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       # taz.de -- Che Guevara auf Kreta: Der Wirt, der keiner sein wollte
       
       > Seit 50 Jahren lebt er am Meer. Seine Mission: das Wort Che Guevaras
       > verkünden. Dann kamen die Touristen. Und auch Ornella Muti erschien.
       
   IMG Bild: Babis auf Kanella
       
       Babis sitzt unter den Tamarisken, diesen unverwüstlichen Uferbewohnern,
       denen weder Trockenheit noch Sturm etwas ausmachen. Die bescheidenen
       Gewächse begnügen sich mit dem salzigen Atem des Meeres, der sich nachts in
       ihren Nadeln verfängt und morgens von den Ästen tropft. Wenn ein
       Herbststurm einen Ast bricht und auf den sandigen Boden wirft, reicht ein
       kräftiger Regenschauer und der Ast beginnt zu wurzeln.
       
       Auch Babis, der eigentlich nur die Sommer am Meer verbringen wollte, hat
       hier Wurzeln geschlagen.
       
       Niemand auf Kreta dachte daran, hier zu bauen. Das war kein Platz für ein
       Haus, so nah am Wasser, wo der Südwind im Herbst die Wellen den halben Berg
       hinauftreibt und „wo man sich den Rheumatismus holt“. Man verbrachte den
       Winter in Apesokari, dem Bergdorf, in dem die Leute seit ewigen Zeiten
       ihrem Tagewerk zwischen Oliven und Weinstöcken nachgehen. Nur im Sommer
       waren sie in den Gärten am Meer.
       
       ## Ein Pferd, eine Bar, Liegestühle und Bücher
       
       Trotzdem half der Vater beim Bau eines Hauses, sie schleppten Steine,
       deckten Dächer, nagelten ein hölzernes Schild an eine der Tamarisken, die
       der Vater an den Strand gepflanzt hatte, und schrieben den Namen des
       Südwinds darauf: Ostria. Heute gibt es vier kleine Häuser, ein Pferd namens
       Kanella, eine Strandbar, Liegestühle und unter einem Baumhaus eine kleine
       Bibliothek mit Büchern von Marx, Neruda, Jesus Christus oder Che Guevara.
       
       Denn Babis liest viel. Wenn nicht immer wieder Gäste kommen und ihn stören
       würden, würde er den ganzen Sommer in dem von der Sonne vergilbten, vom
       feuchten Atem des Meeres schwer gewordenen Papier seiner Bücher blättern.
       Wenn ein Fremder vorbeikommt und grüßt, schaut er kurz auf, zitiert eine
       Stelle aus der Bibel, dem kommunistischen Manifest oder einem Roman von
       Kazantzakis. Und dann fragt er: „Kannst du mir sagen, wo der Unterschied
       ist zwischen Christus und Marx?“
       
       Wer dazu nichts sagen kann, wird kaum Babis’ Freund werden. „Es gibt Leute,
       die blättern den Bildband über Che Guevara durch und fragen: ‚Wer ist das?‘
       “ Und es gibt Leute wie den Doktor aus Ostberlin, „der kannte jeden auf
       diesen Fotos, auch die hinter dem Comandante in der zweiten Reihe.“ Solche
       Leute sind Babis’ Freunde. Auch Kinder hat er gern.
       
       In dem Regal unter dem Baumhaus hat er Spiele für sie, einen großen
       rostigen Nagel, der senkrecht auf ein Brett geschlagen wurde, und auf
       dessen Kopf sie zehn andere Nägel so auflegen sollen, dass keiner
       herunterfällt. „Das haben nur ganz wenige geschafft.“ Oder zwei miteinander
       verkettete Hufeisen, die sie voneinander lösen sollen. „Das haben sogar
       einige Eltern geschafft.“ Den Kindern zuliebe hat sich Babis Kanella
       angeschafft, die zum Cola-Trinken an die Bar trabt, das Baumhaus mit dem
       Aussichtsturm, von dem aus sie übers Meer schauen und sich wie Seefahrer
       fühlen.
       
       ## Touristen statt Christen
       
       Babis wollte einmal Lehrer werden und Kindern die Welt erklären. So wie
       Andreas Chatzidakis, sein Vetter aus Apesokari, den jetzt alle Pater
       Gabriel nennen. Andreas verschwand eines Tages in die Berge, schon damals
       eine hagere, asketische Gestalt mit einem flaumigen Bartwuchs. Jahrzehnte
       verbrachte er in der Einsamkeit der Mönchsrepublik Athos, um zu lernen, wie
       man das Wort Gottes verkündet.
       
       Babis dagegen blieb am Meer, um das Wort Che Guevaras zu verkünden. Und um
       ihm am salzigen Ende der Welt ein steinernes Denkmal in Form eines Mosaiks
       zu setzen. Darunter hat er die Worte des Genius loci geschrieben:
       „Solidarität ist die Zärtlichkeit der Völker.“
       
       Babis’ Gemeinde sind keine Christen, sondern Touristen. Irgendwann in den
       1970ern tauchten sie unter den Tamarisken auf, im Rucksack Kazantzakis’
       berühmtesten Roman „Alexis Sorbas“. Und dann sahen sie Babis da sitzen!
       Babis war wie Sorbas, der Urgrieche, der noch über dem Feuer kochte wie
       damals, als es noch keinen Strom gab und die Propangasflasche so schwer und
       das nächste Dorf selbst mit einem guten Maultier noch eine Stunde weit
       entfernt war.
       
       Als die staubige Fahne des Lastwagens mit seinen Gasflaschen, Stühlen,
       Seilen, Socken, Unterhosen und der langen Liste der Kurzwaren nur einmal
       die Woche auf der sich umständlich durch die Berge schlängelnden Straße
       auftauchte und die Ankunft von etwas Zivilisation auf Kreta verkündete.
       
       Später brachten Touristen die Innovationen. „Die Griechen haben von den
       Deutschen gelernt. Früher waren Griechenlands Strände voller Müll, jetzt
       heben wir jedes Papierchen auf. Und wenn wir einen Baum fällen, haben wir
       ein schlechtes Gewissen.“ Aber auch die Deutschen lernten von Sorbas. Doch
       dieses Gleichgewicht ist gestört. Die Deutschen haben sich verändert.
       
       Sie wollen „immer mehr, noch einen Kaffee, noch ein Bier, noch eine Portion
       Kartoffeln.“ Schon Pater Gabriel sagte, wenn er den heiligen Berg einmal
       verließ und ans Meer herunterstieg, – jedes Mal ein bisschen hagerer, jedes
       Mal mit längerem Bart, jedes Mal ein bisschen skeptischer – mit besorgtem
       Blick auf den Bauch des Cousins: „Babis, du sollst nicht so viel essen!“
       
       Doch Babis schälte unentwegt Kartoffeln, briet Lamm- und Ziegenfleisch,
       rieb Tomaten, würzte mit Salz, Zimt, Nelken, Lorbeer, Pfeffer und Thymian.
       Sein Salat wurde zum Gesprächsstoff, sein Lammbraten ein Gedicht, das man
       auch in der Provinzhauptstadt Mires kannte. Bis nach Italien sprach es sich
       herum, bis zu Ornella Muti. Sie wusste, wer Che Guevara war, und sie lacht
       ganz wunderbar auf der großen Fotografie, die Babis in Plastik geschweißt
       hat, damit der Südwind und das ewige Meer die Schauspielerin nicht farblos
       werden lassen.
       
       ## Speisekarte abgeschafft
       
       Inzwischen hat Babis keine Speisekarte mehr. Touristen erzählen, er habe
       ihnen ein Messer gereicht, damit sie selbst die Kartoffeln schälen. Er
       müsse lesen. Manche ärgern sich, andere lachen, aber kaum einer versteht,
       dass das Kartoffelschälen eine Form von Solidarität ist. Das ärgert ihn. Es
       ärgert ihn auch, wenn sie nörgeln, nur weil kein Portulak am Salat ist. „Im
       August! Wenn kein Tropfen Wasser fällt! Portulak! Und dann die ständigen
       Witze über Grexit und Brexit.“
       
       Dabei war Babis immer ein guter Gastgeber. Fremde waren keine Kunden,
       sondern Gäste. Unter den Tamarisken spürte man noch die Zärtlichkeit der
       Völker. An einem Abend mit Freunden, die ihre Kartoffeln selbst schälen
       konnten, kam Babis auf die Idee, die Kinder sollten Theater spielen. Till
       sollte der Wirt sein, Anna, Julia, Lara und Mesut die unzufriedenen Gäste.
       
       Alles sollte ohne Worte dargestellt werden. Es wurden Tränen vergossen über
       die Grimassen der Kinder, nur Babis lachte nicht. Er sah aus, als betrachte
       er ein antikes Drama. Das Drama vom Sittenverfall im Kapitalismus. Vom Ende
       der Gastfreundschaft.
       
       Vielleicht sind sie deshalb selten geworden, die Nächte, in denen sie
       sitzen bis weit nach Mitternacht, an wackligen Tischen, über denen ein paar
       Glühbirnen baumeln, winzige elektrische Lichter vor dem Mond, der fett
       und käseweiß am Himmel hängt, Nächte, in denen alle durcheinanderreden und
       über die alten Fragen nachdenken, über Kazantzakis und den Comandante.
       
       Babis vermisst die Solidarität. So wie der Pater die Nächstenliebe. Er
       kommt jetzt öfter. Er hat den Mönchsberg verlassen und lebt in einem
       schmucklosen Kloster bei Apesokari – so abwegig und unspektakulär, dass
       kaum ein Tourist sein Objektiv darauf gerichtet hat. Und jedes Mal, wenn er
       bei seinem Vetter am Meer sitzt, blickt er sich verwundert um und sagt:
       „Das ist ein kleines Paradies, mein lieber Babis!“ – „Ja, aber es ist sehr
       einsam hier im Paradies!“, sagt Babis. „Ach“, lächelt der langjährige
       Einsiedler, „du bist doch nicht einsam, du hast das Meer, den Mond, die
       Bäume, die Bücher!“
       
       ## Einer dick, einer dünn
       
       Der Pater streicht im Hof umher, setzt sich auf die Holzbank und betrachtet
       die kopflose Büste eines griechischen Jünglings, den verbeulten Blecheimer
       mit der rostigen Kelle, die zerfransten Taue, die Stühle, deren Geflecht
       zerschlissen ist, die vom Meer ausgehöhlten Steine: lauter Symbole der Zeit
       und der Vergänglichkeit. „Das alles hat Sinn und Seele wie ein
       Klostergarten. In jedem Detail steckt ein Gedanke. Mein Vetter ist ein
       guter Mensch!“, sagt der Pater.
       
       Fünfzig Jahre ist es her, seit Babis’ Vater die Tamariskenstecklinge in die
       Erde steckte. Fünfzig Jahre ist es auch her, dass der Vetter das erste Mal
       zum Baden kam. Mit der Schulklasse, auf Eselsrücken. Dann trennten sich die
       Wege von Babis und dem Vetter, aber jetzt sitzen sie hier unten zusammen,
       der eine dick, der andere dünn.
       
       Es ist spät, die Nacht ist warm, über das Meer streicht eine warme Brise
       aus Süden. Babis hört dem Vetter so aufmerksam zu, als lese er ein Buch. Er
       hat viel vom Pater gelernt. Aber auch der Pater hat von Babis gelernt: Er
       schaut aufs Meer und nimmt einen Schluck Rotwein aus dem halb blinden,
       dicken Wasserglas. „Wunderbar“, sagt er und wischt mit dem Ärmel seiner
       Soutane über den Mundwinkel, um das Fett abzuwischen. Babis kocht
       wunderbar. Es ist schon das vierte Stück Fleisch, das der Pater verspeist
       hat.
       
       17 Jul 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Hans Korfmann
       
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