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       # taz.de -- Wahl in Mecklenburg-Vorpommern: Nimm mich mit, Kapitän, auf die Reise
       
       > Es ist vertrackt: SPD-Ministerpräsident Erwin Sellering ist beliebt –
       > aber seine Partei rutscht in Umfragen in den Keller. Am 4. September wird
       > gewählt.
       
   IMG Bild: Hafenrundfahrt und Wahlkampfhilfe: Sigmar Gabriel und Erwin Sellering am Montag in Rostock
       
       Auf der Internetseite des Landesverbandes der SPD Mecklenburg-Vorpommern
       läuft ein Countdown zur Wahl am 4. September: Noch 51 Tage und 12 Stunden,
       heißt es da. Währenddessen steht Erwin Sellering, Ministerpräsident und
       Spitzenkandidat der SPD, zwischen Shanty-Sängern mit roten Halstüchern
       unter Deck des Motorschiffs „Ostseebad Wustrow“ und singt „Nimm mich mit,
       Kapitän, auf die Reise“.
       
       Der SPD-Ortsverein Unteres Recknitztal, 20 Mitglieder, hat das Schiff
       gechartert und zum Wahlkampfauftakt etwa hundert Ehrenamtliche und
       Verantwortungsträger aus der Region eingeladen. Und natürlich Erwin
       Sellering. Ein Mann mit Vollbart sagt halblaut: „Da bindet der sich drei
       Stunden ans Bein und fährt hier mit.“
       
       Die letzte Umfrage von Anfang Juli sieht die SPD nur bei 22, ihren
       Koalitionspartner CDU bei 25 Prozent. Sellering ist jedoch der beliebteste
       Politiker im Land, 57 Prozent der Menschen hier würden ihn direkt ins Amt
       wählen, wenn sie könnten. Wenn die SPD bei dieser Wahl eine Chance haben
       will, muss sie die Amtsbonus-Karte ausreizen. Eine Stunde nach dem Ablegen
       wirkt es, als hätte der Ministerpräsident auf einem Schiff mit gut
       gelaunten Vorpommern die beste Laune von allen.
       
       Dabei ist es 20 Uhr und Erwin Sellering, 66 Jahre alt, hat an diesem Tag
       bereits Rentiere im Rostocker Zoo getauft, eine Werft in Greifswald
       besucht, einen Sommerempfang in Stralsund eröffnet und ist dabei im
       Flächenland Mecklenburg-Vorpommern etwa 300 Kilometer mit dem Auto
       gefahren. Wem auch immer er die Hand geschüttelt hat, er hat ihr oder ihm
       auch in die Augen gesehen, eine Hand kurz auf die Schultern gelegt. Er hat
       ein halbes Dutzend Interviews gegeben, hatte Beratungen, hat eine Rede und
       eine Ansprache gehalten.
       
       ## „Der sitzt mitten unter uns“
       
       Nun rückt er von ganz vorne nach ganz hinten von Tisch zu Tisch. Und fragt
       Anneliese Sahr, 83 Jahre, ehrenamtlich aktiv beim Verein deutscher
       Kriegsgräberfürsorge: „Warum sind Sie denn hier?“ Er hört zu, fragt nach
       der Meinung seines Gegenüber. Und sagt: „Das ist interessant. Da muss ich
       mal drüber nachdenken:“
       
       „Der hat sich Zeit genommen, der sitzt hier mitten unter uns, der sagt, wir
       sollen stolz sein auf das, was wir früher in der DDR geschaffen haben. Das
       war etwas ganz Wunderbares“, sagt Anneliese Sahr später über das Gespräch.
       
       Barbara Borchardt, die für die Linke im Landtag sitzt, nennt ihn
       „aalglatt“, ein „Schwiegermuttertyp“. „Die Leute glauben, dass er sich
       wirklich für sie interessiert“, sagt sie. „In der Politik kommt nichts
       davon an.“ Auch seine Gegner sagen, dass er Charisma hat, dass sein
       vielleicht größtes politisches Talent darin besteht, zuzuhören, Menschen
       das Gefühl zu vermitteln, dass er sich für sie interessiert.
       
       ## Ein Wessi, der in den Osten ging
       
       Erwin Sellering sagt selbst über sich: „Ich bin für zehn, fünfzehn Minuten
       komplett in dem Gespräch, das passiert mir auch nicht, dass ich dann an
       etwas anderes denke, das ist dann sehr intensiv. Manchmal treffe ich
       jemanden nach drei Jahren wieder und wir wissen beide noch worüber wir
       gesprochen haben.“
       
       Sellering hat 2010 ein zweites Mal geheiratet und einen zwei Jahre alten
       Sohn. Als Gesprächsöffner erzählt er gerne, dass er ihn zweimal in der
       Woche morgens alleine versorgt und einmal abends von der Kita holt und ins
       Bett bringt. „Zum Glück hat er ab der ersten Woche durchgeschlafen“, sagt
       Sellering.
       
       Erwin Sellering ist 1953 in Sprockhövel im Ruhrgebiet als ältester Sohn mit
       drei jüngeren Schwestern in ein protestantisch-puritanisches Elternhaus
       geboren. 1994 kam er als Verwaltungsrichter nach Greifswald, stieg schnell
       in die Landespolitik ein, wurde 2000 Justizminister, 2006 Sozialminister
       und übernahm schließlich 2008 das Ministerpräsidentenamt von Harald
       Ringstorff. Der galt damals als das personifizierte Mecklenburg-Vorpommern,
       der Westdeutsche Sellering hingegen als Risiko.
       
       ## Balsam auf die Seele
       
       Ein paar Monate nach seiner Ernennung gab Sellering der FAZ ein Interview,
       in dem er die DDR nicht als totalen Unrechtsstaat bezeichnen wollte. „Ich
       habe mich stets davor gehütet, mit westlichem Blick Verurteilungen
       vorzunehmen“, sagte er. „Respekt vor den Lebensleistungen der Älteren“ war
       ein vielplakatierter Slogan der SPD im Wahlkampf 2011.
       
       Diese Anerkennung war offenbar Balsam gerade für viele Alte. Denn die
       empfinden ihre leerer werdenden Dörfer und Städte, den Strukturwandel, den
       Wegzug der Jüngeren und die schlechte Platzierung in den bundesdeutschen
       Statistiken (Arbeitsplätze, wirtschaftliche Dynamik, Rechtsextremismus)
       auch als persönliche Abwertung.
       
       Bundesweit bekannt ist sein Einsatz im NPD-Verbotsverfahren. Im Schweriner
       Landtag sitzen sitzen fünf Abgeordnete der NPD. Im Umgang mit ihnen gehen
       die demokratischen Fraktionen den „Schweriner Weg“. Anträge der NPD werden
       geschlossen abgelehnt und nur von jeweils einem Vertreter einer
       demokratischen Partei beantwortet. „So kann man natürlich nur mit einer
       Partei umgehen, die nicht auf dem Boden des Grundgesetzes steht und deshalb
       auch verboten werden muss.“ sagt Sellering.
       
       ## Unideologisch – mit kalkulierten Abrutschern
       
       Er gilt als nüchtern und unideologisch. Aber es gibt kalkulierte Abrutscher
       ins populistische. Aktuell hat er über die Landesgrenzen hinaus Aufsehen
       erregt, als er ein Ende der Sanktionen gegen Russland forderte und
       Verständnis für die Wähler der AfD äußerte. Er verstehe, wenn Menschen
       plötzlich fragten „Warum ist für die Flüchtlinge so viel Geld da, für uns
       aber nicht?“
       
       „Er hat das Image, Verständnis zu haben, hinter seinen Bürgern zu stehen –
       damit ist er bisher gut gefahren“, sagt Martin Koschkar, der an der
       Universität Rostock zu regionaler Politik forscht. Er charakterisiert die
       Schweriner Regierung als geräuscharm. Die Große Koalition ist skandalfrei
       durch die letzten eineinhalb Amtszeiten gekommen.
       
       Inhaltlich hat sie umstrittene Großprojekte – eine Kreis- und eine
       Gerichtsstrukturreform – umgesetzt. Für Sellering „schwere Entscheidungen,
       die man nun mal treffen muss.“ Die sind aber auch Symbole für den
       Strukturwandel und den Niedergang der ländlichen Räume. Mit der Sparpolitik
       der vergangenen Jahre wurden Schulden abgebaut, die Große Koalition feiert
       sich für ihre solide Finanzpolitik und den Rückgang der Arbeitslosigkeit.
       
       ## Dann wird er emotional
       
       Jemanden zu finden, der seine Person offen kritisiert ist schwierig. Ein
       Abgeordneter der Opposition der anonym bleiben will sagt, dass er Sellering
       für verlässlich und integer halte. Aber er sagt auch: „Sellering hat ein
       extrem hohes Sicherheitsbedürfnis, viel läuft hinter den Kulissen. Für uns
       ist es so gut wie unmöglich selbst inhaltlich für die Große Koalition
       annehmbare Vorschläge in die Ausschüsse zu bekommen. Da steht eine Mauer.
       Er hat Angst Schwäche zu zeigen, weswegen er auch so gut wie nie von einmal
       gefassten Beschlüssen abweicht.“
       
       Besonders schwierig werde es, wenn es um Themen gehe, die ihm persönlich
       wichtig seien, wie die von ihm ins Leben gerufene Ehrenamtsstiftung. „Wenn
       dann Kritik von der Opposition kommt wird er emotional, reagiert beleidigt
       und reduziert wie zur Bestrafung die Kommunikation.“
       
       Dass er, sollte er gewählt werden, nicht die gesamte Legislaturperiode im
       Amt bleiben wird, gilt vielen Beobachtern im Land als ausgemacht. Er sei
       müde geworden, heißt es, werde das Amt nach zwei Jahren an seine Ziehkinder
       Manuela Schwesig oder Christian Pegel übergeben. Er selbst dementiert das.
       Seit die SPD im April den Wahlslogan „Gemeinsam auf Kurs“ ausgegeben hat,
       posiert er für Presse- und Image-Fotografen bevorzugt an Joysticks,
       Steuerrädern und Autopiloten.
       
       ## Was sich am rechten Rand tut
       
       Kurz bevor das Schiff wieder im Hafen ankommt, steht Sellering oben im
       Wind, an Deck der „Ostseebad Wustrow“, auf dem Saaler Bodden ist es dunkel
       geworden. „Meine größte Sorge ist, dass sich die Gesellschaft weiter
       spaltet“, sagt er. „Die AfD ist aggressiv, vergiftet das Klima, bietet
       keine Lösungen an. Ich sehe den Zusammenhalt schwinden.“
       
       Die AfD ist nicht nur für das gesellschaftliche Klima schädlich, sie
       schadet auch der SPD. Die 16 Prozent Differenz zwischen dem Wahlergebnis
       2011, als die SPD 36 Prozent der Stimmen bekam, schiebt Sellering in erster
       Linie auf den Erfolg der AfD und der schlechten Performance der SPD im
       Bund. Aktuell kann die AfD mit knapp 20 Prozent der Stimmen rechnen. Wenn
       es schlecht läuft, sitzen im Herbst zwei Parteien am rechten Rand des
       Schweriner Landtags.
       
       Gegen 22:30 Uhr legt das Schiff im Hafen von Ribnitz-Damgarten an, wenig
       später sitzt Sellering im Wagen. Die ersten Wahlplakate hängen schon. Noch
       51 Tage, acht Stunden und 30 Minuten bis zur Wahl.
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Anke Lübbert
       
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