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       # taz.de -- Belagerung von Aleppo in Syrien: Die entscheidende Schlacht
       
       > Rebellen versuchen, den Belagerungsring des Regimes um Aleppo zu
       > durchbrechen. In der Stadt kämpfen 300.000 Menschen ums Überleben.
       
   IMG Bild: Aleppo am 1. August
       
       Istanbul taz | Die historische Altstadt von Aleppo liegt in Schutt und
       Asche. Von den liebevoll sanierten, Hunderte Jahre alten
       Handelsniederlassungen, Karawansereien und dem historischen Basar sind nur
       noch Trümmer übrig. Stinkender, schwarzer Qualm verschluckt die Stadt. Um
       sich vor dem ständigen Bombardement zu schützen, haben Jugendliche in den
       letzten Tagen in großem Stil Autoreifen angezündet. Es ist ihre eigene
       „Flugverbotszone“ – eine Verzweiflungstat. „Wir entschuldigen uns bei allen
       Umweltschutzorganisationen“, sagt ein Aktivist in einem am Montag
       veröffentlichten Video. „Bitte verzeiht uns. Aber ihr habt uns im Stich
       gelassen, indem ihre keine Flugverbotszone errichtet habt.“
       
       Vor drei Monaten hat der amerikanische Außenminister John Kerry den
       syrischen Machthaber Baschar al-Assad gewarnt. Sollte die Feuerpause weiter
       verletzt werden, könne dies ernsthafte Konsequenzen haben. Dabei ging es
       vor allem um Aleppo. Dort setzt Assad mit massiver russischer
       Luftunterstützung seit Monaten alles daran, die Aufständischen in die Knie
       zu zwingen, die seit dem Sommer 2012 etwa die Hälfte der Stadt
       kontrollieren. Von Lieferungen von Flugabwehrraketen und anderen Waffen an
       die Rebellen war die Rede. Nichts dergleichen ist passiert, am Montag ist
       das „Ultimatum“ fast sang- und klanglos verstrichen.
       
       Seit mehr als zwei Wochen ist Aleppo komplett von Regimetruppen belagert.
       Hilfsorganisationen schätzen, dass noch immer bis zu 300.000 Personen in
       den von den Aufständischen kontrollierten Gebieten wohnen. Das Leben sei
       die Hölle, sagen Einwohner und Helfer. Zwar haben Ärzte, Zivilisten und
       Rebellen Vorräte angelegt. Doch die Lebensmittelpreise hätten sich
       verhundertfacht, die Märkte seien leer, sagt ein syrischer Aktivist.
       Systematisch haben das Regime und Russland in den letzten Wochen
       Notfallspitäler bombardiert. Nach Auskunft von Ärzten fordern die Angriffe
       täglich Dutzende von Toten und Verletzten. Im Ostteil der Stadt gibt es nur
       noch etwa dreißig Ärzte. Durch die Blockade ist der Weg für Schwerverletzte
       in die Türkei versperrt.
       
       ## Es droht eine humanitäre Katastrophe
       
       Hilfsorganisationen warnen seit Wochen, dass in Aleppo eine humanitäre
       Katastrophe droht. Dass Washington mitten im Wahlkampf einen radikalen
       Kurswechsel in der Syrienpolitik vollzieht, war kaum zu erwarten. Aber die
       scheinbare Nonchalance, mit der die USA über die Tragödie in Aleppo
       hinweggehen, ist doch erstaunlich. Der niederländische Außenminister Bert
       Koenders warnte diese Woche vor einem zweiten Ruanda oder Srebrenica. Die
       internationale Gemeinschaft müsse den Druck auf Assad erhöhen, um einen
       Genozid zu verhindern, schrieb Koenders im britischen Independent. Aber die
       meisten europäischen Regierungen setzten wie die Amerikaner auf die
       Wiederaufnahme der im April gescheiterten Gespräche mit Assad.
       
       Seit dem Eingreifen Russlands im September hat sich das Blatt zugunsten von
       Assad gewendet. In Aleppo geht es für ihn um alles oder nichts. Von allen
       großen Städten in Syrien ist Aleppo die einzige, in der die Aufständischen
       noch stark sind. Sollte Assad den Sieg davontragen, hätte er fast den
       gesamten Weststreifen des Landes zwischen der Küste und der Route von
       Aleppo nach Damaskus wieder unter Kontrolle. Seinen Gegnern bliebe im
       Nordwesten nur die Provinz Idlib. Dem Regime würde dann nur noch ein
       kleiner Zipfel nördlich von Aleppo fehlen, um die vor dem Krieg so wichtige
       Handelsroute in Richtung Türkei zu kontrollieren.
       
       Aleppo ist nicht nur die größte Stadt Syriens, sie war auch das
       wirtschaftliche Zentrum des Landes. Als im Sommer 2012 Rebellen den Ostteil
       der Stadt unter ihre Kontrolle brachten, bombardierte das Regime sie und
       die Zivilbevölkerung mit Fassbomben, die Rebellen verschanzten sich in der
       Altstadt.
       
       Lange konzentrierten sich die Kämpfe dann aber auf Regionen außerhalb
       Aleppos. Doch dank der russischen Unterstützung und des Eingreifens des
       Irans, der Tausende schiitischer Kämpfer aus dem Libanon, Irak, Afghanistan
       und anderswo entsandte, konnte das Regime die wichtigste Nachschubroute der
       Rebellen von Norden aus der Türkei kappen. Nach heftigen Kämpfen brachte
       Assad auch die letzte Versorgungsroute in den Ostteil der Stadt, die
       Castello Road, unter seine Kontrolle.
       
       ## Geiselnahme der Zivilbevölkerung
       
       Um den Belagerungsring zu sprengen, haben Rebellen am Sonntag von Süden und
       Westen her eine Offensive gestartet. Beteiligt sind daran alle Fraktionen,
       die es in Aleppo und in der umliegenden Region gibt: mehr als zehn lokale,
       säkulare oder gemäßigt islamische Rebellengruppen, die auch von den
       Amerikanern unterstützt werden, aber auch Salafisten wie Ahrar al-Scham
       oder Islamisten wie die Schamiya-Front und Failaq al-Scham sowie die
       Al-Nusra-Front, der syrische Ableger der al-Qaida. Die Terrorgruppe
       „Islamischer Staat“ spielt in Aleppo keine Rolle. Die Al-Nusra-Front hat
       sich kürzlich von al-Qaida losgesagt und nennt sich seitdem Dschabhat Fatah
       al-Scham (Front zur Eroberung der Levante). Experten und Aktivisten
       bezweifeln freilich, dass sich an ihrer radikalen Gesinnung viel geändert
       hat.
       
       Die stärksten Fraktionen sind genau die ehemalige Al-Qaida-Gruppierung und
       die kaum weniger radikale Ahrar al-Scham. Kerry machte sie am Montag
       ebenfalls für die Verletzung der Feuerpause verantwortlich. Für die
       eingekesselten Syrer sind sie dagegen die möglichen Retter in der Not.
       Bisher ist den Kämpfern noch kein entscheidender Durchbruch gelungen. Aber
       selbst wenn Russland in Aleppo auf die „Tschetschenien-Lösung“ setzt – also
       den Einsatz brutaler Gewalt auch gegen die Zivilbevölkerung –, ist die
       Frage, wie lange die geschwächten Truppen Assads dem Angriff standhalten
       können. Viel wird davon abhängen, wie viele Tote die Iraner und ihre
       Milizen bereit sind in Kauf zu nehmen. Es gehe um die „Befreiung“ Aleppos,
       haben die Regimegegner erklärt. Es seien 10.000 Kämpfer und mindestens 95
       Panzer im Einsatz, sagte am Mittwoch ein Rebellenkommandant.
       
       Indem der Westen tatenlos zuschaut, könnte genau das passieren, was
       Europäer und Amerikaner fürchten: die Stärkung der Radikalen und
       Extremisten wie der ehemaligen Nusra-Front und Ahrar al-Scham. Sollte Assad
       die Oberhand gewinnen, droht den Zivilisten der Hungertod. Das Regime hat
       die Öffnung von vier Fluchtkorridoren angeboten – drei für Zivilisten und
       einen für Kämpfer, die sich ergeben. Wer nicht die Flucht ergreift, den
       betrachtet das Regime als „Terroristen“. Zahlreiche internationale
       Hilfsorganisationen haben diese faktische Geiselnahme der Zivilbevölkerung
       am Mittwoch kritisiert. „Einen angeblich sicheren Fluchtweg anzubieten,
       darf nicht im Umkehrschluss bedeuten, dass die verbleibenden Menschen zu
       militärisch legitimierten Zielen werden“, heißt es in einer Erklärung von
       fast 40 internationalen Hilfsorganisationen. Aleppo dürfe nicht zu einem
       „Ort des Massensterbens“ werden.
       
       3 Aug 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Inga Rogg
       
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