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       # taz.de -- Wirtschaftslage in der Türkei: Der Abzug der Investoren
       
       > Brücken, Autobahnen und Flughäfen: Lange sicherte der wirtschaftliche
       > Aufschwung Erdoğans Macht. Das könnte nun zum Problem werden.
       
   IMG Bild: Hierfür legte der Präsident persönlich den Grundstein: die Yavuz-Sultan-Selim-Brücke über dem Bosporus
       
       Istanbul taz | Recep Tayyip Erdoğan trug eine gestreifte Anzugjacke mit
       türkischer Flagge am Revers und einen Hammer in der Hand. Mit einer Gruppe
       Minister im Schlepptau schritt er auf ein kleines Loch im Boden zu. Dann
       legte er symbolisch den Grundstein für eine dritte Brücke über den
       Bosporus, nicht irgendeine Brücke, nein: achtspurig, 320 Meter hoch, 1.400
       Meter Spannweite, mindestens 3 Milliarden Euro schwer. Die
       Yavuz-Sultan-Selim-Brücke. Eine der größten Hängebrücken der Welt. Darunter
       macht es Erdoğan nicht.
       
       Besonders interessant an der Grundsteinlegung war der Termin. Denn einen
       Tag, bevor Erdoğan im Norden Istanbuls den Grundstein legte, begannen Ende
       Mai 2013 im Gezi-Park im Zentrum der Stadt Proteste gegen den Bau eines
       Einkaufszentrums. Wenig später wurden sie zu einer Massenbewegung gegen
       Erdoğan und seine AKP, einer nie dagewesene Protestwelle. Doch Erdoğan
       legte Grundsteine für neue Großprojekte.
       
       Die Proteste wurden mit einer bis dahin beispiellosen Polizeigewalt
       niedergeschlagen. Aber Erdoğan überstand diese Krise nicht allein durch
       Gewalt. Seine Popularität hat auch mit seinen Brücken, Autobahnen,
       Einkaufszentren und Flughäfen zu tun. Es sind Symbole des wirtschaftlichen
       Aufschwungs. Die vergangenen 14 Jahre, die Regierungszeit von Erdoğan und
       seiner AKP, brachte dem Land fast eine Verdreifachung des
       Pro-Kopf-Einkommens.
       
       Erdoğan verfolgte zwar eine klassische neoliberale Wirtschaftspolitik, er
       privatisierte Stromnetze, Gaskraftwerke, Kohlegruben, aber er hat dabei
       seine Wähler nicht vergessen. Viele haben auf den unzähligen Baustellen des
       Landes einen Job gefunden und oft noch eine billige Eigentumswohnung dazu.
       Erdoğan hat eine flächendeckende Krankenversicherung für alle eingeführt,
       und in seinen neuen religiösen Schulen und Universitäten Kindern aus armen
       Familien Aufstiegschancen geboten.
       
       Von seinen Anhängern wird er dafür fanatisch verehrt, die meisten Wähler
       sehen ihn ihm einfach den Garanten des wirtschaftlichen Aufschwungs. Der
       Präsident weiß das. Er versäumt keine Gelegenheit, zu erwähnen, welche
       Straße gerade wieder neu gebaut worden ist und welches Großprojekt
       demnächst in Angriff genommen wird.
       
       ## Großbaustelle Istanbul
       
       Der Putschversuch vor zwei Wochen hat daran scheinbar nichts geändert. Noch
       während auf den Bosporus-Brücken geschossen wurde, drehten sich die Kräne
       weiter. Die dritte Brücke, deren Bau vor drei Jahren begann, wird im August
       eröffnet. 2018 soll der neue Istanbuler Großflughafen (natürlich der größte
       der Welt) mit einem ersten Teilstück an den Start gehen. Istanbul ist
       weiterhin eine Großbaustelle. Erdoğan sagte Anfang dieser Woche im
       ARD-Interview: „Wirtschaftlich gesehen haben wir keine Probleme.“ Doch die
       Fassade bröckelt.
       
       Dem Land droht ein Exodus der ausländischen Investoren, deren Geld den
       Aufschwung der letzten 14 Jahre weitgehend finanzierte. Zahlreiche
       Großinvestoren hatten nach der Finanzkrise von 2008 ihr Geld in sogenannten
       Schwellenländer wie der Türkei, Indonesien, Brasilien oder Südafrika
       angelegt, weil sie dort bessere Renditen erzielen konnten als in den
       westlichen Industriestaaten. Seitdem sich die US-Wirtschaft erholt und die
       amerikanische Notenbank den Leitzins wieder angehoben hat, verlieren viele
       Schwellenländer das ausländische Kapital. Es fließt zurück ins Mutterland
       des Kapitalismus.
       
       ## Lücke in der Zahlungsbilanz
       
       Für die Türkei ist das ein großes Problem, weil das Land ein strukturelles
       Zahlungsbilanzdefizit hat: Das Land zahlt jedes Jahr für Importe mehr, als
       es durch seine Exporte verdient. Diese Differenz wird durch frisches
       Kapital ausgeglichen. Bleibt das aus, wächst die Lücke in der
       Zahlungsbilanz. Das führt zu einer zwangsweisen Verringerung der Importe.
       
       Die Türkei importiert aber nicht nur Güter wie Luxusautos, auf die man
       leicht verzichten kann. Sie muss fast ihre gesamten Energieträger, Öl und
       Gas, aus Russland oder dem Iran importieren. Reduziert sie aus Geldmangel
       diese Importe, kann die Wirtschaft nicht mehr wachsen. Dass die türkische
       Wirtschaft nicht längst kollabiert ist, verdankt sie ausschließlich dem
       Niedergang des Ölpreises.
       
       ## Erdoğan als größter Unsicherheitsfaktor
       
       Zur Änderung des internationalen Wirtschaftsklimas kommen hausgemachte
       Probleme. Erdoğan hat mit seiner innen- und außenpolitischen
       Konfrontationspolitik, die weniger wirtschaftlicher Rationalität als
       vielmehr islamisch-osmanischen Großmachtträumen folgt, sein Image als
       Wirtschaftsmann verspielt und ist selbst zum größten Unsicherheitsfaktor
       geworden.
       
       Ständige Neuwahlen, Bürgerkriege im Osten der Türkei und im benachbarten
       Syrien, Terroranschläge und jetzt auch noch ein Putschversuch mit
       anschließenden „Säuberungsaktionen“ in allen gesellschaftlichen Bereichen
       sind, vorsichtig formuliert, keine guten Rahmenbedingungen für Investoren.
       Deutlich wird das auch im Tourismusbereich: Im Juni besuchten nach Angaben
       des Tourismusministeriums 2,44 Millionen ausländische Touristen das Land –
       41 Prozent weniger als im Vorjahr.
       
       ## Ratings auf Ramschniveau
       
       Zwei der größten internationalen Ratingagenturen, Standard & Poor’s und
       Fitch, haben bereits Konsequenzen daraus gezogen und die Ratings für
       türkische Staatsanleihen auf Ramschniveau reduziert. Erdoğan und der Chef
       der türkischen Zentralbank, Murat Cetinkaya, haben das als ungerecht
       verurteilt. Cetinkaya sagte, es sei zu früh, um jetzt schon die
       ökonomischen Folgen des Putschversuchs absehen zu können, und Erdoğan
       sprach gar von einem „türkeifeindlichen“ Akt.
       
       Doch auch wenn sich ausländische Großinvestoren wie Vodafon oder Siemens
       nun in Zeitungsanzeigen zur Türkei bekennen: Die Spekulanten verkaufen ihre
       türkischen Aktien in großem Stil, die Börse stürzt ab, und die Zentralbank
       muss die Türkische Lira mit Stützungskäufen stabilisieren. Die Zentralbank
       hat jetzt die Zinsen gesenkt, um den inländischen Konsum anzukurbeln. Das
       Problem: Damit verprellt sie weiter ausländische Investoren.
       
       Die Wirtschaft, bislang Basis für Erdoğans Erfolg, entwickelt sich damit
       immer mehr zu seiner Achillesferse. Um Investoren zurückzuholen, sagen
       Insider aus dem Umfeld des Wirtschaftsministeriums, müsste Erdoğan
       innenpolitisch für Ausgleich sorgen, die Rechtssicherheit wiederherstellen
       und zu außenpolitischer Kooperation zurückkehren.
       
       Doch er tut das Gegenteil. Innenpolitisch wird gesäubert, und
       außenpolitisch verschärft Erdoğan den Ton gegenüber dem Westen. Stattdessen
       hofiert er Saudi-Arabien und die Golfstaaten, um dort Kapital zu bekommen.
       Doch damit wird er die wirtschaftlichen Probleme in der Türkei nicht lösen
       können.
       
       31 Jul 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jürgen Gottschlich
       
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