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       # taz.de -- Stimmung in der Türkei: Ein Putsch, der uns nicht umbringt …
       
       > Erdoğans anatolische Heldengeschichte ist um ein Kapitel reicher. Aber um
       > die Türkei zu einen, wird das nicht reichen.
       
   IMG Bild: Alles kann jetzt an Gülen ausgelagert werden: Anti-Putsch-Poster in Istanbul
       
       Die Bauarbeiten für den Gleistunnel unter dem Marmarameer, der Asien und
       Europa mit Hochgeschwindigkeitszügen und Metro verbinden soll, verzögerten
       sich aufgrund von Vorkommnissen, die den damaligen Premierminister Recep
       Tayyip Erdoğan aus der Fassung brachten. „Wegen irgendwelcher Töpferware
       verlieren wir hier vier Jahre“, beschwerte er sich 2004. Bei der Töpferware
       handelte es sich: um den byzantinischen Hafen des Theodosius, der bei den
       Bauarbeiten gefunden wurde. Um 36 Schiffswracks. Und um Fußabdrücke aus
       neolithischer Zeit. Archäologische Funde, die unseren Blick auf die
       Geschichte des alten Istanbul sowie die Seefahrtsgeschichte der Menschheit
       verändern können.
       
       Wenn aber Archäolog*innen der Zukunft auf unsere Zeit blicken werden,
       werden sie vor Rätseln stehen. Denn nach den Bauarbeiten für den
       Gleistunnel begannen in Yenikapı, ganz in der Nähe, Tausende von Lastwagen
       damit, Unmengen von Schutt am Ufer aufzuschütten, auf einer Fläche von
       550.000 Quadratmetern. Diese neugewonnene Fläche sollte der größte
       Versammlungsort des Landes werden. Die Fachwelt und die Zivilgesellschaft
       argumentierten, dass das Aufschüttprojekt irreversible Schäden anrichten
       und sowohl die Silhouette der historischen Halbinsel als auch die
       Topografie zerstören würde.
       
       Sie konnten per Gerichtsbeschluss einen Baustopp erreichen. Das änderte
       aber nichts. Ironie der Geschichte: Wenn wir tatsächlich in einem
       demokratischen Rechtsstaat leben würden, hätte Erdoğans Massenkundgebung
       für „Demokratie und die Märtyrer“, die am Montag Millionen Menschen
       zusammenbrachte, überhaupt nicht an diesem Ort, dem Yenikapı-Platz,
       stattfinden können.
       
       Vielleicht werden wir eines Tages erfahren, ob der Putschversuch vom 15.
       Juli tatsächlich nur von Anhängern der Gülen-Gemeinde innerhalb des
       Militärs geplant worden war. Unbestritten bleibt, dass er einen Meilenstein
       in der politischen Geschichte der Türkei darstellt. Ich weiß nicht, ob
       Premierminister Binali Yıldırım sich von Nietzsche hat inspirieren lassen,
       von seinem zu einer Plattitüde der Persönlichkeitsentwicklung verkommenen
       Diktum: „Was mich nicht umbringt, macht mich stärker“; doch als Yıldırım
       vor Menge im roten Fahnenmeer ausrief: „Ein Putsch, der uns nicht umbringt,
       macht uns stärker“ – traf er einen Punkt.
       
       ## Politische Profile eingeschmolzen
       
       Die AKP hielt die größte Machtdemonstration ihrer Geschichte ab, indem sie
       den Oppositionsführer und CHP-Vorsitzenden Kemal Kılıçdaroğlu und den
       MHP-Führer Devlet Bahçeli einerseits in ihre Refrains von Einheit und
       Zusammenstehen einspannte, und andererseits deren politische Profile auf
       der Livebühne einschmolz. Darüber hinaus konnte sie die Grenzziehungen der
       letzten Zeit öffentlich machen, indem sie die Vertreter*innen der HDP
       erst gar nicht zu diesem stolzen Tag der Einheit einlud.
       
       Mit dem vereitelten Putschversuch konnte die Partei ein weiteres Glied in
       der Kette der heldenhaften Geschichte des türkisch-islamischen Anatoliens
       schmieden – mit Gebeten, mit Allahu-Akbar-Rufen und osmanischen
       Militärmärschen.
       
       In Gegenwart der geladenen Vertreter der christlichen Minderheiten mussten
       die Redner nicht auf die gewaltvolle Sprache des Nationalismus verzichten,
       sondern konnten sie mit Begriffen wie „heidnische Horden“,
       „Kreuzfahrerarmee“ und „Byzantinerbrut“ beleidigen.
       
       Es erfordert echten Mut, sich einem Panzer entgegenzustellen. Umfragen
       zeigen, dass 53 Prozent der Menschen, die in jener Nacht auf die Straße
       gingen, durch Erdoğans Aufruf im Fernsehen mobilisiert worden waren. Der
       Putschversuch zeigt auch, dass es Menschen gibt, die bereit sind, für die
       AKP und für Erdoğan zu sterben.
       
       Man kann kaum noch zählen, wie viele Straßen, Gassen, Parks, Plätze und
       Schulen seither umbenannt wurden, so dass in ihren Namen Demokratie, der
       15. Juli und die Märtyrer vorkommen. Das Erinnern an die Toten erfordert
       Feingefühl; die Frechheit, den Wartebereich der Business-Class am
       Atatürk-Flughafen von „Lounge Istanbul“ in „Salon der Demokratiehelden des
       15. Juli“ umzubenennen, sabotiert jedoch die Bedeutung der Geste selbst.
       
       Und dann ist da noch folgende Szene: Wir haben gerade einen blutigen
       Militärputsch überstanden, und ein General, nämlich der Generalstabschef
       Hulusi Akar, steht auf der Bühne, und zwar an exponierterer Stelle als der
       Oppositionsführer. Die riesige zivile Masse, die vor ihm steht, macht sein
       Herz pochen, und wie ein Popsänger, der zum ersten Mal ein Stadionkonzert
       zu absolvieren hat, unterbricht er sich bei jedem Tosen der Masse, ruft ihr
       Dank zu und winkt ihnen lächelnd zu. Sie ruft ihm entgegen: „Unsere
       Soldaten sind die größten!“ Es ist dieselbe Masse, die während der Rede des
       „Oberbefehlshabers“ Erdoğan schreien wird, dass sie die Todesstrafe will.
       
       Zur selben Zeit: Personen, die mit der Fethullah-Gülen-Gemeinde, mit jener
       als FETÖ abgekürzten, neu konstruierten Terrororganisation, oder den als
       PDY abgekürzten „Parallelstaatsstrukturen“ in Verbindung stehen, oder
       von denen man denkt, dass sie in Verbindung stünden, oder von denen man
       annehmen könnte, dass sie in Verbindung gestanden hatten, werden ihrer
       Ämter enthoben oder juristisch verfolgt. Zu dieser Personengruppe gehört
       auch der Mieter, der jeden Monat seinen Mietzins auf ein Konto einer
       Hausverwaltung überwies, welches bei einer der Gülen-Gemeinde zugehörigen
       Bank geführt wird.
       
       ## Eine multifunktionale Täuschung
       
       In Situationen wie dieser, wo eine Säuberungswelle zu einer Hexenjagd wird,
       bekommen auch zahlreiche Menschen, deren dissidente Haltung als politisch
       problematisch angesehen wird, ihr Fett weg: Gewerkschafter*innen,
       Alevit*innen, Gezi-Aktivist*innen, Linke, Kurd*innen,
       HDP-Anhänger*innen … Jeden Tag hören wir von Menschen, die sich im
       Ausland eine neue Existenz aufbauen wollen oder das Land für eine gewisse
       Zeit verlassen haben – auch wenn wir noch nicht genug Zahlen haben, um von
       einer Auswanderungswelle sprechen zu können.
       
       War der Geschichtslehrer Gökhan Açıkkol Teil des Putschs, war er ein
       Mitglied der Terrororganisation? Wir wissen es nicht. Aber seine Familie
       bekam die Nachricht, dass er nach seiner Verhaftung am 23. Juli verstorben
       war. Es hatte kein Gerichtsverfahren gegeben. Er war nicht einmal verhört
       worden. Es heißt, man habe ihm nicht erlaubt, seine Medikamente
       einzunehmen, er sei am 5. August an einem Herzinfarkt gestorben. Es wurde
       ihm ein Platz auf dem Vaterlandsverräterfriedhof zugewiesen und eine
       Bestattung nach islamischem Ritus verweigert.
       
       Sein Vater Ayhan Açıkkol schrie in die nicht regierungsnahen Kameras, die
       ihm zuzuhören bereit waren, falls irgendetwas gegen den Toten vorliege, so
       sei die Familie getäuscht worden, wie auch der Staatspräsident getäuscht
       worden sei. Denn der Staatspräsident verlautbarte diese Woche, er sei von
       der Gülen-Gemeinde, mit der er früher zusammengearbeitet hatte und deren
       Anhänger er nun verfolgen lässt, „getäuscht“ worden.
       
       Es handelt sich um eine multifunktionale Täuschung. Jedes Übel kann jetzt
       an die FETÖ outgesourct werden. Bei der Bombardierung von 34 Zivilist*innen
       durch türkische Kriegsflugzeuge im ostanatolischen Roboski könnte die FETÖ
       die Täterin gewesen sein. Es ist auch gut möglich, dass die Piloten, die
       den russischen Jagdbomber abschossen, Verbindungen nach Pennsylvania
       unterhielten … So reihen sich die Behauptungen aneinander, die mit den
       Engeln unseres Verstands Schindluder treiben und vor allem die einstige
       Allianz zwischen Erdoğan und Gülen ignorieren.
       
       ## Ein riesenhaftes Familienfoto
       
       Man muss an ein Kind denken, das alles, wovor es Angst hat, für ein Monster
       hält, wenn man sieht, wie jetzt alles mit dem Label FETÖ beklebt wird, ohne
       Erklärung und ohne Mitverantwortung. Es steht außer Frage, dass hier
       fruchtbarer Boden entsteht. Can Gürkan, inhaftierter Vorstandsvorsitzender
       des Bergbaubetriebs von Soma, steht vor Gericht für den mörderischen
       Arbeitsunfall, bei dem vor zwei Jahren in Soma 301 Bergleute ihr Leben
       verloren. Seine Verteidigung stützt sich jetzt auf die Behauptung, dass das
       Grubenunglück Folge eines Sabotageakts war, hinter dem die FETÖ steckt. Ob
       wohl Yusuf Yerkel, der Berater des Staatspräsidenten, der auf einen am
       Boden liegenden Protestierenden eintrat, bevor die Leichname der Bergleute
       überhaupt vollständig geborgen waren, auch seine Befehle von Fethullah
       Gülen empfing?
       
       Auf der Kundgebung auf dem Yenikapı-Platz am Montag wollten Erdoğan und die
       AKP ein riesenhaftes Familienfoto inszenieren. Wenn der Glaube daran, dass
       die Gerechtigkeit obsiegen wird, noch lebendig wäre, dann könnte man
       wirklich glauben, dass die Schuldigen verurteilt werden. So aber ändern
       sich die Lebenswelt von Tausenden von Menschen, die nicht mit auf dem Foto
       sind oder sein durften. Für sie bricht eine schwierige Zeit an. Die
       Geschichtsbücher erzählen eben leider nicht alles.
       
       Übersetzung aus dem Türkischen von Oliver Kontny
       
       14 Aug 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Pınar Öğünç
       
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