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       # taz.de -- Episodenfilm „Wiener Dog“: Seelandschaft mit Dackel
       
       > Todd Solondz erzählt Geschichten von Hunden und Menschen am Rand. Seinen
       > Humanismus transportiert er durch wunderbar eigensinnigen Humor.
       
   IMG Bild: Der Dackel, auf englisch: Dachshund, Sausage Dog oder eben Wiener Dog
       
       Einer der herrlichsten Dialoge aus Woody Allens „Manhattan“ (1979) findet
       zwischen Diane Keaton und Allen bei einem Spaziergang durch die Straßen
       New Yorks statt. Welchen Hund sie habe, fragt er, woraufhin Keaton
       belustigt antwortet: „The worst. It's a dachshund. You know, it's a penis
       substitute for me.“
       
       Der Dachshund oder Dackel oder Sausage Dog oder eben Wiener Dog ist
       tatsächlich eine komisch gezüchtete Wurst von einem Hund mit kurzen Beinen
       und einem absurd langen Körper, ein Penisersatz in der von Freuds gestriger
       Psychoanalyse geprägten Welt des frühen Woody Allen und nun das
       titelgebende Leitmotiv im neuen Film von Todd Solondz.
       
       Vier Episoden plus Pause sind es, durch die das Tier im Film dackelt und in
       deren Verlauf der Wiener Dog immer mehr an Handlungsrelevanz verliert, sich
       dabei aber gerade noch als lose Verbindung der sehr unterschiedlichen und
       autonom agierenden Geschichten seine Daseinsberechtigung bewahrt.
       
       Es beginnt mit dem kleinen Jungen Remi, dessen Eltern ihm einen Dackel aus
       dem Tierheim ins stilvoll ausgestattete Upperclass-Eigenheim holen. Ruhig,
       unaufgeregt und in konzentrierten Bildern erleben wir, wie Remi das
       Vokabular der Haustierhaltung jenseits der Niedlichkeit erlernen muss:
       stubenrein, sterilisieren, Platz machen, einschläfern, kremieren.
       
       ## Auf leisen Sohlen
       
       Solondz’ inszenatorische Eigenwilligkeit kommt hier zuerst auf leisen
       Sohlen angeschlichen und entfaltet ihren wunderbaren Humor durch filmische
       Details, Referenzen und köstliche Dialoge. Mal wird fast unbemerkt eine
       Einstellung aus der Perspektive des Dackels in den Fluss der Bilder
       integriert, dann wieder werden die Figuren in bühnenhaften Tableaux
       arrangiert, oder die Kamera zitiert in einer ironischen Vogelperspektive
       überdeutlich das Plakatmotiv zu Richard Linklaters „Boyhood“.
       
       Brillant die Szene, in der Julie Delpy als pädagogische Vollniete ihrem
       Sohn Remi abends im Bett die Notwendigkeit einer Sterilisation anhand der
       tragischen Geschichte ihres Hunds Croissant erklärt, der mehrfach vom
       verwilderten Streunerhund Mohammed (sic!) vergewaltigt wurde und aufgrund
       ihrer ungewollten Schwangerschaft Depressionen erlitt.
       
       Als „bitterböse“ wird dieser Humor dann gern in Pressetexten benannt, was
       aber verkennt, dass Solondz’ komische Gratwanderung jede Chance zum
       Schenkelklopfer bewusst ungenutzt lässt und sich bei aller Verschrobenheit
       nie gegen die Menschen am Rand richtet, denen er sich seit „Willkommen im
       Tollhaus“ (1995) widmet.
       
       In der zweiten, als Roadmovie angelegten Episode begegnen wir dann Greta
       Gerwig als Tierarzthelferin, die auf eine alte Jugendliebe trifft und sich
       spontan entschließt mit ihm und dem von ihr geretteten Dackel auf Reisen zu
       gehen. Gerwig gibt einmal mehr den liebenswerten, weltfremden Nerd und
       besitzt in den oft ruhigen Dialogszenen ein großartiges komisches Timing,
       das sie mit dem Rest des Cast teilt.
       
       ## Humorvoll, aber niemals zynisch
       
       Auch hier trifft das Leichte auf das vermeintlich Schwere, und Gerwigs
       naive Figur begegnet illegalen Einwanderern, Drogenabhängigen und Menschen
       mit Down-Syndrom. Man lacht über die absurde Weltfremdheit der
       Hauptfiguren, nicht über die „anderen“. Denn Todd Solondz ist kein Zyniker,
       sondern ein Humanist, der seine Menschenliebe mit einem wunderbar
       eigenartigen Humor kommuniziert, den er fein und versponnen und selbst in
       seinen plakativsten Momenten bewusst idiosynkratisch inszeniert, etwa wenn
       die Chance zum platten Fäkalwitz durch eine epische und beinahe
       majestätische Kamerafahrt über eine regelrechten Seenlandschaft von
       Hundedurchfall unterlaufen wird.
       
       Bevor wir am Ende einer bitteren Großmutter (Ellen Burstyn) begegnen und
       sich Solondz mit einer merkwürdigen Traumsequenz kurz im Tonfall verhaut,
       sind wir mit dem Filmprofessor und erfolglosen Drehbuchautor Dave Schmerz
       (sic!) endgültig in der Welt von Woody Allen angekommen, dem der Film, mal
       mehr, mal weniger, offensichtlich Tribut zollt: New York, Jazzmusik,
       neurotische jüdische Intellektuelle.
       
       Er habe einen einzigen Film gemacht und der sei beschissen, sagen seine
       Studierenden über Schmerz, in dessen Büro ein Filmplakat den Titel
       „Apricots!“ (Aprikosen) trägt. Das Plakat ist identisch mit dem von Woody
       Allens Slapstickkomödie „Bananas!“, nur dass sich hier aus der Frucht
       („bananas“ lässt sich auch mit „verrückt“ übersetzen) kein Wortspiel
       ergibt, was den Filmtitel umso bescheuerter wirken lässt.
       
       Während sich Woody Allen jedoch längst vom originellen filmischen Erzählen
       verabschiedet hat, schafft es Solondz mit „Wiener Dog“ im zunehmenden
       Einerlei der amerikanischen Indies zu überraschen. Auch hier gibt ein
       herrliches Hundezitat, nicht zuletzt von Solondz selbst: „Ich liebe Hunde
       und hätte selbst gern einen. Das Problem ist nur, dass ich nicht mit ihnen
       Gassi gehen will, sie nicht füttern oder sauber machen will und keine Lust
       habe, wegen ihnen zu Hause zu bleiben.“
       
       28 Jul 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Toby Ashraf
       
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