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       # taz.de -- Griechische Ausstellung über Vertreibung: Des einen Freud, des anderen Leid
       
       > Die Ausstellung „A World Not Ours“ thematisiert Flucht und Vertreibung an
       > einem Ort, der symbolischer nicht sein könnte.
       
   IMG Bild: Einmal nach Samos, bitte: für Touristen 35 Euro, für Flüchtlinge mehrere Tausend
       
       „Ferry to Samos“. Ein strahlend blaues Plakat mit einem weißen Boot lockt
       in der türkischen Hafenmetropole Izmir zu einem Tagesausflug auf die
       griechische Insel Samos. Für Touristen ist der Trip kein Problem. Für die
       syrischen Flüchtlinge, die zu Tausenden in der Hafenstadt darauf warten,
       sich auf europäischen Boden zu retten, markiert die 400 Kilometer lange
       Strecke zwischen Asien und Europa eine unüberwindbare Grenze. Fährtouristen
       zahlen 35 Euro, ein Flüchtling seinem Schlepper mehrere Tausend Euro,
       lebend anzukommen wird nicht garantiert.
       
       Die österreichische Künstlerin Tanja Boukal hat das idyllische Bild der
       Reederei auf eine Aluminiumplatte gezogen und mit Fotos all der Dinge
       umgeben, die Menschen auf der Flucht über das Meer verlieren:
       Schwimmwesten, Wasserflaschen, Medikamentendosen. „Memories of Travels and
       Dreams“ hat sie ihre Assemblage genannt. Und ein schlagendes Bild dafür
       gefunden, wie die schöne, friedliche Welt der einen eben nicht die der
       anderen Menschen ist.
       
       Die Ausstellung in dem kleinen weißen Gebäude mitten im Hafen von
       Pythagorion auf der griechischen Insel Samos, in dem Boukals Arbeit derzeit
       hängt, schlägt beim Thema Flüchtlinge einen überfälligen, dritten Weg der
       politischen Ästhetik ein – zwischen Ai Weiweis spektakulärer Inszenierung
       am Strand von Lesbos und [1][der aktivistischen Dramatik der Aktion
       „Flüchtlinge fressen“ des „Zentrums für Politische Schönheit“] vor dem
       Berliner Maxim Gorki Theater.
       
       ## Daten und Fakten zur Entwicklung der globalen Migration
       
       „A World Not Ours“ hat Kuratorin Katharina Gregos die kleine
       Gruppenausstellung von gerade mal zehn Künstlerinnen genannt, die sie für
       die private Kulturstiftung des deutsch-griechischen Philanthropen-Ehepaars
       Schwarz in dem vor vier Jahren zum Art Space umgebauten alten Hotel
       ausgerichtet hat. In dem gleichnamigen Film hat der
       dänisch-palästinensische Filmemacher Mahdi Fleifel 2012 sein Aufwachsen in
       einem Palästinenser-Camp im Libanon beschrieben.
       
       Man findet in dieser Schau das, was man in vielen Ausstellungen zum Thema
       Flucht, Vertreibung, Migration findet, die derzeit Konjunktur haben. Daten
       und Fakten zur Entwicklung der globalen Migration wie in der
       Computeranimation der amerikanischen Architekten Diller Scafidio + Renfra.
       Oder den Dokumentarismus eines Fotografen wie Yannis Behrakis. Der
       griechische Pulitzer-Preisträger hat in einer ikonischen Serie die Ankunft
       der Migranten in seiner Heimat festgehalten.
       
       Man findet darin künstlerische „Projekt“-Arbeiterinnen wie Tanja Boukal,
       die in Langzeit-Recherchen „Izmir Concrete“ die Schlepperszene von Izmir in
       Schwarz-Weiß-Fotos festgehalten und diese auf Betonblöcke aufgetragen hat:
       Flüchtlingen hängt ihr Schicksal wie ein Mühlstein um den Hals.
       
       Interviews mit Flüchtlingen 
       
       Und man findet darin Arbeiten wie die von Sallie Latch. Um die Geschichten
       derer hörbar zu machen, die in den Medien zu einer einzigen, namenlosen
       Elendsmasse verschmelzen, hat die 83 Jahre alte, amerikanische Künstlerin
       und Friedensaktivistin Interviews mit Hunderten von Ihnen aus der Region
       geführt. Im Loop flimmern sie über einen Bildschirm.
       
       Gerade in der ägäischen Touristenidylle ist die Ausstellung in Samos am
       richtigen Platz. Die Insel mit 7.000 Jahren Kulturgeschichte war von jeher
       ein Kreuzungspunkt der Kulturen zwischen Ost und West. Und keine zehn
       Kilometer vom schicken White Cube im Hafen entfernt steht
       stacheldrahtumzäunt in den samiotischen Bergen einer der fünf Hotspots, in
       denen nach dem EU-Türkei-Abkommen die Flüchtlinge festgehalten werden.
       Chiona Schwarz, die resolute, weltgewandte Chefin der Schwarz Foundation,
       hat ein Interesse daran, „am hintersten Zipfel Europas, wo sich der letzte
       türkische und griechische Soldat in die Augen schauen, brisante Themen zu
       diskutieren“.
       
       Die Schau ist aber auch ein exemplarisches Beispiel für die Aporien der
       Flüchtlingsästhetik, um die gerade künstlerisch gerungen wird. Fast alle
       Arbeiten ordnen sich dem verständlichen, ethischen Imperativ unter, das
       Leid dieser Menschen nicht ästhetisch auszubeuten, sachlich zu informieren
       und Empathie für die Schicksale zu wecken, sie wirken daher aber oft
       vorhersehbar.
       
       Ein Ort für Diskussionen 
       
       Eigenständige Formen, die das konkrete Elend so ins Allgemeine abstrahieren
       oder metaphorisch übersteigen wie Edvard Munchs „Schrei“, sind selten zu
       sehen. Am ehesten ist das noch der ungarischen Künstlerin Róza El-Hassan
       gelungen. Der archaische Feldbau in Form eines Iglus, den die
       Mitbegründerin der Kunstplattform „Syrian Voices“ den Behausungen der
       Bauern dort abgeschaut hat, ist zwar soziales Design, hat aber auch etwas
       autonom Skulpturales. Zugleich wirkt sie wie das Symbol einer nachhaltigen
       Architektur der Zukunft – in einer Welt, die Platz hat für alle.
       
       In dem bislang mit ambitionierten Einzelausstellungen bekannt gewordenen
       Haus steht die Schau für die politische Sensibilisierung eines besorgten
       Großbürgertums. Schwarz engagiert sich auch bei Human Rights Watch für
       Flüchtlinge. Es war glasklar programmatisch zu verstehen, als die
       Linksintellektuelle und gelernte Psychotherapeutin nicht nur der
       samiotischen Hautevolee bei der Vernissage beschied: „Wir brauchen einen
       Ort, in dem wir diskutieren können, wie wir mit diesem Drama umgehen. Das
       ist eine europäische, keine griechische Frage. Wir müssen lernen zu teilen,
       ohne zu kämpfen.“
       
       7 Aug 2016
       
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