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       # taz.de -- Zehn Jahre Gleichbehandlungsgesetz: Es müsste viel mehr Klagen geben
       
       > Die Geschichte des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes ist eine
       > Erfolgsgeschichte. Trotzdem greift es oft nicht. So ist die Klagefrist
       > viel zu kurz.
       
   IMG Bild: Ein Mann aus Afghanistan füllt bei einer Jobbörse für Flüchtlinge einen Fragebogen aus
       
       Berlin taz | Es herrschte noch die Willkommenskultur. Flüchtlinge in den
       Arbeitsmarkt integrieren, hieß die Devise und die süddeutsche Spedition war
       mit dabei: Sie bot einem jungen Mann einen Praktikumsplatz an. Dann aber
       kam es zu einer Häufung islamistischer Anschläge. Der Spediteur bekam kalte
       Füße und sagte das Praktikum wieder ab. Irgendwie nachvollziehbar – aber
       eben auch eine Diskriminierung.
       
       Dieses Beispiel nennt Christine Lüders, Leiterin der
       Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Am Dienstag stellte sie in Berlin
       eine Evaluation zum zehnten Geburtstag des Allgemeinen
       Gleichbehandlungsgesetzes vor. Sie berichtete von einer Erfolgsgeschichte –
       und mahnte zugleich Verbesserungen an. Denn oft kann das Gesetz nicht
       greifen.
       
       Zum Beispiel im Fall des jungen Flüchtlings bei der Spedition: Bis er davon
       erfuhr, dass die Spedition gegen ein Gesetz verstoßen hatte, war die Frist,
       in der man juristisch gegen eine angenommene Diskriminierung vorgehen kann,
       bereits abgelaufen. Sie beträgt gerade mal zwei Monate. Diese Frist
       auszuweiten war einer der Vorschläge der Wissenschaftlerinnen, die das
       Gesetz evaluiert haben.
       
       Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) verbietet Benachteiligungen
       aufgrund des Geschlechts, des Alters, einer Behinderung, des Glaubens, der
       sexuellen Orientierung oder der ethnischen Herkunft. 31,4 Prozent der
       Menschen in Deutschland haben bei einer Umfrage angegeben, innerhalb der
       letzten beiden Jahre schon einmal Diskriminierung erlebt zu haben. Bei der
       Antidiskriminierungsstelle, die seit ihrer Gründung im Jahr 2006 insgesamt
       rund 15.000 Beratungen durchführte, ließen sich die meisten Menschen (27,7
       Prozent oder 3.897 Fälle) beraten, weil sie wegen ihrer Behinderung
       eingeschränkt wurden, kurz danach kommen die Diskriminierungsgründe
       ethnische Herkunft und Geschlecht.
       
       ## Ein Meilenstein
       
       „Die Einführung des AGG war ein Meilenstein“, sagte Lüders. „Die Menschen
       heute reagieren wachsamer auf Diskriminierungen.“ Insbesondere die
       Unternehmen hätten sich auf das Gesetz eingestellt: Heute würde kaum noch
       eine Firma eine Stellenanzeige ohne die Nennung beider Geschlechter
       schalten oder mit verbotenen Formulierungen wie „suchen jungen, dynamischen
       Mitarbeiter“ (Altersdiskriminierung) oder „suchen Muttersprachler“
       (Herkunftsdiskriminierung).
       
       Zugleich, auch das zeigte die Evaluation des AGG, ist das Gesetz nach wie
       vor unzureichend. Das liegt daran, dass es außer den Grünen zunächst
       niemand wollte. Union, Kirche und Wirtschaft handelten immer laxere
       Formulierungen aus, mit dem Ergebnis, dass einzelne Teile des AGG nun
       europarechtlichen Vorgaben nicht genügen, wie Alexander Klose vom Büro für
       Recht und Wissenschaft, das die Evaluation gemeinsam mit der Oldenburger
       Juraprofessorin Christiane Brors erstellt hat, erklärte. So schütze das AGG
       etwa nur vor sexualisierter Belästigung im Arbeitsleben, nicht aber im
       zivilen Leben. Auch wird das AGG bei Kündigungen nicht angewandt.
       
       Bei der Einführung des AGG war insbesondere befürchtet worden, dass es zu
       einer Klagewelle kommen könnte. Zudem fürchtete die Union um die
       Vertragsfreiheit. Die wirtschaftseigene „Initiative Neue Soziale
       Marktwirtschaft“ errechnete „Bürokratiekosten“ von 1,7 Milliarden Euro.
       „Das Niveau der damaligen Debatte war verwunderlich“, fasste Lüders höflich
       zusammen. „Niemand hat damals über den Nutzen des Gesetzes diskutiert.“
       
       ## Verbandsklagerecht gefordert
       
       Aus der befürchteten „Prozessflut“ wurden etwa 1.400 Gerichtsverfahren in
       den gesamten 10 Jahren. Das seien nur 6 Prozent der bekannt gewordenen
       Diskriminierungen, so Alexander Klose. Ein Grund: die zu kurze
       Anzeigefrist. Zudem fordert er, den Weg für ein Verbandsklagerecht
       freizumachen. Antidiskriminierungsverbände sollen anstelle einzelner
       Personen klagen können. Denn insbesondere im Arbeitsleben scheuen
       Angestellte die Klage gegen ihren Arbeitgeber.
       
       Klose verwies darauf, dass ein solches Recht – etwa für Umweltverbände und
       Verbraucherzentralen für ihre jeweiligen Themenbereiche – bereits bestehe.
       Zudem müssten die Rechte der Behinderten gestärkt werden. Zu oft kann ein
       Unternehmen sich herausreden, dass es leider zu aufwändig sei,
       Barrierefreiheit zu schaffen. An dieser Stelle solle das Gesetz verschärft
       werden.
       
       Die Chancen für eine Gesetzesänderung noch vor der Wahl sah Lüders durchaus
       gegeben. „Opferschutz ist keine Frage von links oder rechts“, so die
       Leiterin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Zudem würde das Thema
       an Brisanz zunehmen, denn mit den Flüchtlingen steige die Zahl der
       Diskriminierungen.
       
       9 Aug 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Heide Oestreich
       
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