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       # taz.de -- Kolumne Lügenleser: Je suis aktuelle Tragödie
       
       > Früher sei das nicht so gewesen, liest man derzeit oft. Wann aber war
       > dieses „früher“? Und was soll dieser Vergleich?
       
   IMG Bild: Wisst ihr noch, die 90er? Rostock-Lichtenhagen? Aber klar war früher alles besser …
       
       Alles hat mit allem zu tun. So viel wissen die selbsternannten
       Internet-Experten inzwischen. Nizza ist passiert um von TTIP abzulenken. In
       deutschen Schwimmbädern wütet der „Sex-Mob“, weil Merkel eine US-Agentin
       ist. Die Isis ist eine Erfindung des Mossad. Erdoğan ist Hitler, nur als
       Ausländer. Jackpot. Was will man mehr.
       
       Laut den allwissenden Kommentatoren und Politik-Experten aus der „Je suis
       aktuelle Tragödie“-Profilbildwelt, dreht sich die Gewaltspirale immer
       schneller und steuert auf einen großen, letzten Knall zu.
       
       Die Zeichen mehren sich. Erwachet! Dass diese Welt ganz schön abgefuckt
       ist, wird sicherlich niemand bestreiten, wie könnte man auch. Warum in der
       Phantasie dieser Menschen wahlweise die AfD, Putin oder ein ominöses
       Volksgericht als großer Sieger daraus hervorgehen sollte, ist ebenso
       rätselhaft wie die Motivation die sich hinter ihrem Handeln verbirgt.
       
       Vor wenigen Wochen hätten coole Kids noch gesagt: Was ist das für 1 Life?
       Wer zum Teufel verbringt denn seinen Tag damit, unter schrecklichen
       Meldungen, noch schrecklichere Kommentare abzugeben?
       
       ## PokemonGo, Pegida-Edition
       
       Das muss doch unglaublich frustrierend sein. Die Lebensrealität der
       entsprechenden User ist offenbar frustrierender, deshalb lohnt sich die
       Flucht ins Digitale. PokemonGo, Pegida-Edition.
       
       Die „Lügenleser“ sind überall. Dabei spielt es meist eine untergeordnete
       Rolle ob es sich um ein Massaker, allgemeine politische Vorgänge oder eine
       Schlägerei unter Jugendlichen handelt. Hauptsache man kann negative
       Assoziationen produzieren.
       
       „Früher war das nicht so“ liest man dann oft. Da hat man beispielsweise
       aufgehört „wenn jemand am Boden lag“ oder „da gab es noch Regeln“ an die
       man sich gehalten hat. Wann dieses früher gewesen soll, keiner weiß es
       genau.
       
       Eventuell sind die 90er gemeint, als schon einmal unzählige Wohnheime
       brannten und Morde durch Neonazis Gewohnheit wurden. Oder die frühen 60er,
       wo die Jalousien noch herunter gelassen wurden bevor die eigene Frau
       verprügelt wurde.
       
       Vielleicht auch die direkten Nachkriegsjahre, in denen mein Großvater etwa,
       mit einem Messer um ein Stück Brot kämpfen musste. Oder der zweite
       Weltkrieg. Wahrscheinlich aber das durch seinen Humanismus berühmt
       gewordene Mittelalter. Hach, war das schön damals.
       
       ## Verfall der Sprache
       
       All diejenigen die sich insgeheim oder ganz offen nach jeder
       Schreckensnachricht freuen, weil es ihren Pessimismus, ihren Hass und ihre
       Katastrophensehnsucht bekräftigt, stehen bei jeder Meldung in der ersten
       Reihe und befeuern die Suche nach den angeblich Schuldigen.
       
       Dabei wollen sie offenbar gar nicht merken, dass sie ein Teil des Problems
       sind. Ein chemischer Katalysator, der die Hin- und Rückreaktion
       gleichermaßen beschleunigt. Das der Verfall der Sprache ein erstes Indiz
       für kommendes Unheil ist, dürfte man aus der Geschichte gelernt haben.
       
       Dabei ist es so einfach. Brutalität besitzt kein Verfallsdatum, Gewalt
       kennt keine Regeln, Ungerechtigkeit hat kein festes Herrchen. Was sich
       verändert hat, ist die Art und Weise in der wir miteinander kommunizieren.
       Es wird Zeit für eine erneute Veränderung.
       
       19 Jul 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Juri Sternburg
       
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