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       # taz.de -- Umstrittener EU-Türkei-Flüchtlingsdeal: Der vertrackte Pakt
       
       > Trotz Erdoğans Vorgehen hält Merkel am Flüchtlingsdeal fest. Die
       > Opposition ist empört. Auch Kritik aus der Union wird laut.
       
   IMG Bild: Die Kanzlerin auf Flüchtlingslager-Besuch in Nizip (Türkei) im April 2016
       
       Berlin taz | Angela Merkel schaut zu. Es ist Mittwochabend, vor acht
       Stunden hat die Türkei allen Wissenschaftlern die Ausreise verboten, vor
       einer Stunde hat Belgien den türkischen Botschafter einbestellt, in drei
       Stunden wird Recep Tayyip Erdoğan den Ausnahmezustand ausrufen, aber Angela
       Merkel steht im Kanzleramt und schaut zu.
       
       Pressekonferenz im ersten Stock, die britische Premierministerin ist zu
       Gast. „Kann die Türkei Partner eines Flüchtlingspakts bleiben?“, fragt eine
       Reporterin. Merkel sortiert ihre Unterlagen, dann nickt sie kurz und sagt:
       „Wir werden das natürlich sehr intensiv beobachten.“
       
       In Ankara wackelt die Demokratie, der Präsident setzt Grundrechte außer
       Kraft, die AKP will die Todesstrafe einführen. Kann Europa dabei wirklich
       zusehen? Kann es am Flüchtlingsabkommen mit der Türkei festhalten? Kann es
       darauf vertrauen, dass sich Erdoğan noch an den Vertrag gebunden fühlt?
       
       Die Opposition meint, nein. Die Kanzlerin meint, ja. Die Regierungsparteien
       murren.
       
       Grenzschließung gegen Geld, Visumfreiheit und schnellere
       Beitrittsverhandlungen – so kann man umschreiben, was am 18. März in
       Brüssel ausgehandelt wurde. Die EU zahlt Ankara sechs Milliarden Euro für
       die Versorgung von Flüchtlingen und nimmt eine nennenswerte Anzahl von
       Syrern aus der Türkei auf. Im Gegenzug nimmt Erdoğans Küstenwache alle
       Menschen zurück, die auf die griechischen Inseln fliehen, aber dort kein
       Asyl erhalten.
       
       ## Weniger Flüchtlinge in Deutschland
       
       Je nach Perspektive funktioniert das bisher mehr oder weniger gut. Weil die
       Asylverfahren in Griechenland stocken, wurden bislang nur 468 Flüchtlinge
       in die Türkei zurückgebracht. Umgekehrt hat die EU gerade mal 849 Menschen
       von dort aufgenommen. Aber: In der Ägäis ertrinken weniger Menschen als
       zuvor. In Deutschland kommen kaum noch Flüchtlinge an. Die Umfragewerte der
       AfD steigen nicht mehr. Kein guter Zeitpunkt, um das Abkommen platzen zu
       lassen.
       
       Claudia Roth ist das egal. Am Morgen nach Merkels Pressekonferenz klingt
       die Grünen-Politikerin müde. Nachdem Erdoğan den Ausnahmezustand verkündet
       hatte, konnte sie kaum schlafen. Roth hat Freunde in der Türkei und sorgt
       sich.
       
       „Die Demokratie wird weggesäubert“, sagt sie mit belegter Stimme. Wer nicht
       bedingungslos auf Erdoğans Seite stehe, sei in Gefahr. Die Bilder der
       letzten Woche, die Gedemütigten und Geschlagenen, erinnern Roth an
       „schlimmste Diktaturen“.
       
       Dazu habe Merkel beigetragen. Nicht als Beobachterin auf dem Ausguck quasi,
       sondern mit einer Hand am Steuer: Mit dem Türkeideal habe sie Erdoğan
       gestärkt. „Wäre es der EU wirklich um die Menschen, die Geflüchteten,
       gegangen, hätte man schon lange sagen müssen: Ja, wir nehmen als
       Gemeinschaft mehr Flüchtlinge auf. Stattdessen gibt es jetzt diesen Deal.“
       
       Und nun? „Klare Kante“, antwortet Roth. „Wenn die Bundesregierung Erdoğan
       schalten und walten lässt, unterstützt sie ihn – und seine Anhänger in
       unserem Land.“ Sie klingt jetzt nicht mehr müde. Sie klingt wütend.
       
       ## Auch Merkels Leute rücken von ihr ab
       
       Nun könnte es der Kanzlerin egal sein, wenn sich Claudia Roth aufregt. Dass
       nach dem Putsch in der Türkei auch Merkels Leute von ihr abrücken, muss ihr
       aber Sorgen bereiten.
       
       Als am Montagmittag in München der Parteivorstand der CSU zusammenkommt,
       steht die Türkei auf der Tagesordnung. Die Diskussion dauert wenige
       Minuten: Die Parteispitze ist sich einig, dass die EU sowohl die
       Verhandlungen über den Beitritt der Türkei als auch über die Visumfrage
       stoppen muss. So berichtet es der Europaabgeordnete Markus Ferber.
       
       „Die Türkei hat im jetzigen Zustand Anspruch auf alles Mögliche, aber nicht
       auf die Visaliberalisierung“, sagt er. Objektiv gesehen, stimmt das: EU und
       Türkei einigten sich vor drei Jahren auf 72 Bedingungen, die Ankara
       erfüllen muss, bevor Türken ohne Visum nach Europa dürfen – darunter
       Meinungsfreiheit und faire Gerichtsverfahren. Nach dem Putschversuch
       erfüllt die Türkei diese Bedingungen noch weniger als zuvor. CSU-Mann
       Ferber setzt nun darauf, dass das EU-Parlament die Verhandlungen nach der
       Sommerpause platzen lässt.
       
       ## Rote Linie Todesstrafe
       
       Dass der CSU eine Annäherung an die Türkei widerstrebt, ist nicht neu.
       Erdoğans Repressionen treiben ihr aber frische Unterstützer zu. Selbst
       Sozialdemokraten wie der Europapolitiker Axel Schäfer reden davon, die
       Beitrittsgespräche einzufrieren. Das einst beliebte Argument, die EU könne
       durch Verhandlungen auf die Verhältnisse in der Türkei einwirken, scheint
       nach dieser Woche widerlegt.
       
       Die Kanzlerin weiß das. Drei Tage nach dem gescheiterten Putsch verlässt
       sie für einen Moment doch ihre Position als Beobachterin und handelt: Sie
       lässt ihren Sprecher eine rote Linie verkünden. Die Verhaftungen, die
       Entlassungen, die Gewalt – geschenkt. All das bereitet ihr laut offizieller
       Sprachregelung höchstens Sorgen. Den nächsten Schritt soll sich Erdoğan
       aber gefälligst verkneifen.
       
       „Ein Land, das die Todesstrafe hat, kann nicht Mitglied der EU sein“, sagt
       Steffen Seibert im Saal der Bundespressekonferenz. „Die Einführung der
       Todesstrafe würde folglich das Ende der Beitrittsverhandlungen bedeuten.“
       
       ## Wirken die EU-Druckmittel?
       
       Ein Pokerspiel. Es könnte klappen, wie 2004. Damals drohte die EU der
       Türkei und ihrem jungen Präsidenten Erdoğan: Beitrittsverhandlungen gibt es
       nur, wenn ihr die Todesstrafe abschafft. Das wirkte.
       
       Es könnte aber auch schiefgehen. Weil das Druckmittel nicht mehr zieht,
       weil Erdoğan neue Prioritäten hat, weil er die fruchtlosen EU-Verhandlungen
       nicht mehr braucht, um seine Macht auszubauen. Er könnte die Drohung also
       ignorieren und die Todesstrafe einführen. Die Verhandlungen wären am Ende,
       Europas stärkstes Druckmittel wäre verloren, das Flüchtlingsabkommen in
       Gefahr.
       
       Wörtlich hatten EU und Türkei unter Paragraf fünf abgemacht, „den Fahrplan
       zur Visaliberalisierung“ zu beschleunigen. Unter Paragraph acht hatten sie
       die „Neubelebung des Beitrittsprozesses“ vereinbart. Wird beides hinfällig,
       bleiben der Türkei nur die sechs Milliarden Euro. Reicht ihr das, um am
       Abkommen festzuhalten?
       
       Die EU muss sich auf den Ernstfall einstellen: freie Fahrt für Flüchtlinge
       in der Ägäis, überfüllte Lager in Griechenland, geschlossene Grenzen auf
       dem Balkan. Nach dem Putschversuch könnte die Fluchtkrise nach Europa
       zurückkommen.
       
       ## Alle Verbindungen kappen?
       
       Es gibt einen Mann in Berlin, den das kaltlässt. In der Nähe des
       Alexanderplatzes sitzt Stefan Liebich am Straßenrand. Neben ihm stehen ein
       paar Menschen und halten Plakate in Kameras. Die Linkspartei präsentiert
       die Kampagne zur Abgeordnetenhauswahl.
       
       Im März war der Partei ihre Willkommenskultur auf die Füße gefallen, bei
       der Wahl in Sachsen-Anhalt verlor sie ein Fünftel ihrer Wähler. Und wenn
       die Flüchtlinge jetzt wieder in die EU drängen?
       
       „Dann kommen sie eben, und wir werden die Auswirkungen der Krisen und
       Bürgerkriege um uns herum wieder merken“, sagt Liebich. Er sitzt dabei so
       entspannt, als ginge es um den Betriebsausflug des Auswärtigen
       Ausschusses, dem Liebich im Bundestag angehört. „Für uns ist das keine
       Drohung, sondern eine Herausforderung“, sagt er.
       
       Für seine Partei ist alles klar: Flüchtlingsdeal kündigen,
       Beitrittsverhandlungen stoppen, Bundeswehr aus der Türkei abziehen. Aber
       wenn alle Verbindungen gekappt sind: Welche Mittel bleiben dann noch, um
       auf die Türkei einzuwirken?
       
       Liebich erzählt von politischem Druck in internationalen Gremien, in OSZE
       und Uno, denen die Türkei angehört. Seine Vorstellungen bleiben vage, und
       so klingt der Politiker wie ein Pfarrer, der Gottvertrauen predigt, wenn
       wenig bleibt außer abwarten und zusehen. „Ich hoffe natürlich, dass sich
       Erdoğan eines Besseren besinnt“, sagt er. „Aber außer durch die Kraft der
       Worte kann man derzeit wenig tun.“
       
       23 Jul 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Anna Lehmann
   DIR Anja Maier
   DIR Tobias Schulze
       
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