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       # taz.de -- Ernährung im Social Web: Schlemmen im Stream
       
       > Eine Streamingseite bietet an, Leuten beim Essen zuzuschauen. Wird der
       > Trend aus Südkorea bald auch hierzulande ein Riesending?
       
   IMG Bild: Social eating: Wären die Essenden im Bild, ginge das schon durch
       
       Wenn Menschen anderen Menschen rituell beim Essen zusehen, denkt man wohl
       zuerst an Südkorea. Dort lassen sich, häufig sehr schöne Menschen dafür
       bezahlen, unanständige Mengen an Essen zu verschlingen, während andere
       dabei zugucken. In Südkorea nennt man dieses Ritual muk-bang. Das Prinzip
       gibt es nun auch als US-amerikanischen Livestream. Auch wenn der Anbieter
       Twitch.tv vorgibt, etwas völlig anderes im Sinn zu haben.
       
       Twitch.tv ist eine Livestream-Plattform mit etwa hundert Millionen Usern.
       Der gigantische Großteil der gestreamten Videos ist von Leuten, die
       Computerspiele durchspielen. So wie Südkoreaner sich das hemmungslose
       Fressen verkneifen und stattdessen anderen dabei zusehen, schauen sich
       US-amerikanische Kids stundenlang semi-professionelle Gamer an, wie sie
       Spiele durchzocken, anstatt selbst Stunden mit dem Spielen von
       Computerspielen zu verschwenden.
       
       Vor einiger Zeit hat Twitch eine neue Rubrik eingeführt: „Twitch's
       Creative“. Hier hält Twitch seine User an, Essen zuzubereiten und über
       Rezepte zu diskutieren. Alles zu machen außer selbst zu essen also. [1][Mit
       der neuen Rubrik „Social Eating“, die nun Anfang Juli vorgestellt wurde],
       ist diese Lücke geschlossen worden.
       
       ## Essen, nichts als essen
       
       Hier geht es um nichts anderes als ums Essen. Es darf und soll gegessen
       werden, was gegessen werden kann. Zumindest das, was von Menschen gegessen
       werden kann – Tiernahrung ist verboten. Ebenso Essen, das zum Erbrechen
       führt. Man darf niemanden füttern – auch keine Babys oder Tiere. Man darf
       nicht saufen, wettessen, im fahrenden Auto oder nur Junkfood essen.
       
       Es geht laut der Aussage von Twitch um das soziale Interagieren beim Essen.
       Harmlos, unschuldig und, nun ja, sozial. Die Essenden sollen nämlich
       durchgehend mit den Zuschauern interagieren. Das bedeutet: auf die
       Chatnachrichten reagieren, die im nie endenden Strom hereinfließen.
       
       Das südkoreanische muk-bang erinnert im Gegensatz dazu eher an
       Fetisch-Pornographie, will aber natürlich auch etwas anderes sein.
       Tatsächlich steht Sexuelles dabei nicht im Vordergrund. Es sind eher andere
       animalische Gelüste, die hier befriedigt werden – zum Beispiel das
       Verlangen, alles in sich hineinzustopfen, was irgendwie greifbar ist.
       
       Weil aber das Schönheitsideal des festen Fleisches auch in Südkorea
       herrscht, müssen die Leute dort Surrogaten bezahlen, um durch sie den
       Genuss erahnen zu können, den hemmungslose Schlemmerei erzeugt. Wenn es
       dabei eklig wird, ist das eine Spielart des südkoreanischen Trends.
       
       ## Lüsternheit von sexistischen Halbstarken
       
       Bei Twitch soll es manierlich zugehen. Nichts, was andere als anstößig
       empfinden könnten, soll hier Platz finden. Schaut man sich ein paar Minuten
       lang Gorgeous_Gamer an, eine junge Frau mit kurzen Haaren, deren Pony glatt
       ins Gesicht gestreift ist und sie ein wenig aussehen lässt wie Bill Kaulitz
       in seinen schlimmsten Tokyo Hotel Zeiten, wundert man sich dann aber. Warum
       schauen bis zu 6000 Leute wohl einer jungen Frau dabei zu, wie sie
       übertrieben lange eine Orange schält? Die Antwort findet sich recht bald.
       Und sie widerspricht dem vorgeblichen Anspruch von Twitch.
       
       Gorgeous_Gamer bezeichnet sich selbst im Stream als „number one social
       streamer on Social Eating“ und lutscht dabei suggestiv eine Cocktailtomate.
       Die User-Kommentare erklären dann auch alles weitere. „Ur so Hawt“ [sic!]
       schreibt zum Beispiel smkindodi6. Fugori schreibt „can you show your hips
       closer[?]“
       
       Gorgeous_Gamer ignoriert das, freut sich aber euphorisch über den Vorschlag
       eines Zuschauers, sie solle doch mal eine Zitrone essen. „Mittwoch werde
       ich eine Zitrone essen! Oh mein Gott, das ist so eine gute Idee! Wow, ich
       danke dir tausend Mal! So ein gute Idee!“ quietscht sie in die Webcam,
       während sie sich ein Stück Orange in den Mund schiebt.
       
       Aber auch jenseits der Lüsternheit von sexistischen Halbstarken, die sich
       überall da tummeln, wo es im Internet junge Frauen in Bewegtbildern zu
       sehen gibt, hat das Konzept etwas zu bieten. Denn wer kennt sie nicht,
       diese dunklen Stunden?
       
       ## Overeating einfach outsourcen
       
       Wenn die Arbeit hart war, der Hunger groß ist und nur von der eigenen
       Faulheit übertroffen wird. Die Stunden, in denen man sein Dinner aus
       Instant-Nudeln vor dem blauen Leuchten des PC-Bildschirms genießt. Wenn da
       aber dann eine Person auf einen wartet, die appetitlich isst, die mit einem
       redet und auf Nachrichten reagiert, dann fühlt man sich nur halb so einsam,
       verloren und schmutzig. Der PC wird durch Social Eating zum Ersatz für
       Gesellschaft. Das mag traurig anmuten – aber wäre völlige Einsamkeit nicht
       noch trauriger?
       
       Außerdem ist es sicherlich auch in Zeiten von immer dicker werdenden
       Menschen nicht verkehrt, wenn man das Overeating und Dickwerden einfach
       outsourcet. Heute schon müssen nicht alle Menschen Atomkatastrophen
       bekämpfen, in den Weltraum fliegen oder auf Bohrinseln ackern. Diese
       besonders gesundheitsgefährdenden Jobs machen nur die, die extra dafür
       bezahlt werden.
       
       Wenn sich Menschen also dafür bezahlen lassen möchten, dass sie sich selbst
       mästen, damit es nicht alle tun, wird die Quote an Übergewichtigen sicher
       sinken. Uns kostet das nicht – die Bezahlung besteht in diesem Fall aus
       zweifelhaftem Internetruhm.
       
       Laut Twitch stammte der Wunsch nach dem Social-Eating-Kanal auch von
       südkoreanischen Nutzern, bei denen „content über das Verzehren von Nahrung
       ein bedeutender Teil der Kultur ist und etwas, was viele von ihnen verlangt
       oder versucht haben, in ihre Streams einzubauen“, wie es bei Twitch heißt.
       So überrascht es auch nicht, dass die Hintergrundmusik in Gorgeous_Gamers
       Stream nervig hochgepitchte koreanische Popmusik ist.
       
       Dass es bei Twitch nicht „muk-bang“ heißt, sondern „Social Eating“, kann
       man da leicht übersehen. Und nach der selbstreinigenden Toilette, dem
       Gangnam-Style und Kimchi erwartet uns bald womöglich der nächste Hit aus
       Südkorea. Ein Hit für die ganze Gesellschaft.
       
       4 Jul 2016
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.twitch.tv/directory/game/Social%20Eating
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Robert Hofmann
       
       ## TAGS
       
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