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       # taz.de -- Bremen justiert Ausstellungspolitik neu: Post-koloniales Update
       
       > Bremer Museumslandschaft erlebt Paradigmen-Wechsel: „Decolonize“ ist nun
       > eine offizielle Ansage. Auch biodeutsche Besucher avancieren zu „Nutzern“
       
   IMG Bild: Kritisch beforscht: die Afrika-Sammlung des „Übersee“
       
       Wenn Anna Greve heute im Rathaus spricht, klingt das nach
       Paradigmenwechsel. „Es geht darum“, wird sie sagen, „Menschen und Kulturgut
       ,mit Migrationshintergrund' als Teil des einheimischen, nationalen
       Narrativs zu begreifen“. Diesen Satz mögen viele für selbstverständlich
       halten. Neu ist, dass er die offizielle Ausstellungsspolitik Bremens
       beschreibt.
       
       Greve, die sich mit einer Arbeit über „Kritische Weißseinsforschung in der
       europäischen Kunstgeschichte“ habilitierte, ist seit noch nicht allzulanger
       Zeit Museumsreferentin im Kulturressort. Diese Besetzung trifft auf eine
       zunehmende Bereitschaft in den Bremer Institutionen, sich mit
       postkolonialen Ansätzen zu beschäftigen. Die Bemühungen sind substanziell
       genug, um das Fellowship-Programm „Internationales Museum“ der
       Bundeskulturstiftung, das Greve heute miteröffnet, nach Bremen zu bringen.
       
       Immerhin hat sich über die Hälfte der öffentlich geförderten hiesigen
       Museen explizit des Themas angenommen. Die Kunsthalle plant mit „Der blinde
       Fleck“ eine Ausstellung über die kolonialen Spuren in den eigenen
       Beständen, das Übersee wird 2017 eine kritische Sonderausstellung zur
       eigenen Geschichte eröffnen. Die Städtische Galerie zeigt im Herbst mit
       „Kabbo ka Muwala – The Girl’s Basket“ eine Ausstellung über Migration und
       Mobilität zeitgenössischer Kunst in Süd- und Ostafrika. Aber auch kleine
       Einrichtungen wie Schloss Schönebeck orientieren sich unter dem Motto „Von
       Vegesack in die Welt“ deutlich globaler und multikultureller denn je zuvor.
       
       In Bremens kolonialgeprägtes Selbstverständnis kommt Bewegung. Aber
       überträgt sich das auch in die Breite? Die Kontroversen um Straßennamen
       sind ein guter Indikator für den Stand der öffentlichen
       Bewusstseinsbildung.
       
       Beispiel Lüderitz. Der Bremer Kaufmann und Ehrenbürger „erhandelte“ auf dem
       Gebiet des heutigen Namibia ein 40 Meilen langes und 20 Meilen tiefes
       Landstück, in dem er die vereinbarten Maße nachträglich von englischen
       Meilen (1,6 Kilometer) in preußische umdefinierte – zu je 7,5 Kilometern.
       Als die Einheimischen einen Aufstand wagten, holte „Lügenfritz“ das
       Militär. Seit den 1970er-Jahren gab es Initiativen, die Bremer
       Lüderitz-Straße umzubenennen, sie scheiterten stets an fehlender
       offizieller Unterstützung.
       
       Das könnte sich nun ändern. „Ich halte es für sehr problematisch, jemanden
       zu ehren,“ sagt Greve, „der an einem Völkermord beteiligt war“. Die
       Ausstellung „Freedom Roads“, im Frühjahr in der Unteren Rathaushalle zu
       sehen, wird die Debatte befeuern.
       
       Noch vor Kurzem galt die Beschäftigung mit postkolonialen Konzepten selbst
       in universitären Kontexten als karriere-schädigend – diese Erfahrung hat
       auch Greve gemacht. „Da schlug einem durchaus Feindschaft entgegen“, sagt
       sie in Bezug auf die 2000er-Jahre. Auch die „Idee“ der Bremer Uni, einen
       Afrikanistik-Studiengang ohne AfrikanerInnen zu betreiben, ist noch gar
       nicht lange her. Doch seitdem, sagt Greve, „gab es eine enorme
       Entwicklung“.
       
       Aus Museumssicht geht es bei all diesen Bemühungen nicht „nur“ um
       „historische Hygiene“, nicht „nur“ um ein aus prinzipiellen Gründen
       überfälliges Update des Selbst- und Weltbildes, das die involvierten
       Institutionen haben und vermitteln – sondern auch um konkrete
       Zukunftsfähigkeit. Ebenso, wie sich Konzerthäuser wegen der dominanten
       Weißhaarigkeit ihrer BesucherInnen sorgen, wie Theater sich fragen müssen,
       welches Publikum sie künftig für Abonnements begeistern können, so müssen
       sich auch Museen auf das Schrumpfen ihrer Stammklientel einstellen – zu
       Gunsten einer bunter und migrantischer werdenden Bevölkerung.
       
       Die notwendigen Veränderungen des musealen Selbstverständnisses gehen noch
       weiter: Letztlich geht es darum, BesucherInnen aller Art auch als
       Museums-Nutzer zu begreifen – was das Prinzip der kuratorischen Autorität
       auf interessante Art ins Wanken bringt. „Weiße“ akademische Ansätze und
       „schwarzes“ Erfahrungswissen sollen zusammen gebracht werden? Auch, wenn
       das Focke-Museum eine Frauen-Ausstellung zusammen mit dem Frauenmuseum e.V.
       gestaltet, klingt das naheliegend – und ist doch etwas Neues. Denn als
       Landesmuseum auf Augenhöhe mit einem kleinen Verein zu arbeiten, war früher
       keineswegs Usus.
       
       Bleibt das Geldproblem: Anders als bei der Provenienzforschung zu
       NS-Raubgut gibt es bislang keine Möglichkeit, beim Bund Gelder zur
       Aufarbeitung kolonialer Altlasten zu beantragen. Das Übersee hat es
       kürzlich dennoch geschafft, ein vierjähriges Projekt zu finanzieren: Mit
       Hilfe der VW-Stiftung und gemeinsam mit Partnern in Namibia, Kamerun und
       Tansania untersucht es die Entstehungs-Geschichte seiner äußerst
       umfangreichen Afrika-Sammlung.
       
       „Erstmals“, sagt Direktorin Wiebke Ahrndt, „wird eine akteurszentrierte
       Geschichte kolonialen Sammelns in den deutschen Kolonien geschrieben“.
       Jürgen Zimmerer von der Universität Hamburg nennt das Projekt einen
       „wichtigen Schritt zur Dekolonialisierung deutscher Museen“. Weitere müssen
       folgen.
       
       10 Aug 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Henning Bleyl
       
       ## TAGS
       
   DIR Kolonialismus
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   DIR Sharon Dodua Otoo
       
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