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       # taz.de -- Nachruf auf Abbas Kiarostami: Er ging an Grenzen und wagte viel
       
       > Sein Blick war offen für alles, wofür der Blick des Kinos nur offen sein
       > kann: Der iranische Filmemacher Abbas Kiarostami ist tot.
       
   IMG Bild: Abbas Kiarostami im Jahr 2010
       
       Abbas Kiarostamis Filme sind offene Kunstwerke par excellence. Sie
       verrätseln so wenig wie sie erklären. Sie verbergen nichts, alles liegt
       offen zutage, sie sind ein Kino der Luft und des Lichts, der Landschaft und
       der Menschen darin, aber auch der Zeit, die man in der Nähe der Menschen
       verbringt, denen die Kamera fast immer unbewegt folgt. Einmal, in „Quer
       durch den Olivenhain“, gibt es eine Kamerafahrt, diese hat Kiarostami, wie
       er später berichtet, bereut. Kiarostamis Kino bewegt gerade, indem es
       unbewegt bleibt, oder indem es zur Bewegung, die es zeigt, einen Gegenhalt
       wahrt.
       
       Berühmt sind die vielen Autofahrten in seinen Filmen. Ewig geht es dahin,
       auf gewundenen Wegen durch Felder in „Der Wind wird dich tragen“, aber auch
       durch die Stadt, in Teheran mit Herrn Badii, der nur das eine Ziel hat,
       sich das Leben zu nehmen, in „Der Geschmack der Kirsche“
       (Goldener-Palmen-Gewinner 1997, aber eher nicht Kiarostamis bester Film),
       und vor allem und am auffälligsten in „Ten“, dem Film, der zehn
       Einstellungen lang das Innere eines Autos zeigt, eine Fahrerin mit
       wechselnden Gästen, ihrem Sohn, ihrer Schwester, einer Prostituierten – ein
       großer Ausschnitt der iranischen Gesellschaft. Kiarostami spielt hier wie
       in anderen Filmen mit der Zensur: Er geht an Grenzen, wagt viel, aber
       vieles bleibt zugleich notwendig implizit.
       
       Diese Notwendigkeit ist aber mindestens so sehr ermöglichend, wie sie
       hemmt. Kiarostamis modernistische Ästhetik der hochreflexiven Ambivalenz
       ist sicher nicht einfach ein Produkt der Zensur, eher ist sie das
       Raffinierteste, was unter den Bedingungen einer Diktatur möglich war. Am
       schlagendsten wird jene Mischung, die Kiarostamis einzigartiges Kino
       ausmacht, wohl wirklich in „Ten“ sichtbar: die Verbindung von fast
       minimalistischer Strenge der Form und Offenheit des Blicks für alles, wofür
       der Blick des Kinos nur offen sein kann: die Gesichter und Wünsche der
       Menschen, ihr Begehren, die gesellschaftlichen Verbote, aber auch das
       Rätsel, das sie sich selbst sind. Die Einbettung der Individuen ins Soziale
       ist dabei immer ästhetisch vermittelt.
       
       Angefangen hat Kiarostami, der aus eher einfachen Verhältnissen stammte,
       als Regisseur beim staatlichen Kinder- und Jugendfilminstitut Kanun. Die
       frühen Filme sind in ihrer Intention didaktisch, mit Kindern für Kinder
       gedreht. Sie zeigen, wie man Streitfälle löst oder auch, ganz simpel, wie
       man geordnet in den Schulbus einsteigt. Aber schon in diesen kurzen Filmen
       fügen sich Inhalt und Form perfekt zusammen, sie sind auch eine Schule des
       Sehens, die eine Form wie Schuss und Gegenschuss in die Darstellung einer
       Auseinandersetzung überführt. Dies aber völlig unprätentiös, nie als
       Manier, sondern stets als möglichst schlichter und zugleich schlagender
       Gedanke, der filmische Form wird.
       
       ## Meister der Dokufiktion
       
       In den achtziger und neunziger Jahren folgte Kiarostamis Aufstieg zum
       Auteur von Weltkinobedeutung. Das Bindeglied zwischen dem nur im Iran
       sichtbaren Frühwerk und den später auf den großen Festivals laufenden
       Filmen ist die manchmal als Koker-Trilogie bezeichnete Reihe dreier Filme,
       die, zunächst noch mit Kindern als Protagonisten, im ländlichen Koker
       spielt, das Kiarostami nach einem verheerenden Erdbeben ein weiteres Mal
       aufsucht.
       
       Zwischen „Das Haus meines Freundes“ und „Und das Leben geht weiter“ liegt
       „Close-up“, Kiarostamis schönster und bewegendster Film. Erzählt wird die
       wahre Geschichte eines Mannes, der sich als der damals sehr berühmte
       Filmregisseur Mohsen Makhmalbaf ausgab – gedreht hat Kiarostami das als das
       Dokumentarische und die Fiktion übereinander blendende Dokufiktion: Der
       Hochstapler spielt sich selbst und wird (anders als im nachgespielten
       Prozess) weder verurteilt noch denunziert. Im Gegenteil: Am Ende tritt
       Mohsen Makhmalbaf selbst auf und gibt dem Nachahmer, der aus Liebe zum Kino
       gehandelt hat, seinen Segen. Eine ähnlich reflexive Ebene gibt es dann in
       der Film-im-Film-Konstruktion „Quer durch den Olivenhain“, der eine
       (fiktive) zu Herzen gehende Liebesgeschichte mit einer problematischen
       Film-im-Film-Ehe so kreuzt, dass ein Filmregisseur (den Kiarostami nicht
       selbst spielt) dabei seine Finger im Spiel hat.
       
       Kiarostami war auch Fotograf, und zwar ein grandioser. Der große Liebhaber
       der Poesie probierte auch kürzere, teils fast haikuhafte filmische Formen.
       Und mit seinen letzten zwei Filmen, beides Meisterwerke, verließ er dann
       doch seine Heimat und drehte in Italien und Japan. „Die Liebesfälscher“ mit
       Juliette Binoche ist eine Geschichte als Kippfigur: Ob man ein Liebespaar
       sieht, das sich gerade erst kennenlernt oder eines, das sich schon zu lange
       kennt, ist auf eine Weise unklar, die einerseits endlose Lektüren
       ermöglicht, andererseits in ihrer lichtdurchfluteten Schönheit aber auch
       die nur genießende Beobachtung des Spiels der Darsteller und die
       Bewunderung für die so prägnante wie präzise Mise en Scène erlaubt.
       
       Ebenso offen bleibt, was in „Like Someone in Love“ eine junge Frau und
       einen alten Mann verbindet, die eine Nacht in Tokio gemeinsam verbringen.
       Was als gekaufte Liebe beginnt, wird eine zwischen Zärtlichkeit und Gewalt
       schwankende Beziehung, durch Autofahrten bei Nacht und bei Tag punktiert.
       Einmal schläft der alte Mann am Steuer vor einer roten Ampel ein. Kein
       Drama. Er fährt dann einfach weiter. Wie aber die Kamera bei ihm bleibt,
       zärtlich, freundlich, offen, wartend, auch das war Kiarostami: ein Humanist
       als Meister der Form, nicht nur darin ein Bruder Ozus. In Paris ist
       76-jährig nach einer Serie von Krebsoperationen einer der ganz Großen des
       Kinos gestorben.
       
       5 Jul 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ekkehard Knörer
       
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