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       # taz.de -- Über unser Verhältnis zur Gewalt: Irgendwie sind es immer die anderen
       
       > Unsere Maßstäbe für Gewalt sind unpolitisch geworden: Entsetzen herrscht
       > über die Taten Einzelner. So ist kritisches Denken nicht möglich.
       
   IMG Bild: Gelegentlich kriecht die Gewalt aus unserer Vergangenheit ans Licht
       
       Als ein junger Mann in Japan kürzlich neunzehn Leben in einer Einrichtung
       für Menschen mit Behinderung auslöschte, lag es nahe, an den Begriff
       „unwertes Leben“ zu denken. Der Täter hatte als Motiv angegeben, es sei
       besser, wenn Behinderte verschwänden. Als diese Haltung auf eine große Zahl
       von Menschen bezogen wurde und das Töten systematischen Charakter hatte,
       wurde es Euthanasie genannt.
       
       Unser Entsetzen über die Tat des Japaners ist jung und frisch, während der
       Horror der Euthanasie kaum erinnert wird. So geschieht es in diesen Tagen
       häufig: Die Gewalt scheint neu auf die Welt gekommen, und wir blicken sie
       an, schockiert und fasziniert, als sei sie etwas Fremdes, nie Dagewesenes.
       Ein Eindringling.
       
       Unsere Vorstellung davon, was Gewalt überhaupt ist, illegitime, Leben
       vernichtende Gewalt, klammert sich immer mehr an spektakuläre Taten
       einzelner schlimmer Menschen oder Banden. Ihr Gegenüber ist die staatliche
       Gewalt. Sie verfolgt und tötet legitim, jedenfalls auf unserer Seite der
       Welt, in Deutschland, im westlichen Europa.
       
       Die Grenze zwischen der schlimmen und der guten Gewalt mag anderswo löchrig
       sein, schon in den USA, aber bei uns darf sie nicht infrage gestellt
       werden. Renate Künast wurde darüber belehrt, dass eine Abgeordnete nicht
       befugt ist, die Notwendigkeit eines Todesschusses zu bezweifeln.
       
       Die Gleichgültigkeit, mit der die europäische Öffentlichkeit auf die
       Barbarei von Aleppo blickt, hat zumindest eine Ursache darin, dass Baschar
       al-Assad immer noch ein Rest Legitimität zugestanden wird für seine
       staatliche Gewalt. Richtet sie sich nicht gegen das strukturlos Schlimmere?
       
       ## Gestus der Legitimität
       
       Die Menschen, die durch europäische Grenzpolitik im Mittelmeer zu Tode
       kommen, waren aus europäischer Sicht offenbar unwertes Leben. Das klingt zu
       hart? Europa tötet sie mit der Gewalt seines Grenzregimes, also mit
       legitimer, guter Gewalt.
       
       Die Schlepper gehören hingegen auf die Seite des Illegitimen, des Bösen.
       Sie erschießen sogar aus purer Profitgier einzelne Flüchtlinge, die sich
       ihrem Regime nicht fügen. Das bringt uns auf. Und was sich unter den
       Flüchtlingen auf den Booten abspiele, meinte kürzlich ein Freund zu mir,
       sei doch genauso schlimm wie das Grenzregime.
       
       Eine fatale Verwechslung von Ursache und Wirkung. Es geschieht auf einem
       Kreuzfahrtschiff eher selten, dass jemand das Baby eines Mitreisenden über
       Bord wirft, weil er das Schreien nicht mehr ertragen kann.
       
       Angesichts der Gleichgültigkeit gegenüber dem strukturellen Töten auf dem
       Mittelmeer muss eine andere Frage gestellt werden: Was, wenn dies noch gar
       nicht die große Armutswanderung ist? Und es ist sie nicht. Die
       Öffentlichkeit wurde in eine endzeitliche Stimmung hineingequatscht: Als
       gehe es jetzt um alles; als seien Entscheidungen über letzte Mittel zu
       fällen, an einem Wendepunkt der Geschichte. Zu welcher Gewalt würde unsere
       Gesellschaft im Gestus der Legitimität greifen, wenn wirklich einmal die
       ganz große Migration der Benachteiligten begänne?
       
       Die Gewalt, die bereits heute aus unserer Mitte hervorgeht, löst wenig
       Erschrecken aus. Hunderte Angriffe auf Asylunterkünfte, im zurückliegenden
       Jahr mehr als tausend: Sie verschwinden in einem seltsamen
       Aufmerksamkeitsschatten, als fehlte ihnen alle Farbe. Ganz anders die
       spektakulären Taten Einzelner, die nichts mit uns zu tun haben, denn die
       Täter sind Migranten, Terroristen, Religiöse – oder, wenn sie uns
       gefährlich ähnlich sind, zumindest Kranke. Irgendwie sind es immer die
       anderen.
       
       Wir schieben die Gewalt weg von uns. Wir, die zivilisierten Menschen des
       zivilisierten Europa, wir schätzen und respektieren das Leben. Wir haben
       unseren Spiegel blank gewischt, es gibt darauf keine dunklen Flecken und
       keine Vergangenheit.
       
       „Wenn ich in der europäischen Technik und im europäischen Stil den Menschen
       suche, stoße ich auf eine Folge von Negationen des Menschen, auf eine
       Lawine von Morden“, schrieb Frantz Fanon 1966. Ich betrachte terroristische
       Anschläge nicht als antikoloniales Zurückschlagen. Aber manchmal denke ich:
       Wir bekommen die Gewalt, mit der wir die Welt jahrhundertelang überzogen
       haben, heute in kleinen Paketen zurück.
       
       ## Grundgefühl der Machtlosigkeit
       
       Die weiße Mehrheitsgesellschaft, die lange von einer Gewalt profitierte,
       die sie auf anderen Kontinenten exekutierte, lernt nun das Gruseln. Dies
       sei „ein blutiger Sommer“, schrieb der Spiegel. Was gäbe man in Aleppo um
       einen solchen Sommer. Was gäbe man in vielen Ländern der Welt um einen
       solchen Sommer. Wir bekommen in diesen Tagen vielleicht eine Idee, was
       Bedrohung und Machtlosigkeit bedeuten – ein Grundgefühl, mit dem Millionen
       Menschen außerhalb Europas Tag für Tag leben.
       
       Wir haben uns abgewöhnt, die strukturelle Gewalt als solche anzuerkennen,
       die brutale Gewalt der Armut, die eine malische Frau dazu verurteilt, bei
       einer geringfügigen Komplikation der Geburt zu sterben. Wenn wir von
       „blinder Gewalt“ sprechen, meinen wir, dass ein Täter um sich schlägt und
       willkürlich einige Unschuldige zu Opfern macht. Die Malierin, die im 21.
       Jahrhundert im Kindbett stirbt, wird von der blinden Macht ungerechter
       Verhältnisse getroffen, deren Gewalttätigkeit wir nicht mehr beim Namen
       nennen mögen.
       
       Systemkritisches Denken ist aber nicht möglich ohne eine politische
       Auffassung davon, was Gewalt ist – und was sie gebiert. 15 Jahre nach Nine
       Eleven finden sich kaum noch Maßstäbe für Gewalt, die man als widerständig
       bezeichnen könnte.
       
       Gelegentlich kriecht die Gewalt aus unserer Vergangenheit ans Licht.
       Herero/Nama, ein kleiner Völkermord. Oder jetzt Ermittlungen gegen einige
       betagte Diensthabende aus dem KZ Stutthof nahe Danzig. Dort trafen zwischen
       Ende Juni und Mitte Oktober 1944 26 Deportationszüge ein; sämtliche
       Insassen, meist Juden, wurden zügig durch Genickschuss oder Gas getötet.
       Ein Blutrausch, an den nichts, was in unseren Tagen geschieht, heranreicht.
       
       Vielleicht denken wir einmal an den Sommer von Stutthof, wenn ein
       afghanischer Junge eine Axt erhebt oder ein Amokfahrer über eine Promenade
       von Nizza rast.
       
       16 Aug 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Charlotte Wiedemann
       
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