunderte Lehrer durch die Hannoveraner Innenstadt
       ziehen. Auch Rawinski will sich der Gegeninitiative anschließen.
       
       Heute wird ihm das nicht mehr viel helfen. Plötzlich sind neben ihm
       Schritte zu hören, taucht die Schuldirektorin bei den Mülltonnen auf, im
       Schlepptau der kalt lächelnde Zahnarzt. „Rawinski, kommen Sie raus! Ergeben
       Sie sich! Sie haben keine Chance!“, rufen beide und haken den
       kreidebleichen Oberstudienrat rechts und links unter.
       
       „O dulce nomen libertatis“, flüstert Dr. Rawinski, während er sich
       gesenkten Kopfes über den Schulhof schleifen lässt.
       
       13 Jul 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ella Carina Werner
       
       ## TAGS
       
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