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       # taz.de -- Essay Islamischer Feminismus: Die Arbeit im Stillen
       
       > Islamischer Feminismus muss nicht auf öffentlicher Bühne stattfinden, um
       > Erfolg zu haben. Kübra Gümüşay wünscht sich echte Solidarität.
       
   IMG Bild: Vielleicht wollen nicht alle muslimischen Frauen, die sich für ihre Rechte oder ihre Religion einsetzen, als Feministinnen betitelt werden?
       
       Starke Frauen und unkonventionelle Vorreiterinnen im Islam gibt es
       durchgehend seit der frühen islamischen Geschichte. Zwei Beispiele von
       Frauen um den Propheten Mohammed: Khadidscha, die erste Person, die den
       Islam annahm, war eine erfolgreiche und selbstständige Geschäftsfrau, 15
       Jahre älter als der Prophet und mit mehreren Kindern aus vorhergehenden
       Ehen. Oder Umm Salama – sie ging als politisch weise, sich ihrer Position
       als Frau in der arabischen Gesellschaft des 6./7. Jahrhunderts bewusst und
       gleichzeitig dagegen ankämpfend in die – von Männern produzierten! –
       Annalen ein.
       
       Bis heute gibt es inspirierende islamische Vordenkerinnen, die keine
       Kontroverse scheuen und den Islam als Grundlage dafür nutzen, patriarchale
       Strukturen zu hinterfragen und neu zu denken. Besonders die akademische
       Auseinandersetzung mit den religiösen Hauptschriften – dem Koran und den
       Hadithen – aus einer feministischen Hermeneutik heraus hat in den letzten
       Jahrzehnten die wohl wichtigsten und innovativsten Impulse innerhalb eines
       islamisch-theologischen Rahmens hervorgebracht. Dies belegen neben den
       Arbeiten der US-amerikanischen Theologin Amina Wadud auch jene am Korantext
       von der Amerikanerin Ayesha S. Chaudhry, der türkischen Wissenschaftlerin
       Hidayet Şefkatli Tuksal oder der Ägypterin Omaima Abou-Bakr, der
       Aktivismus einer Hind Makki oder die Arbeit an historischen Biografien
       weiblicher Muslime von Asmaa Sayeed.
       
       Diesen Arbeiten ist gemein, dass sie nicht nur akademische Grundlagen
       formulieren, sondern immer auch muslimische Frauen in ihrer Identität als
       Musliminnen stärken. Auch in Deutschland gibt es zahlreiche Organisationen
       und Initiativen wie das Aktionsbündnis muslimischer Frauen oder das Zentrum
       für islamische Frauenforschung und Förderung.
       
       ## Vielschichtige Prozesse
       
       Seit Jahren leisten diese Institutionen ebenso wie viele Frauen wichtige
       Arbeit auf akademischer und theologischer Ebene. Um nur einige zu nennen:
       Kathrin Klausing, Silvia Horsch, Riem Spielhaus oder Lana Sirri, auf
       aktivistischer Ebene Ismahan Wayah, Gabriele Boos-Niazy, Khola Maryam
       Hübsch oder Saboura Manpreet Naqshband. Dabei sind sich keineswegs alle
       islamischen Feministinnen in allen Punkten einig. Manche können sich mit
       der Bezeichnung Feminismus nicht identifizieren und präferieren den Begriff
       Frauenrechtlerin, andere genau anders herum oder keinen der beiden
       Begriffe. Sie führen jedoch untereinander Diskussionen und suchen
       beizeiten gemeinsame Wege.
       
       Manche islamischen Frauenrechtlerinnen agieren sichtbar, die allermeisten
       sind es nicht. Die genannten sind diejenigen, die gehört und wahrgenommen
       werden, weil sie schreiben oder zur Öffentlichkeit sprechen – wobei immer
       wieder auf die gleichen Personen zurückgegriffen wird und die tatsächliche
       Vielfalt an Engagement keine Repräsentation findet. Und selbst diejenigen,
       die Gehör finden, werden nicht in ihrer Gänze wahrgenommen, denn auch sie
       haben nicht primär das Ziel, in ihren täglichen Kämpfen diese für die
       Gesamtöffentlichkeit detailliert zu dokumentieren.
       
       Es ist vielmehr die Öffentlichkeit oder auch oft die Forschung, die diese
       Frauen untersuchen möchte. Sie sollen ihr Wissen (häufig kostenlos)
       preisgeben, ihre Kämpfe, Hürden und die Missstände innerhalb der Gemeinden
       präsentieren, ihre Gedankengänge sezieren, bewerten und letztlich
       beurteilen lassen. Dabei fühlen sich viele muslimische Frauen in ihren
       Gemeinden gerade durch den öffentlichen Druck behindert. Sie engagieren
       sich deshalb für ihre Rechte, geben ihr Wissen weiter und führen
       Diskussionen innerhalb der Gemeinden, ohne die Öffentlichkeit zu suchen.
       
       Dass die Öffentlichkeit diesen Aktivismus nicht einsehen kann, bedeutet
       nicht, dass er nicht existiert. Es ist nicht notwendig und beizeiten auch
       gut, dass diese Frauen nicht jede ihrer Aktivitäten für soziale Medien oder
       die Forschung dokumentieren und ergooglebar machen. Zu vielschichtig sind
       diese Prozesse. Ähnlich ist es bei christlichen Feministinnen. Antje
       Schrupp, feministische Publizistin, sagt: „Hätten christliche
       Feministinnen unter dem gleichen öffentlichen Druck gestanden wie
       muslimische, wäre die ‚Bibel in gerechter Sprache‘ womöglich nie
       erschienen.“ Muslimische Communities in Deutschland und muslimische Frauen
       im Speziellen stehen in all ihren innerreligiösen Prozessen mit dem Rücken
       zur Wand.
       
       Nun ist es so: Muslimische Frauenrechtlerinnen und Feministinnen – es gibt
       im Übrigen selbstverständlich auch Männer – sind es gewohnt, dass
       MuslimInnen, die eine patriarchale Auslegung des Islams aufrecht zu
       erhalten versuchen, das reiche historische Erbe an starken Frauen
       ausschweigen und Koranverse, die die Gerechtigkeit und Gleichheit unter den
       Geschlechtern feststellen, nur eingeschränkt gelten lassen wollen.
       
       Neu ist jetzt, dass einige IslamkritikerInnen dieses historische Erbe für
       sich beanspruchen und sich an die Spitze der Emanzipation der muslimischen
       Frau stellen, um im gleichen Atemzug aktuelle Emanzipationsbewegungen
       muslimischer Feministinnen als systemunkritisch zu diffamieren. Sie
       schweigen sich aus über die jahrzehntelangen Kämpfe, Arbeiten und
       Bemühungen dieser Frauen in Deutschland und negieren sie damit. Und sie
       gehen weiter: Wer heute als sichtbare muslimische Frauenrechtlerin oder
       Feministin nicht öffentlich Verbandskritik ausübt, sich von Missständen
       hierzulande und im Ausland nicht explizit distanziert und jeden einzelnen
       Schritt der eigenen Systemkritik für die Öffentlichkeit dokumentiert, macht
       sich – ihrer Logik zufolge – mit dem islamischen Patriarchat und gar dem
       Islamismus gemein. So einfach, so skandalös.
       
       ## Absolute Entsolidarisierung
       
       Das jedoch ist kein Feminismus. Keine Ermächtigung. Keine Emanzipation.
       Sondern absolute Entsolidarisierung mit jenen Frauen, die ihren Einsatz für
       Frauenrechte nicht nur proklamieren, sondern auch versuchen, in konkreter
       Überzeugungsarbeit zu vermitteln. Die mit verschiedensten Gemeinden
       sprechen und diskutieren, um nicht nur am Schreibtisch und für sich selbst
       die Dinge besser zu machen, sondern auch an einer Umsetzung in der Praxis
       interessiert sind.
       
       Dabei kämpfen diese Frauen ohnehin an (mindestens) zwei Fronten: Innerhalb
       der Gemeinden gegen frauenfeindliche Auslegungen des Islam; in der
       Mehrheitsgesellschaft gegen die plumpe Narrative des patriarchalen,
       sexistischen und gewalttätigen Islam. Auf beiden Seiten geht es darum zu
       beweisen, dass der Islam in seinen Grundzügen eine Basis für Gerechtigkeit
       aller Menschen bieten kann. Einerseits hinterfragt man ihre Autorität, ihre
       Befähigung, Koranexegese zu betreiben. Auf der anderen Seite werden sie
       entweder zu Ausnahmen deklariert oder als der verlängerte Arm des
       islamistischen Patriarchats diffamiert, die nur so tun, als ob sie für
       Freiheit, Gerechtigkeit und andere Werte eintreten. Der Vorwurf der
       Heuchelei und Doppelzüngigkeit ist in antimuslimischen Kreisen weit
       verbreitet und besonders fatal, denn er lässt sich nicht widerlegen. Er ist
       ein Totschlagargument, das letzten Endes mundtot macht.
       
       Dabei waren die Stimmen muslimischer Frauen in Deutschland in der medialen
       Öffentlichkeit bis vor wenigen Jahren ohnehin nur – wenn überhaupt – sehr
       zaghaft zu hören. Stattdessen sprachen laut und unüberhörbar jahrzehntelang
       andere Frauen an ihrer Stelle über sie, machten sich zum Sprachrohr dieser
       Frauen, ohne ihre Interessen zu kennen oder zu vertreten. So war die
       muslimische Frau entweder ein Opfer oder, wenn sie dann mal für sich
       sprach, dann mit Argwohn zu betrachten.
       
       Seit einigen Jahren sprechen muslimische Frauenrechtlerinnen aus der Mitte
       der muslimischen Gemeinschaften vermehrt in der Öffentlichkeit und setzen
       sich zugleich für ihre innermuslimische (aber auch
       gesamtgesellschaftliche) Vielfalt ein – für die praktizierenden, die nicht
       praktizierenden, die Kopftuch tragenden, die Minirock tragenden, die
       kulturell lebenden, die gläubigen, die ehemals gläubigen, die fast
       gläubigen, die modischen, die akademischen, die beschwipsten, die
       nüchternen, die queeren, die straighten Musliminnen. Statt ihnen nur
       bevormundend vorzuschreiben, wie sie sich zu emanzipieren haben, ist es nun
       Zeit für echte Bündnisse und echte Solidarität.
       
       Das heißt primär, Privilegien und unterschiedliche Dynamiken anzuerkennen
       und sie zu reflektieren – gleichzeitig aber auch, zumindest in der eigenen
       Arbeit, die Reproduktion von anderen Diskriminierungen oder Rassismen zu
       vermeiden.
       
       21 Aug 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Kübra Gümüsay
       
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