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       # taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Es ging nicht um Europa
       
       > Warum hat die Hälfte der BritInnen für den Austritt gestimmt? Die
       > Mischung aus Sparpolitik und Migration war toxisch, Ressentiments blühen.
       
   IMG Bild: Fundstück in den Straßen Londons
       
       Die Frau am Fahrkartenschalter des kleinen Bahnhofs in Wales hatte es nicht
       eilig. Sie unterhielt sich angeregt mit einem Kollegen. Der sagte: „Man
       kann kein rosa Mädchenspielzeug mehr kaufen, das muss jetzt alles grau
       sein.“ Sie antwortete: „Das Wort ‚golliwog‘ darf man auch nicht mehr
       sagen.“ Golliwog bedeutet „Negerpuppe“. Beide Bahnangestellten befanden
       sich in Hörweite der Kunden, und beide trugen die Uniform ihres
       Unternehmens.
       
       Während der Brexit-Kampagne konnte man es überall hören, wenn man darauf
       achtete: Beiläufige rassistische Bemerkungen, kleine Revolten gegen die
       Political Correctness. Da ich selbst aus einer kleinen Arbeiterstadt
       stamme, wusste ich, was sie bedeuteten: Da begann eine Pseudorevolte der
       Unterklasse – gegen das Wertesystem einer progressiven gesellschaftlichen
       Elite und deren langfristiges Projekt: die Mitgliedschaft in der EU.
       
       In dem mitgehörten Gespräch und in Millionen anderen kam das Wort „Europa“
       nicht unbedingt vor. Das Referendum war die Gelegenheit, es schließlich
       laut zu sagen: Wir haben die Schnauze voll – von der Trostlosigkeit, von
       heruntergekommenen Geschäftsstraßen ohne Geschäfte, von Minijobs mit
       Minilöhnen, von den Lügen und der Angstmache der politischen Klasse. Am
       Abend des 23. Juni haben 56 Prozent der Leute in diesem walisischen
       Städtchen für den Austritt aus der EU gestimmt.
       
       Man konnte es kommen sehen. In der alten Bergbauregion, die der Labour
       Party seit ihrer Gründung 1906 die Treue gehalten hatte, schaffte die
       United Kingdom Independence Party (Ukip) bei den Kommunalwahlen im Mai
       dieses Jahres den Durchbruch. Zwei Jahre zuvor war die Ukip bei der Wahl
       zum Europäischen Parlament in ganz Großbritannien auf 26 Prozent gekommen.
       Den stärksten Zulauf hatte sie in solchen Kleinstädten: grau in grau,
       Niedriglohnjobs und gerade so viele ausländische Migranten, dass alle
       dachten, was die Ökonomen bestätigten: dass die Einwanderung aus Osteuropa
       die Niedriglöhne weiter drückt.
       
       Diese seit Langem präsente Fremdenfeindlichkeit in den heruntergekommenen
       Labour-Hochburgen, verbunden mit dem traditionellen Nationalismus der
       Konservativen und der Vorstädte und ländlichen Regionen, ist die
       Vorgeschichte des Brexit. Auf allen Verteilungsgrafiken kann man es sehen:
       Die englischen Großstädte und ganz Schottland stimmten „Remain“. Die
       verarmten kleinen und mittleren Städte in England und Wales stimmten
       „Leave“. So brachte eine seit Langem brodelnde Revolte ein historisches
       Ereignis hervor. Warum es so kam, hat drei wesentliche Gründe.
       
       ## Neoliberalismus am Ende
       
       Grund eins: Der Neoliberalismus ist am Ende. Großbritannien war sein
       Versuchskaninchen. In den 1980er Jahren setzte Margaret Thatcher
       prozyklische Maßnahmen ein, um eine Rezession im industriellen und sozialen
       Kollaps enden zu lassen. Ziel war es, den Zusammenhalt und die
       gesellschaftliche Macht der Labour Party zu brechen und damit, auf
       Jahrzehnte hinaus, ihre Macht, höhere Löhne durchzusetzen. Zwischen 1990
       und 2008 wurde die Lücke zwischen stagnierenden Löhnen und wirtschaftlichem
       Wachstum – wie in allen Industrieländern – durch Kredite überbrückt.
       
       In der Ära Tony Blair und „New Labour“ herrschte die Illusion, der Reichtum
       würde irgendwie von den kapitalstarken globalisierten städtischen Zentren
       nach unten durchsickern. Als der Trickle-down-Effekt sich nicht einstellte,
       erhöhte Blairs Finanzminister Gordon Brown die Sozialausgaben zugunsten der
       arbeitenden Bevölkerung. Als dann noch die öffentlichen Dienstleistungen –
       bis hin zur Müllabfuhr – en gros privatisiert wurden, war die Illusion
       perfekt.
       
       Kurz vor dem Crash von 2008 konnte man das Ergebnis in einer walisischen
       Kleinstadt besichtigen: eine ihrer produzierenden Privatunternehmen
       beraubte Wirtschaft, keine Jobs, Kriminalität und Armutskrankheiten auf dem
       Vormarsch, aber mit einem blühenden privaten Dienstleistungssektor, der aus
       Steuergeldern finanziert und mit Billigarbeitskräften betrieben wurde. Eine
       Stadt, die sich nur über Wasser hielt, weil der Staat Löhne aufstockte und
       Kindergärten, psychiatrische Dienste und die Polizei finanzierte.
       
       Es folgten der Crash, eine Tory-Regierung und die Sparpolitik. Die
       Austerität brachte eine Kürzung der Sozialleistungen und der Gehälter im
       öffentlichen Sektor; die Kreditkrise erdrückte die kleinen Läden, mit denen
       die Leute aufgewachsen waren und die nun leer standen oder den
       allgegenwärtigen Symbolen verarmter Städte weichen mussten: Poundland, wo
       alles nur ein Pfund kostet; Cash Converters, wo man die letzten Wertsachen
       für ein bisschen Bares verpfänden kann; und Citizens Advice Bureau, wo man
       sich für eine Gratisberatung bei Schulden, drohender Räumung oder
       Selbstmordgedanken anstellen kann.
       
       Es ist nicht überall so. London, Manchester, Bristol und Leeds sind zu
       globalisierten, auf den ersten Blick auch prosperierenden Zentren geworden.
       Aber auch in den großen Städten entstand ganz unten ein ökonomisches
       Modell, das so funktioniert: Die Frau arbeitet für einen miesen Lohn bei
       Zara und kauft ihr Mittagssandwich bei Subway; der Mann arbeitet für einen
       miesen Lohn bei Subway und kauft sein Hemd bei Zara. Für beide ist das
       Problem weniger das Einkommen als die Miete. Angeheizt durch 375
       Milliarden Pfund, die das Quantitative-Easing-Programm der Bank of
       England in die Wirtschaft gepumpt hat, sind die Immobilienpreise und Mieten
       so in die Höhe geschossen, dass viele junge Leute, die einen Job in London
       haben, zu zweit in einem Zimmer schlafen. Die ehemalige Studenten-WG, in
       der jede/r ein Zimmer bewohnt, ist heute eine Anwalts-WG.
       
       Die Krise des Neoliberalismus zerstörte die Perspektiven der jungen Leute
       und trieb sie in die Verschuldung. Aber das hat mit dem Brexit-Ergebnis
       nicht direkt zu tun. Die Revolte gegen die EU fand da statt, wo die
       palliativen Angebote des Neoliberalismus – die üppige Glitzerwelt der
       multikulturellen Metropolen – gar nicht existieren.
       
       ## Toxische Mischung aus Einwanderung und Sparpolitik
       
       Der zweite Grund ist die Migrantenfrage. Als die EU 2004 acht
       osteuropäische Staaten aufnahm, für die das Prinzip der
       Arbeitnehmerfreizügigkeit gelten sollte, verzichtete die Regierung Blair –
       als einzige neben Irland und Schweden – auf die Möglichkeit, dieses Recht
       für eine Übergangszeit einzuschränken oder ganz zu suspendieren. [1][Ein
       Bericht des Innenministeriums schätzte, dass etwa 13 000 Migranten kommen
       würden]. Heute leben in Großbritannien 3 Millionen Menschen aus anderen
       EU-Ländern, 2 Millionen haben einen Job. Zusammen mit den Zuwanderern aus
       Nicht-EU-Ländern stellen sie fast 17 Prozent der britischen Beschäftigten.
       
       Viele arbeiten im öffentlichen Dienst – davon 55 000 aus der EU Stammende
       im staatlichen Gesundheitssystem NHS –, die Mehrheit aber ist im
       niedrigsten Lohnsegment des Privatsektors beschäftigt. Die Belegschaften
       von Abfüll- und Verpackungsfabriken bestehen zu 43 Prozent aus Migranten,
       in der Fertigungsindustrie sind es 33 Prozent. Ein Getränkehersteller in
       London hat seine ganze Belegschaft in Litauen angeheuert.
       
       Die politische Klasse hat die sozialen Auswirkungen der hohen Zuwanderung
       theoretisch begriffen, aber nie selbst gespürt. Der Mythos, wonach
       einheimische Arbeiter für diese Jobs „zu dumm“ oder sowieso „arbeitsscheu“
       seien, passte zum neoliberalen Diskurs. Die Vorstellung, das Problem seien
       eher die jämmerlichen Löhne oder die Sonderabgaben für Beschäftigte, die
       die Reallöhne unter das Niveau der Mindestlöhne drücken, passte weniger.
       Kein Wort auch über den üblen Brauch, ganze Belegschaften aus Osteuropa
       anzuheuern, ohne lokalen Arbeitskräfte in Betracht zu ziehen.
       
       Die plötzliche Ausbreitung von polnischen Läden und portugiesischen Cafés
       in britischen Kleinstädten hielten die Großstadteliten vielleicht für
       etwas, das dem eintönigen Alltag der Bewohner etwas magischen Glitzerstaub
       der Globalisierung hinzufügte. Als journalistischer Beobachter nahm ich in
       diesen Städten aber vor allem eines wahr: Ressentiment.
       
       Endgültig toxisch wurde diese Mischung mit der Sparpolitik. Wenn du
       Kinderarzt bist und jede zweite Mutter in deiner Praxis Portugiesin ist,
       liegt es nahe, eine Portugiesisch sprechende Arzthelferin einzustellen.
       Wenn Personalabbau die öffentlichen Dienstleistungen einschränkt, drängt
       sich die Frage auf, ob der Stress geringer würde, wenn es weniger
       Immigranten gäbe. Wer so fragte, wurde als fremdenfeindlich abgestempelt.
       
       In seiner Referendumskampagne versprach Cameron, man werde die Einwanderung
       auf „Zehntausende“ senken. 2015 kletterte die Nettozahl auf 333 000. Die
       [2][Hälfte der Einwanderer kam aus der EU, die andere Hälfte über ein
       Zulassungssystem], das auf die Bedürfnisse der Unternehmen zugeschnitten
       ist.
       
       Die Brexit-Bewegung machte die Zahl zur Ikone. Sie stand für die Aussicht,
       dass künftig alle drei Jahre 1 Million EU-Einwanderer ankommen könnten,
       dass der Lohn für die schlechtesten Jobs nicht steigen und dass nicht
       einmal die konservative Regierung etwas dagegen tun würde. Als diese
       aufgefordert wurde, kleinste Maßnahmen zur Entmutigung von EU-Migranten zu
       beschließen, war die Antwort nein. Cameron kam es nicht mal in den Sinn,
       bei seinen Brüsseler Verhandlungen im Februar 2016 substanzielle Änderungen
       bei den Freizügigkeitsregeln zu verlangen. So wurde der Boden bereitet für
       eine Kampagne, in der Themen wie wirtschaftliche Entwurzelung und Armut nur
       im Hinblick auf die Migrantenfrage eine Rolle spielten.
       
       Die Boulevardblätter verballerten tagtäglich ihre bösartige, kaum verhüllte
       rassistische Propaganda. In den Großstädten, wo die Jungen ihre
       Informationen von BuzzFeed beziehen und die Alten von öffentlichen
       kontrollierten Sendern, bekamen nur wenige mit, wie giftig die Revolte
       gegen die Einwanderung geworden war.
       
       ## Verlorener Kampf der Narrative
       
       Der dritte Grund: Der Kampf der Narrative ging verloren. Cameron musste
       gleich zu Beginn der Kampagne die Spaltung seiner Partei hinnehmen, dafür
       nutzte er die Regierungsmaschinerie, um die Remain-Kampagne mit
       Statistiken, Berichten und Impulsen zu versorgen.
       
       Labour hatte zwar eine offizielle Linie – für Remain –, aber eine Führung,
       in der linke Europaskeptiker dominierten. Die schluckten zwar ihre
       Prinzipien herunter und traten für den Verbleib in der EU ein, wollten
       aber nicht bei der parteiübergreifenden Kampagne „Better In“ mitmachen,
       sondern zogen ihren eigenen „Remain and Reform“-Wahlkampf auf.
       
       Inzwischen konzentrierte sich die „Leave“-Kampagne der ultrarechten
       Europaskeptiker von Ukip und des rechten Flügels der Konservativen
       skrupellos auf das Thema Migranten.
       
       Eine Zeit lang war das Remain-Lager im Aufwind. Hunderte Unternehmer,
       Wissenschaftler und öffentliche Intellektuelle erklärten sich für die EU
       und warnten vor einem ökonomischen Chaos im Fall des Brexit. Aber drei
       Wochen vor der Abstimmung verlor die Remain-Kampagne – von ihren Gegnern
       als „Operation Angst“ bezeichnet – allen Schwung. Nachdem Finanzminister
       Osborne für den Fall des Brexit einen Kamikazesparhaushalt versprochen
       hatte, Donald Tusk vor dem Zusammenbruch der westlichen Zivilisation
       gewarnt hatte und auch noch Obama an- und wieder abgereist war, war die
       Munition verschossen. Die Remain-Kampagne hatte „den Hai hinter sich“, wie
       man in Hollywood sagt, ihren Zenit überschritten.
       
       Als Labour-Aktivisten in den letzten drei Wochen vor dem 23. Juni ans
       Klinkenputzen gingen, hatten sie alle das gleiche, schreckliche Erlebnis:
       Nicht nur Ukip-Anhänger und Rassisten sagten ihnen „Fuck off“ ins Gesicht,
       sondern auch viele Labour-Wähler. Und immer ging es um Migration. Die
       britische Provinz übermittelte der städtischen Elite die Botschaft, dass
       sie das neoliberale Elend satthatte.
       
       Als Labour in den letzten Wochen der Kampagne andeutete, man könne die
       EU-Regeln zur Freizügigkeit neu aushandeln, hörte kaum noch jemand hin. Und
       der Labour-Chef ließ sich nicht dazu zu bewegen, etwas zu versprechen.
       Außerdem stellte EU-Kommissionspräsident Juncker klar, so etwas könne es
       nicht geben.
       
       Obwohl die Anti-Migranten-Rhetorik nach der Ermordung von Jo Cox
       vorübergehend verstummt war, blieb die Botschaft deutlich: Leave Europe
       bedeutet, die Kontrolle über die Migration zu gewinnen; Remain dagegen
       unbegrenzte Einwanderung, sinkende Löhne und kulturelle Spannungen.
       
       Die politische Elite, einschließlich der Labour-Linken, ging davon aus,
       dass mit dieser Brexit-Botschaft keine 45 Prozent der Wähler zu gewinnen
       waren. Am Ende waren es 52 Prozent, auch weil [3][33 Prozent der
       asiatischen und 27 Prozent der schwarzen Wähler für den EU-Austritt
       gestimmt hatten].
       
       ## Blamable Wahlbeteiligung bei Remainern
       
       Bei den jungen Wählern war die Unterstützung für Europa mit 75 Prozent zwar
       sehr stark, die Beteiligung aber blamabel niedrig: Während 75 Prozent der
       älteren Wähler ihre Stimme abgaben, war es bei den unter 24-Jährigen nicht
       einmal die Hälfte.
       
       Letzten Endes war das Gesamtergebnis eine Illustration des Begriffs
       „ideologische Hegemonie“. In den letzten Wochen der Kampagne – als 24
       Prozent der Wähler noch unentschieden waren – reiste ich viel herum und
       erlebte vielerorts, wie Leute aus der Arbeiterklasse selbstbewusst und
       intelligent für den Brexit plädierten. Mein Eindruck ist, dass die
       entscheidenden Prozente der Leave-Stimmen von links orientierten Arbeitern
       oder Angestellten kamen, die sich schließlich ihrer Umgebung anschlossen.
       
       Nach diesem Schock für das bürgerliche Establishment basteln die Tories nun
       verzweifelt an einer kohärenten Strategie. Wahrscheinlich werden sie sich
       darauf einigen, innerhalb des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) zu
       verbleiben, also in der gemeinsamen Freihandelszone von EU und
       Europäischer Freihandelsassoziation (Efta). So müsste man die
       Handelsbeziehungen mit der EU nicht völlig neu aushandeln. Allerdings
       müsste man damit alle künftigen Regeländerungen der EU übernehmen, ohne
       darüber mitreden zu können. Und man müsste auch das Prinzip der
       Arbeitnehmerfreizügigkeit akzeptieren – wenn auch mit dem Recht, es im
       Notfall zeitweise außer Kraft zu setzen.
       
       Die Leave-Kampagne lehnte die EWR-Option wegen des Freizügigkeitsprinzips
       ab. Aber selbst wenn Großbritannien im EWR bleiben sollte, wäre die
       zentrale Voraussetzung der Politik der linken Mitte seit den frühen 1970er
       Jahren – EU-Mitgliedschaft, Sozialcharta, eine immer engere Union – nicht
       mehr gegeben. Die Labour-Partei muss sich entgegen dieser neuen Realität
       definieren – und es ist eine ungewisse Realität. Keine relevante Fraktion
       der Finanzwelt will ökonomischen Nationalismus. Die Leave-Kräfte der Eliten
       reden sich sogar ein, Großbritannien könnte zu einer ultraglobalen
       Wirtschaftsmacht werden – eine Art großes Singapur, das zwischen den großen
       Handelsblöcken manövriert.
       
       ## UK wird auseinanderbrechen
       
       Das wird schiefgehen. Und wahrscheinlich wird sogar der Brexit selbst
       schiefgehen. Er wird nicht weniger Inflation und die versprochenen höheren
       Löhne bringen, das Finanzkapital wird offshore gehen, und die paar
       Investitionen in die britische Industrie werden in die europäischen
       Kerngebiete zurückfließen. Das alles wird die langfristigen
       Wachstumsperspektiven drücken. Damit könnten auch die Verschuldung und die
       Handelsbilanzdefizite so bedrohlich anwachsen, dass sie eine veritable
       Kapitalflucht auslösen.
       
       Zusätzlich droht auch die politische Lähmung. Beide traditionelle
       politische Lager – der liberale Konservatismus und Labour – waren
       historisch auf das Projekt EU fokussiert. Für beide lautet die
       entscheidende Frage, was passiert, wenn der Brexit nicht bringt, was seine
       Anhänger erhoffen. Die nationalistischen und fremdenfeindlichen Kräfte
       sind durch ihren Sieg ja keinesfalls besänftigt. Seit dem 23. Juni häufen
       sich die Übergriffe gegen die Lieblingsfeindgruppen der Rechten – Polen und
       Muslime. Doch das ist nur ein Vorgeschmack auf das, was wir erleben werden,
       wenn die Wirtschaft in die Rezession abrutscht.
       
       Mittlerweile gibt es eine gewisse Hysterie in der Mittelschicht: Petitionen
       für ein zweites Referendum; Appelle an das Parlament, das Ergebnis zu
       sabotieren; Hasstiraden in den sozialen Medien gegen die „ungebildete“
       weiße Arbeiterschicht; Hass auf die alte Generation bei den Jungen, von der
       sich die Hälfte nicht die Mühe machte, abzustimmen, obwohl das Ergebnis
       tiefgreifende Auswirkungen auf ihr weiteres Leben haben wird.
       
       Derweil ist Schottland auf dem Rückzug aus dem Vereinigten Königreich. Was
       bislang eine wahrscheinliche Perspektive innerhalb der nächsten zehn Jahre
       war, ist jetzt eine sichere Entwicklung von drei Jahren. Es wird ein
       zweites schottisches Referendum geben; und dann werden große Teile der
       Labour-Anhänger, die 2014 für Großbritannien gestimmt haben, die
       Unabhängigkeit wählen, damit Schottland in der EU bleibt. Das Vereinigte
       Königreich wird auseinanderbrechen.
       
       Wird es in nächster Zeit zu Wahlen kommen? Es ist keinesfalls sicher, dass
       der künftige Parteichef der Konservativen das Unterhaus auflösen wird. Aber
       es wird schwer sein, mit der EU ohne Wählerauftrag zu verhandeln. Wenn es
       zu Wahlen kommt, hat auch Labour ein Problem: Der neu aufgeflammte Streit
       der alten Blair-Fraktion mit der Gruppe um den Vorsitzenden Corbyn zeugt
       von der selbstzerstörerischen Kurzsichtigkeit einer ganzen politischen
       Generation. Angesichts der größten politischen Katastrophe ihres Lebens –
       und der Chance, das Land aus dieser Katastrophe herauszuführen – fällt den
       Labour-Abgeordneten nichts anderes ein, als sich gegenseitig zu bekämpfen.
       
       Wenn es zu einer Wahl kommt, sollte Labour ein Wahlbündnis mit der
       schottischen SNP, den walisischen Nationalisten der Plaid-Cymru-Partei und
       den Grünen eingehen, um zu verhindern, dass die Ukip eine starke
       parlamentarische Bastion aufbaut und dass erneut eine konservative
       Regierung zustande kommt.
       
       Der Preis für ein solches Wahlbündnis wird eine Verfassungsreform sein
       müssen: die Einführung des Verhältniswahlrechts und ein Plan, der es
       Schottland gestattet, das Vereinigte Königreich zu verlassen, ohne
       ökonomisch erpresst zu werden, wie es die konservative Regierung und die
       Bank of England 2014 angedroht hatten. Diese Drohung wirkt nunmehr – unter
       Brexit-Bedingungen – genau umgekehrt: Wenn Schottland unabhängig wird, kann
       es als Außenposten der EU auf der britischen Hauptinsel mit ausländischen
       Investitionen sowohl im Finanzsektor als auch in der Industrie rechnen.
       
       Derzeit fühlt es sich an, als sei das gesamte politische System und die
       Gesellschaft Großbritanniens zweigeteilt: Symbolisiert wird die eine Hälfte
       vom „white van man“, dem Handwerker mit geringem Bildungsgrad, der die
       Nationalfahne am Fenster seines Lieferwagens hängen hat; die andere
       Hälfte vom bärtigen Hipster, dessen Trips zur Vernissage nach Berlin und
       zum Feiern nach Ibiza künftig infrage stehen und der seine kulturelle
       Überlegenheit als progressiver Mensch und Antirassist, von der er stets
       ausgegangen ist, jetzt bedroht sieht.
       
       Für Labour bestand das strategische Problem bisher darin, diese beiden
       soziologischen Stämme, verteilt auf vier Nationalitäten, irgendwie
       zusammenzuhalten. Heute geht es darum, wie man die Werte von sozialer
       Gerechtigkeit und Demokratie einer Bevölkerung nahebringen kann, die sich
       in großer Ungewissheit bewegt.
       
       ## Schritt ins Dunkle
       
       Großbritannien hat sich schon einmal aus der Weltordnung verabschiedet –
       1931, als es den Goldstandard aufgab und den Zusammenbruch der eigenen
       Wirtschaft herbeiführte. Aber damals war die britische Gesellschaft noch
       vereint, und der Konflikt zwischen rechts und links, zwischen Arbeiter und
       Boss wurde innerhalb einer gemeinsamen kulturellen Tradition ausgetragen
       und dadurch begrenzt.
       
       Aber heute steht die ganze Gesellschaft vor einem Schritt ins Dunkle. Einen
       ökonomischen Entwurf für ein Großbritannien jenseits der EU gibt es nicht –
       wohl aber die hohe Wahrscheinlichkeit einer Rezession; sozial ist das Land
       so im tiefsten Innern gespalten, dass es sich wie ein Kulturkampf anfühlt;
       und mit Schottland auf dem Absprung geht das Vereinigte Königreich seiner
       Auflösung entgegen.
       
       Das älteste kapitalistische Gemeinwesen der Welt wird in zwei Teile
       zerbrechen. Sein kulturelles Narrativ ist bereits zersplittert. Das ist das
       Werk von David Cameron – unter Mithilfe einer Labour-Partei, die Krieg mit
       sich selbst führt. Und einer jungen Generation, die sich so weit aus der
       Politik verabschiedet hat, dass sie in diesem historischen Augenblick zur
       Hälfte auf ihr Mitspracherecht verzichtet hat.
       
       Aus dem Englischen von Niels Kadritzke
       
       16 Jul 2016
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://news.bbc.co.uk/1/hi/uk_politics/2967318.stm.
   DIR [2] http://visual.ons.gov.uk/uk-perspectives-2016-international-migration-to-and-from-the-uk/
   DIR [3] http://lordashcroftpolls.com/wp-content/uploads/2016/06/How-the-UK-voted-Full-tables-1.pdf
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Paul Mason
       
       ## TAGS
       
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       Kirsty MacAlpine sieht ein Referendum über Schottlands Unabhängigkeit nur
       als letzten Schritt. Das Land solle sowohl in der EU als auch in
       Großbritannien bleiben.
       
   DIR Kampfabstimmung in der Labour-Partei: Dem Alten noch immer treu
       
       Londons Bezirk Islington steht für die soziale Spaltung Großbritanniens.
       Wer die Arbeiterpartei künftig führt, entscheidet sich auch hier.
       
   DIR Politikwissenschaftler über den Euro: „Wir drehen der Rechten den Saft ab“
       
       Eine Initiative von Ökonomen und Politikern fordert den Lexit – einen
       linken Ausstieg aus dem Euro. Professor Andreas Nölke sagt, warum.
       
   DIR EU-Ratspräsidentschaft 2017: Großbritannien verzichtet
       
       Die britische Regierung werde im nächsten Jahr sehr mit den
       Austrittsverhandlungen beschäftigt sein. Einspringen wird wahrscheinlich
       Belgien.
       
   DIR Atom-U-Boot-Flotte Großbritanniens: Parlament stimmt für Erneuerung
       
       Eine große Mehrheit der Abgeordneten hat für die Modernisierung der mit
       Atomwaffen bestückten U-Boote votiert. Die Labour Party zeigte sich tief
       gespalten.
       
   DIR Polen und das Projekt Europa: Als alle miteinander redeten
       
       Wo ist er hin, der Aufbruch der Reformperiode? Was für eine große Chance
       das europäische Projekt ist oder war, lässt sich gut an Polen studieren.
       
   DIR Großbritannien bereitet Brexit vor: Keine Garantie für Bleiberecht
       
       Die Zuwanderung soll eingeschränkt werden. Der zuständige Minister hofft
       auf einen Vertrag mit der EU. Neue Handelsabkommen werden vorbereitet.
       
   DIR Kommentar Theresa Mays Regierung: Neuanfang mit hohem Anspruch
       
       Theresa Mays Kabinett ist eine Brexit-Regierung – eine, die nicht mit sich
       spaßen lassen wird. Dennoch verdient der Start Anerkennung.
       
   DIR David Cameron nach dem Brexit: Mit Erfolg zurückgetreten
       
       Camerons politische Bilanz ist vielschichtig. In seinen sechs Jahren als
       Premier hat Großbritannien eine Reihe progressiver Politikziele erreicht.
       
   DIR Kommentar Defizitstrafen der EU: Ein Fehler im System
       
       Wolfgang Schäuble kann sich auf die Schulter klopfen, Spanien und Portugal
       werden abgestraft. Europas Probleme löst das aber nicht.
       
   DIR Die Rädelsführer der Brexitkampagne: Wenn Journalisten Politik spielen
       
       Boris Johnson und Michael Gove haben vor ihrem politischen Engagement für
       die Medien gearbeitet. Dort legten sie den Grundstein für den Brexit.
       
   DIR Brexit und Brüssel: Das Pokerspiel kann beginnen
       
       Die EU hofft, dass der Amtsantritt von Theresa May als Regierungschefin die
       Verhandlungen über einen Austritt beschleunigt. Das ist keineswegs klar.
       
   DIR Paul Mason über das EU-Referendum: „Nur ein linker Brexit macht Sinn“
       
       Großbritannien sollte die EU verlassen – aber nur im Fall einer
       Labour-Regierung, meint der Kapitalismuskritiker Paul Mason. Unter den
       Tories droht der soziale Kahlschlag.
       
   DIR Paul Masons „Postkapitalismus“: Verleiht eure Rasenmäher
       
       Die Linke ist gescheitert, die Abschaffung des Kapitalismus geht dennoch
       voran, sagt Paul Mason. Er setzt auf Digitalisierung und Tauschsysteme.
       
   DIR Sachbuch über Postkapitalismus: Die Abschaffung des Neoliberalismus
       
       Der englische Journalist Paul Mason hat eine Vision von einer gerechten
       Gesellschaft: Er will den Kapitalismus mit seinen eigenen Waffen schlagen.