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       # taz.de -- Großbritannien nach dem Brexit: Brutale Testphase
       
       > Theresa May tut ihr Schlechtestes. Labour hat jegliche Selbstkontrolle
       > verloren. Und die Rechten haben kein Mandat für Rassismus erhalten.
       
   IMG Bild: Nur die Halskette erinnert vage an einen Terminator
       
       Zuerst schien es, als habe der Brexit die Tories gesprengt. Doch dann
       schmolz die Partei wieder zusammen – zu einer Art Terminator in
       Frauengestalt. Andrea Leadsom, eine Art aufgetaute Theresa May, erklärte,
       sie werde sich zum Wohle des Landes zurückziehen. Dabei hätte man meinen
       können, dass zwei Frauen, die um einen Job konkurrieren, gut ankommen im
       Tory-Kabinett – lässt es doch bei vielen lieb gewonnene
       Kindheitserinnerungen wieder aufleben an die körperlich brutale Testphase
       bei der Suche nach dem richtigen Kindermädchen.
       
       Doch May wurde als das sicherere Pferd gesehen. Sie schwor sofort,
       Großbritannien einen zu wollen. Ich vermute mal: gegen die Armen. Ganz
       sicher wird sie die Zuwanderung begrenzen. Vielleicht mit einem
       orangefarbenen Kegel mit der Aufschrift „M“, der automatisch einen
       Elektroschock auslöst, wenn der Unglückliche einem Golfplatz zu nahe kommt?
       
       An diesem Punkt der Krise sollte die Labour Party das machen, was sie am
       besten kann, und das sind sicher nicht Wahlen. Jimmy Savile (BBC-Moderator
       und Sexualstraftäter, d. Red.) hätte, ließe man ihn mit einem Tarnumhang
       auf Hogwarts los, immer noch mehr Selbstkontrolle als Labour. Eine
       Schlagzeile im Guardian zitierte einen Kollegen mit den Worten,
       Labour-Politikerin Angela Eagle sei „tough im bestmöglichen Sinne“. Ich
       persönlich denke ja bei „tough im bestmöglichen Sinne“ eher an Pasta al
       dente als daran, für einen Krieg zu stimmen, der Tausende Zivilisten
       getötet hat – wie es Eagle beim Irakkrieg tat.
       
       Es gibt Leute an der Seite von Labour-Chef Jeremy Corbyn, die den Eindruck
       erwecken wollen, man kämpfe um die Frage, ob Parteien und soziale
       Bewegungen grundsätzlich von oben nach unten strukturiert sein sollen –
       oder aber von unten nach oben. Kann gut sein; könnte aber auch sein, dass
       dies ein Kampf ist zwischen Leuten, die nicht wissen, was sie eigentlich
       tun, und Leuten, die furchterregend klare Vorstellungen von einem
       Richtungswechsel haben.
       
       ## Die Medien sind gegen Corbyn
       
       Es ist schwer zu sagen, wie sich all das auf Corbyn auswirkt – dank seiner
       cleveren Taktik, dass er jeden Tag aussieht, als hätte er im Auto
       geschlafen. Ja, die Medien sind größtenteils und systematisch gegen ihn und
       Vernunft im Allgemeinen, aber seine einsilbigen Reaktionen führen
       nirgendwohin. Er zeigt dieses Verhalten besonders gerne gegenüber
       Journalisten, wo er zu denken scheint, er spreche ganz ruhig zu einem
       Verrückten. Tatsächlich aber spricht er zu der Maschinerie eines
       Schlachthofs. Es ist bemerkenswert, dass das Brexit-Referendum in
       Westminster wohl als Bestätigung für die Macht des Verlegers Rupert Murdoch
       im Allgemeinen und im Besonderen der Boulevardblätter Sun und Daily Mail
       wahrgenommen wurde. Vermutlich dauert es nicht mehr lange, bis gestandene
       Politiker anfangen, auf den Hochzeiten irgendwelcher Blogger aufzutauchen.
       
       Die Nachwirkungen des Referendums dauern an. Einige Leute sagen schon, sie
       schämten sich, Briten zu sein – allerdings eher, weil wir einen Handelspakt
       verlassen hätten, aber immerhin: es ist ein Anfang. Die Immobilienpreise
       sind gesunken und man wird bald nicht mehr in der Lage sein, sein Handy im
       Ausland zu benutzen. Toll! Meine Kinder können jetzt eine Wohnung kaufen
       und werden im Urlaub nicht mehr von Anrufen aus dem Büro belästigt. Bisher
       muten die Folgen ungefähr so tragisch an wie eine Polonaise durch eine
       Cocktailbar.
       
       Allerdings fühlen sich von dem Ergebnis jetzt auch die Rassisten bestätigt.
       Es ist, als sei ein Damm gebrochen. Endlich haben wir die Fesseln der
       politischen Korrektheit abgestreift und können sagen, wie es ist – „Diese
       Tapas … das ist doch kein Essen. Bloß Snacks sind das. Terry, sag mal, da
       stimmt doch was nicht! Pizza! Die machen sich doch lustig über uns, nix als
       Käse auf einem verdammten Toast. Und erst dieses Polnisch. Wo bitte sind
       die Vokale? Da ist doch was faul. Schlimm genug, dass wir die Waliser damit
       durchkommen ließen.“
       
       Wir sollten uns allerdings auch daran erinnern, dass diese Volksabstimmung
       nicht dazu dienen sollte, Rassismus salonfähig zu machen; dazu hatte schon
       die Unterhauswahl im Mai 2015 gedient. Die Remain-Befürworter haben im
       Internet so viel Zeit drauf verwendet, Leute als Rassisten zu bezeichnen,
       dass chinesische Kinderarbeiter eine Fleißzulage kriegen, um all das
       Lithium für ihre neuen Laptop-Batterien zu gewinnen.
       
       ## Dämonisierte Wähler
       
       Im Ernst: Wollen wir, dass die Rechte aufhört, so zu tun, als sei die
       Brexit-Entscheidung ein Mandat für Rassismus? Gut. Dann müssen wir
       aufhören, ihnen zu erzählen, dass es ein Mandat für Rassismus ist. Eine
       Generation Liberaler, die erst Tony Blair und später den Liberaldemokraten
       Nick Clegg gewählt hat, dämonisiert Menschen, die um vier Uhr morgens
       aufstehen müssen, um Fisch auszunehmen, weil die nicht wussten, dass die
       Leave-Fraktion sie belogen hat. „Wir haben doch die EU von innen heraus
       verändert!“, schreit jetzt eine Gruppe von Leuten, die zu Hause auf dem
       Sofa Netflix-Serien geguckt haben, während bei den letzten Europawahlen 24
       Ukip-Vertreter ins Parlament gewählt wurden. In der Zwischenzeit hat
       Ukip-Chef Nigel Farage das Referendum dazu genutzt, eine stattliche Anzahl
       Unentschiedener für sich zu gewinnen – mit Nazi-Symbolik und dem Aufruf,
       Syrer doch einfach sterben zu lassen.
       
       Und wo stehen wir jetzt? Nun, wir haben eine Opposition, die sich darin
       erschöpft, gegen sich selbst zu opponieren. Und ein Land, das so abhängig
       von Geldwäsche ist, dass wir erst kürzlich einen wasserfesten
       Fünf-Pfund-Schein herausgebracht haben. Auf der Rückseite ist Churchill
       abgebildet – wahrscheinlich, weil er am besten den momentanen Zustand der
       Wirtschaft im Vereinigten Königreich verkörpert: „Nie zuvor hatten so viele
       so viel so wenigen zu verdanken.“
       
       Wir haben außerdem eine herrschende Klasse, die darin geübt ist, in jeder
       Krise eine Chance zu sehen. Zum Beispiel, wie man die besten Teile der
       EU-Mitgliedschaft loswird und die schlechtesten behält. Fürs Erste müssen
       wir Theresa May dabei zusehen, wie sie ihr Schlechtestes tut. Und
       währenddessen dafür beten, dass ihr Dorothy aus dem „Zauberer von Oz“
       mitsamt ihrem Haus auf den Kopf fällt.
       
       Übersetzung : Nina Apin
       
       24 Jul 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Frankie Boyle
       
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