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       # taz.de -- Streit um Hausprojekt Rigaer94 in Berlin: Eine Straße kommt zu Wort
       
       > Der Streit um das linke Hausprojekt Rigaer94 beschäftigt die ganze Stadt.
       > Doch was sagen die Anwohner? Ein Spaziergang.
       
   IMG Bild: „Ein Kilometer Anarchie“ titelte eine Boulevardzeitung über die Rigaer Straße
       
       Die Treppe herunter am S-Bahnhof Frankfurter Allee und dann rechts halten,
       dorthin, wo sich Pizzaladen an Änderungsschneiderei an Dönerimbiss reiht:
       Hier beginnt sie, die momentan meistdiskutierte Straße der Stadt. „Ein
       Kilometer Anarchie“ titelte die B.Z. im Januar dieses Jahres – heute ist
       die Debatte noch aufgeheizter.
       
       Seit mehr als drei Wochen entwickelt sich der Streit um das linke
       Hausprojekt Rigaer94 zum zentralen Thema im diesjährigen Wahlkampf. In den
       vergangenen Tagen überschlugen sich die Ereignisse: Am Mittwoch erklärte
       das Landgericht die Teilräumung vom 22. Juni für illegal, am Donnerstag
       mussten die Räume den BewohnerInnen zurückgegeben werden. Ein Erfolg für
       die linke Szene.
       
       Der politische Konflikt um die Rigaer94, die Debatte darüber, ob
       Sachbeschädigungen legitim sein können und man mit Hausbesetzern verhandeln
       sollte, ist deswegen noch lange nicht vorbei. Kaum jemand in dieser Straße,
       der dazu nicht eine Meinung hätte – Zeit für einen Spaziergang.
       
       Gleich zu Beginn der Straße liegt rechts der dreieckige Schleidenplatz.
       Der Spielplatz in der Mitte wird nur mäßig bespielt, die Obdachlosen auf
       der Parkbank sind dafür fast immer da. Im Schatten der Sonnenschirme des
       Eiscafés an der Westseite des Platzes sitzen einige Frauen mit Kinderwagen,
       die so auch im Prenzlauer Berg zu Hause sein könnten. Kein Wunder: Die sich
       nördlich anschließenden Parallelstraßen zur Rigaer strotzen nur so vor
       hübsch sanierten Altbauten.
       
       ## „In der DDR hätte es Knüppel gegeben“
       
       In Peters Bier Bar an der Ecke Waldeyerstraße ist eine andere Welt zu
       Hause. In der Luft liegt kalter Zigarettenrauch, vor den drei männlichen
       Gästen steht jeweils ein Herrengedeck. Zu dem, was in der selben Straße ein
       paar hundert Meter westlich passiert, möchte der Wirt erst gar nichts
       sagen. Dann bricht es doch aus ihm heraus: Knüppel hätte es gegeben in der
       DDR gegen diese Chaoten, vielleicht auch mal einen Schuss aus der Makarow.
       Heute werde die Polizei wegen jeder Kleinigkeit verklagt, eine Sauerei sei
       das.
       
       Einer der Gäste, jünger als der Rest, blonder Bürstenhaarschnitt, pflichtet
       eifrig bei. Er wohne gleich um die Ecke und habe erst gestern vom Balkon
       aus beobachtet, wie junge Leute bei mehreren Autos die Seitenspiegel
       eingeschlagen hätten. Natürlich habe er die Polizei gerufen. Ob er denn die
       Linken als Bedrohung wahrnehme? Nicht direkt. „Aber wenn da zehn Schnorrer
       sitzen und dich anbetteln, das stört mich schon, ich gehe schließlich
       arbeiten für das, was ich habe.“
       
       Da schaltet sich ein älterer Herr ein, der bisher nur zugehört hat. Seit
       1969 wohne er in der Rigaer Straße, damals Erstbezug im neuen
       DDR-Plattenbau, für 45 Ostmark und acht Pfennige. Und er müsse jetzt mal
       sagen: „Natürlich sind das Chaoten, ich hätte so was in meiner Jugend auch
       nicht gemacht.“ Über die Vorstellung muss er selbst kichern, dass der
       Schnurrbart wackelt. „Aber zu mir sind die immer freundlich, ich hab da
       noch nie was Negatives erlebt, das sind wirklich nette Leute.“
       
       Sein Auto, ein Kleinwagen, werde auch immer verschont, noch nie sei da ein
       Kratzer dran gewesen. Mit seiner Tochter, einer „hohen Politesse“,
       streite er sich deswegen auch immer: Da muss man hart durchgreifen, sagt
       sie. Lasst doch die jungen Leute, die tun ja keinem was, sagt er.
       
       Heraus aus dem Qualm, weiter die Straße entlang. Links der Lidl, der im
       letzten Jahr während eines Stromausfalls geplündert wurde. Das Gelände ist
       bereits verkauft, hier sollen Wohnungsneubauten entstehen.
       
       ## „Wer hier kauft, kauft Ärger“
       
       Gegenüber, auf dem einzigen Gewerbehof des Kiezes, ist man schon weiter.
       Noch versprühen alte Klinkerbauten einen Hauch von Industriecharme im dicht
       bebauten Wohngebiet. Ein Berg Bauschutt kündigt aber schon an: 133
       Luxus-Mietwohnungen will ein privater Investor hier bauen, „Carré
       Sama-Riga“ nennt er den Ort in schönstem Werbesprech.
       
       Das Schild mit der Bauankündigung stand keine zwei Tage, da hatte jemand
       „Wer hier kauft, kauft Ärger“ draufgesprüht. Auf dem Schild stand auch der
       „Stadtraumnutzung e. V.“ als Partner. Tags darauf waren in deren Büro
       direkt gegenüber die Scheiben eingeschmissen.
       
       „Das war ein Schock, auch wenn ich die Wut und Machtlosigkeit dahinter
       verstehe“, sagt Hajo Toppius vom Verein, Anfang 40, Vollbart, graues
       T-Shirt. An einem der Schreibtische sitzt er hinter den inzwischen
       ausgetauschten Scheiben, mit Blick auf die Baustelle. Zusammen mit anderen
       vom Verein hat er vor zehn Jahren den legendären Projektraum „Antje
       Øklesund“ auf dem Gelände der alten Möbelfabrik eingerichtet, durch ein
       Loch in der Wand kam man in den Saal für Konzerte, Ausstellungen,
       Performances. Im vergangenen Sommer fand die letzte Party statt, dann
       mussten sie das Gelände räumen. „Wir sind die Künstler, die sich selbst
       weggentrifizieren“, sagt Toppius.
       
       Dabei soll es diesmal anders laufen. Weil das Gelände eigentlich
       Gewerbegebiet ist, kann ein Investor dort nur mit Zustimmung des Bezirks
       Wohnungen bauen. Und deshalb haben der Bezirk und die bisherigen
       Gewerbemieter ein Wörtchen mitzureden bei der Ausgestaltung des 5.000
       Quadratmeter großen Geländes. „Wir versuchen, dem Investor was abzuringen“,
       sagt Toppius und meint dabei eine Art öffentlichen Bürgerhof mit
       Selbstgemachtcharme, der sich an die Neubauten dranheften soll. Im Keller
       ist Platz fürs „Antje Øklesund“.
       
       Über die Umsetzung sprechen Toppius und seine MitstreiterInnen derzeit mit
       allen Beteiligten. Reden statt Widerstand. „Das Ding kann voll vor die Wand
       fahren, aber die Alternative ist, gar nichts zu machen“, sagt Toppius.
       
       ## „In was für einer Welt wollen wir eigentlich leben “
       
       Für die Verhandlungsbereitschaft mit dem Investor werden die Leute vom
       „Antje Øklesund“ in Teilen der linken Szene heftig kritisiert, und nach der
       Fensterattacke gab es im Verein auch Überlegungen, alles hinzuschmeißen.
       Auf eine Art zeigt sich hier die Gemengelage, die die ganze Straße
       bestimmt. Bleibt die Frage, ob man die, die Steine schmeißen, die Leute aus
       den Hausprojekten und aus den Eigentumswohnungen, den teuer sanierten
       Altbauwohnungen, die Investoren und die von Verdrängung bedrohten
       MieterInnen an einen Tisch bringen kann?
       
       Weiter über die Kreuzung Samariterstraße, dahinter auf der linken Seite:
       Der Späti mit dem klingenden Namen „Bier und mehr Bier“ ist eine
       Kiezinstitution. Zwei Männer sitzen auf der Fensterbank des Ladens. „Wenn
       ich mir anschaue, was hier gerade passiert, dann frage ich mich, in was für
       einer Welt wir eigentlich leben wollen“, sagt der eine, etwa 30, schwarzer
       Kinnbart, und beantwortet die Frage gleich selbst: „Nicht in Henkels.“ Sein
       Nebenmann, lange Locken, nickt.
       
       Die beiden Männer arbeiten in einer Radwerkstatt um die Ecke. Ihre
       Feierabende verbringen sie oft in der Rigaer Straße, erzählen sie. „Weil
       das hier eine Insel ist“, begründet der Bärtige. „Das Problem ist, dass die
       das Assipack an den Stadtrand verdrängen wollen – nur weil andere mit Geld
       kommen“, sagt der andere und zeigt auf sanierte Altbauten auf der anderen
       Straßenseite.
       
       Sein Kollege wendet ein: „Es ist ein systemisches Problem“, sagt er. „Es
       geht um Profit.“ Die Zugezogenen und deren Erwartungen verstehe er. Genauso
       aber diejenigen, die die „Polizeischikane“ mit Flaschenwürfen beantworten –
       obwohl er „solche Militanz“ eigentlich ablehne. „Die eskalieren immer
       weiter“, sagt der mit den Locken. „Eigentlich sollte gerade der Politik
       etwas an friedlichem Miteinander liegen.“
       
       Kurzes Schweigen. Wie es weiter geht, das weiß hier keiner, von
       langfristigen Lösungsvorschlägen ganz zu schweigen. „Mich macht das alles
       einfach traurig“, seufzt der Bärtige.
       
       ## „Jetzt ist er fällig“
       
       Zwei Häuser weiter, vor dem Szenetreff Fischladen, wird in großer Runde
       gegessen – dabei gibt es nur ein Gesprächsthema: Wie sich Innensenator
       Frank Henkel mit seinem Vorgehen gegen die Rigaer94 blamiert. „Jetzt ist er
       fällig“, frohlockt eine Frau.
       
       Ob das die BewohnerInnen des Neubauprojekts schräg gegenüber auch so sehen?
       Früher war hier eine Brache, das „Bambiland“, in der Hausbesetzerszene zum
       Abhängen und Biertrinken genutzt. Jetzt stehen hier sechs Häuser, 140
       Eigentumswohnungen. Ein Baugruppenprojekt, hier investiert die
       Mittelschicht. Die BewohnerInnen sehen sich nicht als böse
       GentrifiziererInnen, einige haben schon vorher in Friedrichshain gewohnt.
       Von der Feindseligkeit, die ihnen entgegenschlägt, sind sie überrascht.
       
       Schäden von mehr als 200.000 Euro habe es auf dem Gelände in den
       vergangenen Monaten gegeben, die Baugruppe habe deswegen einen privaten
       Wachschutz engagiert. Eine Verständigung zwischen Baugruppen und autonomer
       Szene findet zurzeit nicht statt, beide Seiten machen keinen Hehl daraus,
       wie wenig sie voneinander halten.
       
       Vor der Rigaer94 wird gefeiert: Seit ein paar Stunden sind die
       Erdgeschossräume wieder freigegeben. Stärker als zuvor ist das Haus durch
       die Auseinandersetzung in den letzten Wochen zu einer Projektionsfläche
       geworden: als Schaltzentrale linksautonomer Machenschaften für die einen,
       als gallisches Dorf der Hausbesetzer und Inbegriff linksradikaler
       Opposition für die anderen. Sie würde sich freuen, wenn es wieder etwas
       ruhiger werde, sagt eine Bewohnerin leise.
       
       ## „Was denken die eigentlich, wo sie hinziehen?“
       
       An der Galiläakirche vorbei, befindet sich dahinter noch ein weiterer
       besonderer Ort dieser Straße: Der Wagenplatz „Convoi“, der seit Ende 2002
       das Grundstück Nummer 6 besetzt. Eine Bewohnerin in schwarzer Kleidung und
       mit türkis gefärbten Dreadlocks berichtet von den Polizeikontrollen: „Es
       macht einfach keinen Spaß, wenn man im Bademantel zum Bäcker geht und bei
       jeder Gelegenheit von der Polizei kontrolliert wird“, sagt sie. Seit zehn
       Jahren lebt sie hier, mit Flachbildschirm und Eismaschine, im Wagen.
       
       Gegen die Zugezogenen, die zur Aufwertung des Kiezes beitrügen, habe sie
       nichts persönlich. Man lebe aneinander vorbei. „Aber was denken die denn
       eigentlich, wo sie hinziehen?“, regt sie sich über deren Beschwerden wegen
       Lärm und Schmutz auf. Wenn auf der „Dorfplatz“ genannten Kreuzung zwischen
       Rigaer und Liebigstraße Musik gemacht werde und dabei brennende
       Euro-Paletten in einem Einkaufswagen für „Wärme und Atmosphäre“ sorgen,
       dann sei das doch gut.
       
       Wie es mit der Rigaer Straße weitergeht, kann sie auch nicht sagen. Sie
       befürchte aber, dass es den Kiez so nicht mehr lange geben wird: „Keine
       Ahnung, wann wir dran sind. Wir haben zwar einen Mietvertrag, aber dass man
       auch ohne rechtliche Grundlage geräumt werden kann, haben wir ja gerade
       gesehen.“
       
       16 Jul 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Volkan Agar
   DIR Malene Gürgen
   DIR Manuela Heim
       
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