# taz.de -- Staatsanwalt über NS-Prozesse: „Allein durch Mitarbeit schuldig“
> Jens Rommel ermittelt gegen vier Exwachleute und vier Bürokräfte des KZ
> Stutthof. Bei einem Schuldspruch könnten neue Verfahren folgen, sagt er.
IMG Bild: Von Insassen hergestellt: Ein im ehemaligen KZ Stutthof gefundener Aschenbecher
taz: Herr Rommel, Sie und die Zentrale Stelle werfen aktuell acht
mutmaßlichen NS-Verbrechern Beihilfe zum Mord vor. Warum jetzt? Waren die
Fälle die letzten 70 Jahre unbekannt?
Jens Rommel: Die Zentrale Stelle Ludwigsburg hat im Frühjahr 2015 mit
Vorermittlungen zum Konzentrationslager Stutthof begonnen. Dabei haben wir
zunächst aber nicht bestimmte Personen in den Blick genommen, sondern die
Struktur des Lagers und die Frage, in welchem Zeitraum hier systematische
Tötungen durchgeführt wurden. Nur Personen, die während des laufenden
Vernichtungsprogramms im Lager gearbeitet haben, können wir womöglich wegen
Beihilfe zum Mord belangen. Unsere Erkenntnisse über diese konkreten
Zeiträume sind in der Tat neu.
Was haben Sie herausgefunden?
Ab dem Spätsommer 1944 wurden jüdische Gefangene in Stutthof gezielt in
Gaskammern oder durch Genickschüsse getötet. Wir haben überprüft, wer in
dieser Zeit in dem Lager gearbeitet hat und wer davon heute noch lebt. Den
jetzigen Beschuldigten können wir zwar nicht nachweisen, dass sie konkret
an einzelnen Morden beteiligt gewesen sind. Aber wir vertreten die
Auffassung, dass man sich allein durch seine Mitarbeit an einem solchen
Vernichtungsprogramm der Beihilfe zum Mord schuldig machen kann.
Welche Rollen haben die Beschuldigten dabei nach Ihren Erkenntnissen
eingenommen?
Vier von ihnen, allesamt Männer, waren Wachleute. Als Teil ihrer Arbeit
haben sie die Gefangenen an der Flucht gehindert. Das begründet aus unserer
Sicht eine Mitschuld an den Morden. Die vier beschuldigten Frauen haben als
Schreibkraft, Telefonistin oder Fernsprechvermittlerin gearbeitet. Hier ist
die Beteiligung abstrakter. Aber auch in der Kommandantur wurden die
Massenverbrechen vorbereitet. Daher sehen wir auch hier eine Teilschuld.
Ob das für eine Verurteilung ausreicht, ist aber umstritten …
Das stimmt. Mit unseren Vorermittlungen wollen wir eine Grundlage zur
Strafverfolgung schaffen. Ob das zu weiteren Verfahren oder Urteilen führt,
liegt im Ermessen von Staatsanwaltschaften und Gerichten. Richtungsweisend
wird hier die Revisionsentscheidung des Bundesgerichtshofs im Fall Gröning
sein. Dieser wurde vom Landgericht Lüneburg verurteilt, ohne dass Nachweise
für Tatbeiträge zu Morden in konkreten Einzelfällen vorlagen. Sein Dienst
als Wachmann im Konzentrationslager reichte aus. Das ist juristisch eine
vergleichsweise neue Perspektive.
Könnten noch etliche weitere Prozesse folgen, wenn der BGH diese
Rechtsauffassung mitträgt?
Wir überprüfen unsere Archive und stellen neue Ermittlungen an. Dabei geht
es auch um Fälle, von denen bislang angenommen wurde, dass hier keine
Strafverfolgung möglich ist. Zu einer Verfahrenswelle wird es aber nicht
mehr kommen, weil die meisten Personen entweder tot oder aus
gesundheitlichen Gründen nicht mehr verhandlungsfähig sind. Das betrifft
mehr als 95 Prozent. Einzelne dürften sich aber vermutlich dennoch ihrer
Verantwortung vor Gericht stellen müssen.
Heute sind die Beschuldigten Greise. Kommt ein Umdenken der Justiz nicht
viel zu spät?
Ich kann nur aus heutiger Sicht meine Arbeit und die der Behörden bewerten.
In der Zentralen Stelle sind wir der Ansicht, dass auch der Einzelne
Verantwortung für Massenverbrechen trägt. Wenn wir damit richtig liegen,
sind sehr viele Täter davongekommen, ohne je zur Rechenschaft gezogen
worden zu sein. Durch späte Urteile wird nichts verändert, was in der
Vergangenheit versäumt wurde, erst recht keine Morde wiedergutgemacht.
Trotzdem finde ich es wichtig, auch heute noch diejenigen zu verfolgen, die
sich aus unserer Sicht schuldig gemacht haben.
16 Aug 2016
## AUTOREN
DIR Minh Schredle
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