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       # taz.de -- Rätselhafte Revolte in der Türkei: Ich wusste es!
       
       > Nach dem Putschversuch blühen Verschwörungstheorien – auch weil die
       > türkische Regierung seit Jahren deren größter Produzent ist.
       
   IMG Bild: Was sehen wir hier? Regierungstreues Volk, das Militärs bezwingt?
       
       Montagmorgen in einer Istanbuler Apotheke. „Das war doch ein Theaterstück,
       was da aufgeführt wurde. Die armen Soldaten standen hilflos herum, wie
       Statisten,“ sagt ein älterer Herr zum Apotheker. „Nur damit die da oben
       noch mächtiger, noch reicher werden.“ Schulterzucken im Raum. Alle starren
       auf ihre Handys. Keiner wagt zu widersprechen.
       
       Der in der Nacht zu Samstag von Teilen des türkischen Militärs versuchte
       Putsch und sein rasches Scheitern wirken auf viele Bürger äußerst
       rätselhaft. Die Erzählung des regierungstreuen Volkes, das über 3.000
       Soldaten samt Waffen im Namen Erdoğans bezwungen hat, unrealistisch.
       
       Wir befinden uns in der fruchtbarsten Phase der ohnehin weit verbreiteten
       Verschwörungstheorien. Das Komplott, das viele voraussagten, schien in
       jener Nacht live zur Realität geworden zu sein. Nicht wenige werden vor
       ihren Fernsehern gerufen haben: Ich wusste es!
       
       Nur stellt sich die Frage: Welches Komplott? Ein Komplott der türkischen
       Regierung, die mit einem fingierten Putsch ihre Macht stärken will, auf dem
       Weg in ein Präsidialsystem? Oder ein Komplott des einflussreichen
       Erdoğan-Gegners Fethullah Gülen, um die Regierung zu stürzen?
       
       ## Misstrauen gegen die Regierung
       
       Letzteres ist die offizielle Erklärung der türkischen Regierung für die
       Ereignisse am 15. Juli. Bewiesen ist das nicht. Gülen, der im Exil in
       Pennsylvania lebt, wies unmittelbare Zusammenhänge zwischen sich und dem
       Putschversuch zurück.
       
       Aber: Er sagte auch, er kenne nicht einmal ein Prozent seiner Anhänger
       persönlich. Für das, was 99 Prozent der sich als Gülen-Bewegung
       bezeichnenden Personen im Schilde führten, könne er nicht bürgen.
       
       In Ländern, in denen weitgehendes Misstrauen gegen die Regierung und kaum
       Transparenz über politische Entscheidungen herrscht, sind
       Verschwörungstheorien immer ein populäres Mittel, um sich ein Stück weit
       die Realität zu erklären
       
       In der Türkei ist aber außerdem der größte Produzent von
       Verschwörungstheorien die Regierung selbst, die seit Jahren immer wieder
       von einem „parallelen Staat“ spricht. Umstürzler hätten den Staatsapparat
       unterwandert, verrieten Staatsgeheimnisse und planten einen Putsch, hieß es
       oft.
       
       ## Recherche statt Komplott
       
       Unter diesem Vorwand wurden in den vergangenen Jahren, zahlreiche Kritiker
       der Regierung verhaftet: Generäle, alte Weggefährten, Minister,
       Journalisten. So kann man etwa die Anklage und Verhaftung der
       Cumhuriyet-Macher Can Dündar und Erdem Gül, die zu Waffengeschäften
       zwischen dem türkischen Geheimdienst und syrischen Islamisten berichteten,
       als Produkt dieser Politik sehen.
       
       Die einen nennen es Recherche. Die anderen Teil eines Komplotts. Unter
       solchen Umständen wird jede Interpretation des politischen Geschehens allzu
       schnell als Verschwörungstheorie abgetan.
       
       Was man aber nicht aus den Augen verlieren darf, sind die Fakten. Denn die
       gibt es: 7.850 Polizisten, fast 10.000 Beamte des Innen- und
       Finanzministeriums, ein Gouverneur, mehr als 3.000 Richter und
       Staatsanwälte wurden mittlerweile vom Dienst suspendiert, teils
       festgenommen. 208 Menschen, davon 145 Zivilisten, sind tot, 1.581 verletzt.
       
       Am Sonntagabend wurden alle Universitätsrektoren des Landes zu einer
       außerordentlichen Sitzung zusammengerufen, in der die „Säuberung“ der
       Hochschulen beschlossen wurde. In Istanbul sind die öffentlichen
       Verkehrsmittel seit Tagen kostenlos, um jedem Zugang zu sogenannten
       Demokratie-Wachen zu gewähren.
       
       Alevitische Bezirke wurden angegriffen. Premierminister Yıldırım und
       Präsident Erdoğan diskutieren über die mögliche Einführung der Todesstrafe.
       Und: Es gab am 15. Juli einen Putschversuch. Er hat die AKP-Regierung
       gestärkt.
       
       19 Jul 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Fatma Aydemir
   DIR Samil Sarikaya
       
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