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       # taz.de -- Debatte Libyen und Migration: Paradies für Menschenhändler
       
       > Verhandlungen mit Politikern und Milizen in Libyen sind wert- und
       > sinnlos. Stattdessen sollte Europa Städte und Gemeinden unterstützen.
       
   IMG Bild: Sind sie mehr als nur Milizionäre? Kämpfer der UN-unterstützten Regierung in Libyen
       
       Mit Entsetzen schaut Europa auf das Chaos entlang der 2.200 Kilometer
       langen südlichen Mittelmeerküste. Fünf Jahre nach dem Sturz des libyschen
       Diktators Muammar al-Gaddafi haben Milizen die Macht übernommen und den
       weltweit größten Menschenschmugglerring aufgebaut. Trotz erfolgreicher
       Reformen schließen sich auch im benachbarten Tunesien mehr junge Männer
       religiösen Milizen an als in jedem anderen arabischen Land.
       
       Die gut organisierten Extremisten bieten zwischen der Sahara und dem
       Mittelmeer den Perspektivlosen das Gefühl von Zugehörigkeit und ein
       wirtschaftliches Auskommen. Der Staat leistet dies in Sidi Bouzid, Agadez
       oder Sirte schon lange nicht mehr – oder hat es nie. Das Versagen der
       politischen Eliten hat aus Libyen, Tunesien und dem Niger einen größeren
       Unsicherheitsfaktor für Europa gemacht, als der Irak oder Afghanistan es je
       waren.
       
       Die EU und die UNO setzen auf klassische diplomatische Rezepte:
       Unterstützung einer Einheitsregierung für Libyen, Budgethilfe für Tunesiens
       Ministerien, Training von Armee und Polizei im Niger.
       
       Nur dumm, dass die nigrische Armee vor den Augen ihrer französischen
       Kollegen im nigrischen Grenzort Madama mit den Menschenschmugglern
       zusammenarbeitet, die täglich zwischen Agadez und den libyschen Wüstenoasen
       pendeln. Dass die zurück gekehrte Gewalt der tunesischen Polizei und Justiz
       dem IS mehr Anhänger zutreibt als verhaftet werden, ist auch kein
       Geheimnis. Die libysche Einheitsregierung von Premier Fayiz as-Sarradsch
       wird in Tripolis von Milizenführern geschützt, die eher vor dem
       Strafgerichtshof in Den Haag als an den Verhandlungstisch von UN-Vermittler
       Martin Kobler sitzen sollten.
       
       Die Entstaatlichung entlang der Flüchtlings- und Terrorroute nach Europa
       erfordert daher völlig neue Rezepte im Kampf gegen die Fluchtursachen. Mit
       denen zu verhandeln, die zwar auf dem Papier die Macht, aber kein Interesse
       am Wohl der Bürgern haben, hat den Aufstieg des IS und die Schiffsunglücke
       auf dem Mittelmeer eher gefördert als verhindert.
       
       ## Libyen war nie ein echter Staat
       
       Dabei zeigt gerade Libyen, dass es Alternativen gibt und Europa mit der
       blinden Hörigkeit gegenüber der Politik der Vereinten Nationen endlich ein
       Ende machen muss.
       
       Von Libyen als gescheitertem Staat zu sprechen, ist irreführend, denn es
       hat nie einen echten Staat gegeben. Das Land war schon unter Gaddafi die
       Summe vieler gut funktionierender Stadtstaaten und Gemeinden. Und sie
       konkurrierten schon zu der Zeit um den Zugang zu Öl und Macht. Mit der
       Revolution ist diese Rivalität eskaliert.
       
       Schnelle diplomatischen Erfolge in der Hauptstadt sind vor diesem
       Hintergrund wertlos und werden weder Terroristen noch Menschenschmuggler
       stoppen. Sinnvoller wäre es, die Gemeinden und ethnisch geprägten sozialen
       Strukturen zu unterstützen. Die Netzwerke in den Dörfern und Städten sind
       mächtiger und relevanter als jene Milizen und Politiker, mit denen die
       internationale Gemeinschaft verhandelt. In über 90 libyschen Städten wurden
       Gemeinderäte gewählt, die mehr Legitimität haben, als die Regierung von
       Premier Sarradsch, die international anerkannt, aber noch nicht vom
       Parlament bestätigt ist.
       
       Wie auch in Mali, im Niger und in Algerien sind es lokale Gremien – oft
       eine Mischung aus kommunalen und ethnischen Vertretern sowie der
       Zivilgesellschaft –, die über ein Ende des Schmuggels, eine Ächtung von
       Milizen oder die Akzeptanz der Regierung entscheiden. Sie müsste die EU
       übergangsweise direkt unterstützen. Deutschland könnte etwa mit
       Städtepartnerschaften und der Ausbildung auf kommunaler Verwaltungsebene
       dabei besonders gezielt helfen.
       
       Die meisten Libyer und Migranten sind sich in einem einig: Würde ihnen eine
       Perspektive, die Aussicht auf einen Job und die Möglichkeit, eine Familie
       zu gründen und eine eigene Wohnung zu beziehen, gegeben, würden sie zu
       Hause bleiben beziehungsweise den Reformprozess unterstützen, statt sich
       Milizen anzuschließen.
       
       Solche Perspektiven können in Libyen zurzeit nur im lokalen Kontext
       angeboten werden – sei es in Form von Berufsausbildung, medizinischer Hilfe
       oder Wirtschaftsförderung.
       
       Das dysfunktionale Schul- und Berufsausbildungssystem, das in Tunesien
       jährliche Tausende arbeitslose Akademiker produziert, sind die wahren
       Ursachen des Jugendaufstands, den wir fälschlicherweise Arabischen Frühling
       nennen.
       
       ## Diktatur der Milizen
       
       Mit den Autokraten Husni Mubarak in Ägypten, Zine el-Abidine Ben Ali in
       Tunesien und Gaddafi in Libyen verschwanden nur die Symbole der
       Ungerechtigkeit. Die Ursachen für den Aufruhr sind aber geblieben. Die für
       Entwicklungshilfe zuständige bundeseigene Gesellschaft für Internationale
       Zusammenarbeit (GIZ) hatte bereits 2009 den Auftrag, die Berufsschulen
       Libyens zu reformieren. Hier muss man wieder ansetzen und einen
       Reformprozess starten, der, wie in Osteuropa, eine Generationenaufgabe ist.
       
       Die UN setzt mit ihrer informellen Kooperation mit Warlords derweil die
       falschen Zeichen. Der Besuch des UN-Vermittlers Kobler bei dem Chef der
       Sicherungstruppe für Ölanlagen, Ibrahim Jadhran, war ein Husarenstück von
       Realpolitik, um die Öffnung der Ölhäfen zu erreichen. Jadhran ist ein
       Sinnbild für die Gesetzlosigkeit des nachrevolutionären Libyen. Zusammen
       mit Hunderten Islamisten saß er in dem berüchtigten Abu-Salim-Gefängnis und
       stellte nach dem Tod Gaddafis eine bunte Truppe aus Islamisten,
       Föderalisten und lokalen Freiwilligen auf, die sich ihre Besetzung der
       Ölanlagen vergolden lassen wollen.
       
       Das Versprechen von Kobler und Premier Sarradsch, die Wiedereröffnung der
       Ölhäfen finanziell zu belohnen, führte denn auch zu einem wundersamen
       Anstieg von Jadhrans Truppenstärke auf 28.000 Mann.
       
       Die kommunalen Vertreter lehnen den Deal ab, denn sie fürchten, dass diese
       Politik ohne Moral Nachahmer finden wird – also weitere Milizen produziert.
       An dieser klaren Haltung gegen die Diktatur der Milizen und die
       Machtlosigkeit der Politiker in Tripolis sollte Europa sich ein Beispiel
       nehmen.
       
       11 Aug 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Mirco Keilberth
       
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