URI: 
       # taz.de -- Debatte Putschversuch in der Türkei: Der Machtkampf ist nicht entschieden
       
       > Es mag paradox erscheinen, aber durch den vereitelten Putsch hat der
       > türkische Staat seine wichtigsten Repressionsorgane verloren.
       
   IMG Bild: Polizisten auf einem Gebäude während einer Demonstration in Istanbul
       
       Wer die Berichterstattung über die Türkei in den letzten Tagen verfolgt,
       kommt leicht in die Versuchung, sich folgende Lesart zu eigen zu machen:
       Dem türkischen Präsidenten Tayyip Erdoğankam [1][der Putschversuch]
       gelegen. Er ist politisch erstarkt. Mit der Niederschlagung des Putsches
       nutze er die Chance, der türkischen Demokratie den Todesstoß zu versetzen,
       um die Türkei in eine Einmanndiktatur mit islamischem Antlitz zu
       verwandeln.
       
       Erdoğan selbst hat diese Lesart befördert, als er im Zusammenhang mit dem
       Putsch vom „Geschenk Gottes“ sprach. Ganz Volksverführer, der zum
       Bürgerkrieg aufruft, sprach er in einer Kundgebung nur zwei Tage nach dem
       blutigen Putschversuch: „Ob sie es wollen oder nicht. Wir werden die
       Kaserne auf dem Taksim-Platz errichten. Und auch eine Moschee.“
       
       Es war eine Kriegserklärung an die säkularen Mittelschichten, die die
       Symbolkraft des Taksim-Platzes und der Gezi-Proteste kennen: Nach dem
       Putsch seid ihr dran.
       
       ## „Bella Ciao“ auf dem Taksim-Platz
       
       Doch nach der Hitze des Gefechtes muss die Mainstream-Lesart einer Kritik
       und Revision unterzogen werden. Da stimmt irgendetwas nicht, wenn im
       Ausnahmezustand in Begleitung lächelnder Polizisten „Bella Ciao“ auf dem
       Taksim-Platz ertönt, der Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu unter dem
       Jubel Hunderttausender des friedfertigen Gezi-Protests gedenkt und das
       „Widerstandsrecht zum legitimen Mittel zum Schutz der Demokratie erklärt“.
       
       Noch sonderbarer als die Kundgebung auf dem Taksim-Platz ist der Umstand,
       dass die geballte Medienmacht regierungstreuer Fernsehsender die Kundgebung
       live überträgt.
       
       Und es gibt einen Werbespot, den Fernsehsender immer wieder zirkulieren
       lassen. Eine wehende, türkische Flagge mit einem Text, der die Worte des
       Republikgründers Atatürkm „Wie glücklich, wer von sich sagen kann, er ist
       Türke“, abwandelt: „Wie glücklich, wer von sich sagen kann, er ist Türke,
       Lase, Bosnier, Kurde, Zaza, Georgier, Tscherkesse, Tscheschene, Pomacke,
       Rom, Araber, Assyrer, Armenier, Römer [d. h. Grieche; d. A.], Albaner,
       Jude, Christ, Muslim, Alevit, Sunnit.“
       
       Es folgen Fotos vom Nationalkampf Mustafa Kemal Atatürks und eindrückliche
       Aufnahmen des zivilen Widerstands gegen den Putsch. Text: „Wir haben den
       Befreiungskampf gemeinsam, Hand in Hand gewonnen und wir werden den Kampf
       für Demokratie gemeinsam, Hand in Hand gewinnen.“
       
       Als ich diesen Spot erstmals sah, dachte ich an ein Fake von surrealen
       Kreativen, die es irgendwie geschafft hatten, illegales Sendematerial zu
       veröffentlichen. Wer weiß, wie niederträchtig und ausgrenzend der türkische
       Staat im Umgang mit Minderheiten ist, kann nur mit dem Kopf schütteln.
       
       ## Zögerliche Regierungstreue
       
       Doch die Antwort liegt auf dem Tisch: Durch den Putsch hat der türkische
       Staat von heute auf morgen seine wichtigsten Repressionsinstrumente
       verloren: das Militär, Teile der Polizei und der politischen Justiz. 40
       Prozent der Generalität sind als Putschisten hinter Gittern. Und auch der
       Rest ist kaum vertrauenswürdig. Zu zögerlich schlugen sie sich auf die
       Seite der Regierung. Zwar gibt es Sondereinheiten der Polizei, die
       regierungstreu den Putsch bekämpften, doch die Zahl suspendierter
       Polizisten von über 8.000 spricht für sich.
       
       Staatspräsident Erdoğanhat über seinen Schwager mitbekommen, dass das
       Militär putscht. Ministerpräsident Yıldırım hat es von einem Freund
       erfahren und konnte dann weder den Generalstab noch seinen Innenminister
       erreichen – und das, obwohl der Geheimdienst schon Stunden vorab den
       Generalstabschef informierte. Der türkische Staat als Papiertiger.
       
       All das erklärt, warum die Regierung bemüht ist, den Rückwärtsgang
       einzulegen. Erdoğandankt Oppositionsführer Kılıçdaroğlu für „seine
       entschlossene Haltung gegen den Putschversuch“. Immer wieder redet der
       türkische Ministerpräsident Yıldırım von Dialog. Der Ausnahmezustand sei
       nicht über das Volk, sondern über den Staat verhängt worden. Das ist
       natürlich Unsinn. Nichtsdestotrotz steckt ein wahrer Kern in dieser
       Aussage. Die Hauptgewicht der Maßnahmen liegt auf „Säuberung“ des
       Staatsapparats durch Zehntausende Suspendierungen.
       
       Die kurdisch-linke HDP mit ihrem brillanten Vorsitzenden Selahettin
       Demirtaş, der wie kein anderer immer wieder vor einem Putsch des
       Gülen-Geheimbundes in der Armee gewarnt hat, ist noch vom Dialog
       ausgeschlossen. Erst vor wenigen Monaten hat auf Geheiß Erdoğans das
       Parlament, die Immunität von Abgeordneten aufgehoben, um die
       HDP-Abgeordneten der politischen Justiz zum Fraß vorzuwerfen – den
       Staatsanwälten, die heute als Putschisten hinter Gittern sind.
       
       Wer von einem allmächtigen Erdoğanausgeht, übersieht die wichtigste Frage:
       Wie soll diese türkische Armee nun den Krieg gegen die kurdische Guerilla
       PKK führen? Einen Krieg, den sie seit über drei Jahrzehnten führt und der
       letztlich nur zum Erstarken der PKK geführt hat.
       
       ## Bündnis mit dem Militär
       
       Über Jahre hinweg verhandelte Erdoğans Regierung mit dem inhaftierten
       PKK-Führer Abdullah Öcalan. Im Februar 2015 war es so weit. Im
       Dolmabahçe-Palast verlasen Kabinettsmitglieder und die Vermittler der HDP
       eine Deklaration, die den Friedensprozess einleiten sollte. PKK-Führer
       Öcalan merkte damals an, die Zukunft der Türkei hänge von der Politik der
       Regierungspartei ab. Sie könne zu einem Putsch oder zu Demokratisierung
       führen.
       
       Es war Staatspräsident Erdoğan, der den Vertrag brach und stattdessen mit
       nationalistischer Rhetorik auf das Bündnis mit dem türkischen Militär
       setzte, um einen Vernichtungsfeldzug gegen die PKK zu führen. Sein
       wichtigster Bündnispartner hat nun gegen ihn geputscht.
       
       Die Niederschlagung des Putsches und die Aushebelung des extrem
       gefährlichen Gülen-Bundes ist – ohne Wenn und Aber – ein historischer
       Fortschritt. Auch wenn Erdoğan nun meint, sich den Wunschtraum eines
       totalitären Führerstaates besser erfüllen zu können.
       
       Doch der finale Machtkampf ist längst nicht entschieden.
       
       25 Jul 2016
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /!5325495/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ömer Erzeren
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Türkei unter Erdoğan 
   DIR Recep Tayyip Erdoğan
   DIR Putschversuch
   DIR Schwerpunkt Türkei unter Erdoğan 
   DIR Putsch
   DIR Schwerpunkt Türkei unter Erdoğan 
   DIR Schwerpunkt Türkei unter Erdoğan 
   DIR Schwerpunkt Türkei unter Erdoğan 
   DIR Schwerpunkt Türkei unter Erdoğan 
   DIR USA
   DIR Recep Tayyip Erdoğan
   DIR Schwerpunkt Türkei unter Erdoğan 
   DIR Pressefreiheit in der Türkei
   DIR Recep Tayyip Erdoğan
   DIR Schwerpunkt Türkei unter Erdoğan 
   DIR Schwerpunkt Türkei unter Erdoğan 
   DIR Schwerpunkt Türkei unter Erdoğan 
   DIR Pressefreiheit in der Türkei
   DIR Pressefreiheit in der Türkei
   DIR Pressefreiheit in der Türkei
   DIR Schwerpunkt Türkei unter Erdoğan 
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Vier Wochen nach dem Putschversuch: Weiterhin Razzien in der Türkei
       
       Einen Monat nach dem misslungenen Putsch in der Türkei gibt es immer noch
       Festnahmen. 17.000 Gefangene warten in der U-Haft auf ein Verfahren.
       
   DIR Stimmung in der Türkei: Ein Putsch, der uns nicht umbringt …
       
       Erdoğans anatolische Heldengeschichte ist um ein Kapitel reicher. Aber um
       die Türkei zu einen, wird das nicht reichen.
       
   DIR Großrazzia in Istanbul: Anti-Terror-Einheiten gegen die HDP
       
       Polizisten verschaffen sich gewaltsam Zutritt zu einem Büro der
       pro-kurdischen Oppositionspartei. Bei weiteren Razzien werden 17 Menschen
       festgenommen.
       
   DIR Anschläge in der Türkei: Tote Soldaten und Zivilisten
       
       Bei drei Bombenanschlägen in den Kurdengebieten sterben mindestens zwölf
       Menschen, viele werden verletzt. Die Türkei macht die PKK verantwortlich.
       
   DIR Pro-AKP-Großdemo in Istanbul: Seine Anhänger sind wie im Rausch
       
       Es war die größte Demo, die Erdoğans Regime bislang in Szene setzte. Auch
       Oppositionelle kamen – nur die HDP war nicht eingeladen.
       
   DIR AKP und HDP nach dem Putschversuch: Eine verpasste Chance für die Türkei
       
       Nach dem Staatsstreich zeigte sich die HDP solidarisch. Doch die Regierung
       schließt sie weiterhin aus. Amnesty berichtet von Folterungen.
       
   DIR Beziehungen USA und Türkei: Am Tiefpunkt angelangt
       
       Ankara und Washington streiten sich über den Prediger Gülen. Der
       US-Geheimdienstdirektor sorgt sich um den Kampf gegen den IS.
       
   DIR Kommentar Innenpolitik Türkei: Ein bisschen Entspannung
       
       Einiges deutet darauf hin, dass Erdoğan innenpolitisch mehr den Konsens
       sucht. Zugleich arbeitet er weiter am Ausbau seiner Machtposition.
       
   DIR Türkei „säubert“ weiter: 3.000 Richter bald ohne Vermögen
       
       Erdoğan macht den Prediger Gülen verantwortlich für den Putschversuch. In
       Justiz, Medien, der Armee und der Geschäftswelt wird seither nach
       Verschwörern gesucht.
       
   DIR Nach dem Putschversuch in der Türkei: JournalistInnen festgenommen
       
       Es läuft eine Verhaftungswelle gegen JournalistInnen in der Türkei. Unter
       anderem wurden Nazli Ilicak und Bülent Mumay festgenommen.
       
   DIR Geplante Pro-Erdoğan-Demo in Köln: Von Jusos bis ProNRW alle dagegen
       
       Tausende AKP-Anhänger wollen am Sonntag auf die Straße gehen. Diverse
       Partei-Jugendorganisationen üben Kritik. Wolfgang Bosbach redet gar über
       ein Verbot.
       
   DIR Regeln für einen politischen Umsturz: Wie man richtig putscht
       
       Bitte nicht im Berufsverkehr! Staatsfernsehen reicht nicht! Ein
       Staatsstreich will gut vorbereitet sein. Zehn goldene Regeln, die zum
       Erfolg führen.
       
   DIR Türkischer Präsident im ARD-Interview: „Das Volk will die Todesstrafe“
       
       Bei der Diskussion um die Wiedereinführung der Todesstrafe beruft sich
       Erdogan auf den Willen der Bevölkerung. Der EU wirft er Wortbruch vor.
       
   DIR Doppelstaatler in der Türkei: Deutschland hilft Deutschen nicht
       
       Die Türkei betrachtet Deutschtürken vor allem als Türken. Das deutsche
       Konsulat in der Türkei bietet ihnen keine Hilfe an.
       
   DIR Ex-Hürriyet-Online-Chef über die Türkei: „Ich weiß nicht, wie es weitergeht“
       
       Bülent Mumay ist einer der 42 türkischen Journalisten, die als angebliche
       Gülen-Anhänger festgenommen werden sollen. Noch ist das nicht passiert.
       
   DIR Nach dem Putschversuch in der Türkei: Erste Journalisten festgenommen
       
       Die Ermittlungen nach dem gescheiterten Putschversuch weiten sich offenbar
       auf Journalisten aus. Medien berichten von Haftbefehlen gegen 42
       Beschuldigte.
       
   DIR Journalisten in der Türkei: Einschreiten gefordert
       
       Der türkische Oppositions-Journalist Can Dündar appelliert im ARD-Interview
       an die Kanzlerin, gegen Erdoğans „Säuberungen“ aktiv zu werden.
       
   DIR Türkeistämmige Community in Berlin: „Heute schlimmer als gestern“
       
       Wie reagiert die türkeistämmige Community auf den Putschversuch in der
       Türkei? Eine Momentaufnahme aus Berlin.