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       # taz.de -- Sorbische Kultur: Der Dichter im Pfützenland
       
       > Benedik Dyrlich ist Lyriker. Er gibt Bücher heraus und scheint manchmal
       > zu verzweifeln, weil die Deutschen keinen sorbischen Schriftsteller
       > kennen.
       
   IMG Bild: Benedik Dyrlich (l.) und sein Bruder Nikolaus Dürlich, mit „ü“, in dessen Werkstatt.
       
       Neuendörfel-nowa wjeska taz | „Wussten Sie, dass es eine rege serbische
       Literaturszene in Deutschland gibt?“ Benedikt Dyrlich ist aufgestanden.
       Nein, Deutschland war nie einsprachig, auch seine Literatur war es nicht.
       Und es werden immer mehr, die in ihrer Muttersprache schreiben, aber auch
       auf Deutsch. Dyrlich greift nach den Büchern auf dem Tisch, keine
       serbischen – es sind sorbische Bände. Es gibt nicht wenige in Deutschland,
       die das verwechseln, die den kleinen, bedeutenden Unterschied überhören.
       Serben? Sorben? Mancher denkt an die Balkankriege und an Belgrad, anstatt
       an die Lausitz.
       
       In einem Buch, eher ein dickes Magazin, das Dyrlich hochhebt, sind sie dann
       aber doch vereint, serbische und sorbische Autoren, dazu slowenische,
       russische, ukrainische, tschechische, auch deutsche, viele Gedichte, einige
       Erzählungen, alles auf Deutsch. „Sorben und ihre Freunde“ steht da als
       Hinweis auf dem Titelblatt, dahinter 280 Seiten, eine vielstimmige
       Anthologie mit Namen „Bawülon“, herausgegeben in einem winzigen Verlag aus
       Ludwigsburg, der Verleger stammt aus Rumänien. Der Balkan, Ostsüdosteuropa,
       beginnt doch in Bautzen, gleich hinter Dresden.
       
       Dass diese Sammlung zustande kam, ist auch Benedikt Dyrlichs Verdienst, der
       Kontakte geknüpft, Texte lektoriert hat, der selbst Gedichte und Prosa
       beigesteuert hat, zudem das Motiv fürs Titelfoto. Es zeigt Dyrlich mit
       Peter Handke. Ein Lächeln huscht über Dyrlichs Gesicht, denn er hat den
       schweigsamen Handke zum Sprechen gebracht. Handke, von dem bekannt ist,
       dass er sich windet, eigene Texte vorzutragen, war 2008 zur sorbischen
       „Poesienacht“ nach Bautzen gekommen und lauschte den Autoren.
       
       Mehrfach hat er den prominenten Gast gebeten, geradezu „gebettelt“, auch
       einige Verse vorzutragen. „Plötzlich sagte Handke: 'Gut, ich lese ein
       kurzes Gedicht, wenn du es vorher sorbisch vorträgst.’“ Dyrlich griff in
       seinen Tasche, zückte ein Bändchen, bat Handke auf die Bühne und las: Złota
       doba // Kral / radowaše kaž / paduch /A paduch / radowaše kaž / kral“. Und
       der Österreicher las: „Das Goldene Zeitalter / Der König freute sich
       diebisch / Und der Dieb freute sich königlich.“ Und Dyrlichs Frau Monika
       drückte auf den Auslöser.
       
       Dyrlich, 66 Jahre alt, erzählt mit leiser, fast schüchterner Stimme. Doch
       jetzt ist nicht zu überhören, dass ihm ein Coup gelungen war. Es ist ja
       nicht nur der kleine Überfall. Es ist die Wertschätzung des Kollegen für
       eine Literatur, von der in Deutschland kaum jemand etwas weiß. Wer kennt
       Kito Lorenc? Wer Jurij Koch? Róža Domašcyna? Beno Budar? Lubina
       Hajduk-Veljković? Mina Witkojc? Jeder Name ein Rätsel. Selbst Jurij Brězan,
       der bedeutendste sorbische Schriftsteller der letzten hundert Jahre, ist
       mit seinen Krabat-Romanen kaum über Ostdeutschland hinaus bekannt.
       
       ## 3sat interessiert das nicht
       
       „Es geht doch auch darum, den Blick zu schärfen“, sagt Dyrlich. Es geht um
       Wahrnehmung. „Warum gibt es nicht ein, zwei Beiträge über sorbische
       Literatur in der ‚Kulturzeit‘ bei 3sat?“, fragt Benedikt Dyrlich,
       Schriftsteller, Journalist, auch Kulturpolitiker. Dyrlich sitzt in einem
       Sessel in seinem Arbeitszimmer unterm Dach. Ein braunes Schaffell verleiht
       dem Studierzimmer etwas Bodenständiges. Draußen auf der Terrasse zerplatzen
       Tropfen.
       
       „Es ist beschämend, in München zu erklären, dass die Bibel ins Sorbische
       übersetzt wurde“, erregt er sich. Und es ist deprimierend, immer wieder zu
       beteuern, dass Sorbisch kein Dialekt ist, sondern eine Hochsprache. Dass
       die Sonette von Shakespeare genauso in diese Sprache übersetzt wurden wie
       Bücher des Kirgisen Tschingis Aitmatow und von Douglas Adams.
       
       Und die Unkenntnis macht auch nicht vor Ministern und Professoren halt.
       Dyrlich überlegt kurz, ob er das offenbaren soll, und erzählt dann doch von
       den Audienzen im Bundeskanzleramt mit den Kulturstaatsministern. Dyrlich,
       bis 2015 Vorsitzender des sorbischen Künstlerbundes, nahm auch nach Berlin
       sorbische Bücher mit. Der erste, Naumann, schien ahnungslos, der zweite,
       Nida-Rümelin, immerhin interessiert. Bei so viel Unbedarftheit könnte einem
       der Kragen platzen. Dyrlich schnappt Regenschirm und Autoschlüssel und
       steuert sein Auto in die Lausitz, seine Landschaft, hinein.
       
       „Luza heißt Pfütze“, sagt Dyrlich und lässt den Scheibenwischer tanzen.
       Łužica, Lausitz, heißt Pfützenland. Landschaft, Denken und Sprache – sie
       gehen eine besondere Verbindung ein, ist sich Dyrlich sicher. Hat sie schon
       jemand ergründet? Die Teiche, die Bäche, die Linden, die Birken, die Hügel,
       die Wegkreuze, auch der Granit – das alles spiegelt sich in der sorbischen
       Sprache. Es geht über glänzenden Asphalt, die Straße scheint einen Teich zu
       zerschneiden. Der Regen passt. „Land der tausend Teiche“ sei ein anderes
       Bild, sagt Dyrlich. Es klingt nach Tourismus und irgendwie deutsch.
       
       „Ich weiß nicht, wie das mit der Zuwanderung wird“, sagt Dyrlich. „Ich weiß
       aber, was es heißt, zweisprachig zu sein und beide Sprachen als Wert zu
       begreifen.“ Leitkultur sei da gar nicht mehr nötig. „Man kann ruhig von
       zwei Muttersprachen reden.“ Zwei Sprachen, zwei Schätze – wer könnte etwas
       dagegen haben? Zumindest diejenigen, die auf den zweisprachigen Orts- und
       Straßenschildern das Sorbische übermalen und die auch immer wieder die
       Wegkreuze der katholischen Sorben zerstören.
       
       ## Der Regen hat sich verzogen, Hühner scharren
       
       Das Ortsschild von Neudörfel-Nowa Wjeska ist unversehrt. Dyrlich blickt zum
       Himmel, dann auf die Wiese hinter dem Zaun. Der Regen hat sich verzogen.
       Hühner scharren. Dort drüben auf der Wiese hat Dyrlich als Junge die
       Mittagsfrau, die Připołdnica, kennengelernt. Sie ist die ungemütlichste
       Sagengestalt der Sorben. Sie schleicht in der Mittagshitze auf die Felder,
       verwirrt die Bauern mit Fragen, so lange, bis sie den Verstand verlieren.
       Manchem rammt sie eine Sichel in den Kopf. So erzählen es die Sorben, so
       hat es Dyrlichs Mutter im Sommer oft erzählt, eine fromme katholische
       Sorbin, die einen Tischler heiratete, sechs Kinder gebar und früh starb.
       
       Dort drüben auf der Wiese haben sie gesessen. „Ihr fragt mich aus wie die
       Mittagsfrau“, stöhnte die Mutter, wenn sie von ihren Kindern mit Fragen
       bedrängt wurde, erzählt Dyrlich. Auf Sorbisch hat sie den Kindern die Welt
       erklärt, hat erzählt von ihrem Leben als Dienstmädchen in Dresden, vom
       Marienwunder oder vom Kaplan Andritzki, dem sorbischen Märtyrer, der im
       Konzentrationslager starb. Vier sind später in die Welt hinaus – nach
       Stuttgart, Gladbeck, Berlin. Zwei sind geblieben. Der eine wurde
       Holzschnitzer, der andere Schriftsteller – Benedikt Dyrlich.
       
       „Das mit den zerstörten Wegkreuzen hat nachgelassen“, sagt Nikolaus
       Dürlich. „Vor ein paar Jahren war es schlimmer.“ Der Bruder ist im
       Arbeitskittel aus seiner Werkstatt getreten. Nikolaus Dürlich muss es
       wissen. Er ist derjenige, der die Kreuze repariert, wenn Mutwillen sie
       zerstört oder das Wetter sie mürbe gemacht hat. „Nikolaus Dürlich“ steht
       über dem Eingang auf einer Tafel. Nein, kein Schreibfehler, sagt Benedikt
       Dyrlich. Er, der Schriftsteller, hat den Familiennamen in Dyrlich ändern
       lassen. Der Bruder, der „Herrgott-Schnitzer“, hingegen hat den deutschen
       Namen beibehalten. Aus praktischen Gründen. Der Schriftstellerbruder hat es
       besser, sagt der Holzschnitzer und lacht. „Benedikt bleibt Benedikt – ob
       Sorbisch oder Deutsch.“ Aber sein Vorname, Nikolaus? Dürlich schreibt die
       sorbische Form dann lieber gleich selbst in den Reporterblock „Mikławš“.
       Für deutsche Kunden ein Zungenbrecher – schlecht fürs Geschäft.
       
       Ansonsten ist der Bruder weniger konziliant. Dass Deutsche, die in ein
       sorbisches Dorf ziehen, auch nach zwanzig Jahren kein Wort Sorbisch reden,
       ärgert ihn. Andere schafften das nach fünf Jahren. Und die Sorben nähmen
       ständig Rücksicht auf die Deutschen. „Wenn bei einer Feier nur ein
       Deutscher dabei ist, reden alle Sorben deutsch.“ Die Sorben haben selbst
       Schuld, wenn die Sprache verschwindet, schimpft Nikolaus weiter. Der
       Schriftstellerbruder sagt es anschließend so: „Die Sprache ist das Herz des
       Sorbentums.“
       
       ## Der Heiland leidet im Dutzend
       
       Der „Herrgott-Schnitzer“ führt jetzt in seine Welt, an dessen Wänden der
       Heiland im Dutzend leidet, mit hängendem Haupt und Dornenkrone. Dazwischen
       Stechbeitel, Messer, Holzblöcke, eine altertümliche riemengetriebene Säge,
       die der Meister kurz aufheulen lässt. Aus der Not heraus sei sein Vater,
       ein Tischler und Kleinbauer, zum Holzschnitzer geworden, sagt Dürlich. Nach
       Weltkrieg und deutscher Teilung habe man keine Kruzifixe mehr aus Bayern
       beschaffen können. Die katholischen Sorben brauchten einen neuen
       Lieferanten. Es wurde Jakub Dürlich. Sohn Nikolaus setzt die Tradition
       fort.
       
       Benedikt studierte fünf Semester katholische Theologie, später
       Theaterwissenschaften, wurde Dramaturg am Deutsch-Sorbischen Volkstheater
       Bautzen und 1990 für vier Jahre Abgeordneter der SPD im sächsischen
       Landtag. Und er ist Erzähler geworden, nicht mehr auf der Wiese wie die
       Mutter, sondern am Schreibtisch, ist Lyriker, gibt Bücher heraus und
       scheint manchmal zu verzweifeln, dass die Deutschen Sorben und Serben
       verwechseln und dass sie keinen sorbischen Schriftsteller kennen, nicht
       einmal Jurij Brězan. Brězan, 2006 gestorben, war SED-Funktionär im
       Schriftstellerverband. „Aber auch ein bedeutender Schriftsteller.“
       
       Die beiden Brüder sind wieder auf der Straße, vor sich das Klosterwasser –
       ein Bächlein nur, dabei hat es schon die Satkula geschluckt, die sich auf
       ihrer kurzen Reise durchs Sorbenland schlängelt. Das Meer „wäre ein anderes
       Meer, nähme es nicht auch das Wasser der Satkula auf“, schreibt Brězan ein
       einem seiner Krabat-Romane. Die Welt, gäbe es die etwa 60.000 Sorben nicht,
       würde wohl nicht nach ihnen krähen. Doch wäre sie eine andere. Noch eine
       Weile stehen die Brüder am Klosterwasser.
       
       24 Jul 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Thomas Gerlach
       
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