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       # taz.de -- Nach Putschversuch in der Türkei: Erdogans Demokratiegefasel
       
       > In der EU mehren sich Stimmen, die sich für einen Stopp des
       > Beitrittsprozesses aussprechen. Erdogan verkündet einen Gedenktag. Der
       > Ausnahmezustand tritt in Kraft.
       
   IMG Bild: Euphorisch für den Staatspräsidenten: Erdogan-Anhänger in Istanbul
       
       WIEN/BERLIN/ANKARA dpa | Österreichs Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP)
       sieht die europäische Perspektive der Türkei nicht nur durch die etwaige
       Einführung der Todesstrafe gefährdet. Es gehe auch um die Frage von
       Willkürherrschaft und die Frage des Umgangs mit politisch Andersdenkenden,
       sagte Kurz am Donnerstagabend in der Nachrichtensendung „ZiB2“. „Das sind
       Bereiche, in denen wir genauso rote Linien festsetzen müssen wie bei der
       Todesstrafe“, forderte Kurz eine entschlossene Haltung der EU.
       
       Die EU-Außenbeauftragte Federica Moherini und EU-Erweiterungskommissar
       Johannes Hahn zeigten sich besorgt über die Entwicklung in der Türkei. In
       einer gemeinsamen Erklärung verlangten sie am Donnerstagabend, dass die
       türkische Regierung unter allen Umständen die Rechtsstaatlichkeit, die
       Menschenrechte und die Grundfreiheiten bewahren müsse.
       
       Zudem ist die sogenannte Heranführungshilfe der EU für die Türkei in
       Milliardenhöhe in die Kritik geraten. Bundestagsvizepräsident Johannes
       Singhammer (CSU) bezeichnete dies nach Angaben der Süddeutschen Zeitung als
       Hohn und forderte das sofortige Einfrieren der Zahlungen. Schließlich
       beweise die Entwicklung in der Türkei hin zu einem autoritären Regime, dass
       die Hilfe „nachweislich völlig wirkungslos“ sei, sagte Singhammer dem
       Blatt.
       
       Mit der Heranführungshilfe werden Länder unterstützt, deren
       Beitrittsverfahren läuft, um die Anpassung an die Standards der EU zu
       erleichtern. Nach Angaben des Blattes hat die Türkei zwischen dem Start der
       Hilfe 2007 und dem Jahr 2013 von der EU 4,8 Milliarden Euro erhalten, der
       deutsche Anteil daran betrug fast eine Milliarde Euro. Für den Zeitraum
       2014 bis 2020 habe die EU weitere 4,45 Milliarden Euro für die Türkei
       eingeplant.
       
       UN-Generalsekretär Ban Ki Moon rief das Land zur Einhaltung der
       Menschenrechte auf. Konstitutionelle Ordnung und die internationalen
       Menschenrechte müssten respektiert werden, forderte Ban in einer am
       Donnerstag in New York verbreiteten Mitteilung. Dazu gehörten unter anderem
       Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit und die Unabhängigkeit des Rechts-
       und Gerichtswesens.
       
       ## Menschenrechtskonvention ausgesetzt
       
       Nach der Verhängung des Ausnahmezustands setzt der türkische
       Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan unterdessen seinen Kurs konsequent und
       im Eiltempo fort. Vize-Ministerpräsident Numan Kurtulmus kündigte am
       Donnerstag an, dass die Türkei die Europäische Menschenrechtskonvention
       vorübergehend aussetzen werde. Er verwies auf Artikel 15 der Konvention,
       der einen solchen Schritt in Kriegs- oder Notstandszeiten mit
       Einschränkungen erlaubt.
       
       Der Ausnahmezustand, mit dem die türkische Führung fünf Tage nach der
       Niederschlagung des Putschversuches von Teilen der Militärs reagiert hat,
       war in der Nacht zum Donnerstag in Kraft getreten. Erdogan hatte als
       Begründung angegeben, effektiver gegen Anhänger des Predigers Fethullah
       Gülen im Staatsdienst vorgehen zu können, den er für den Drahtzieher des am
       Samstag niedergeschlagenen Umsturzversuches hält.
       
       Vize-Ministerpräsident Kurtulmus sicherte zu: „Dass Versammlungen und
       Demonstrationen verboten werden und Menschen nachts nicht auf die Straße
       gehen dürfen oder dergleichen, wird es niemals geben. Das kann ich für die
       gesamte Türkei sagen.“ Die Grundrechte blieben gewahrt. Erdogan wandte sich
       noch in der Nacht ans Volk. „Habt keine Sorge“, sagt er. „Es wird im
       Ausnahmezustand definitiv keine Einschränkungen geben. Dafür garantieren
       wir.“ Er fügt hinzu: „Wir werden von der Demokratie keinen Schritt
       abweichen.“
       
       Der Europarat bestätigte, dass Ankara den Generalsekretär über die
       Aussetzung der Menschenrechtskonvention nach Artikel 15 informiert habe.
       Auch Frankreich hat die Menschenrechtskonvention nach den Anschlägen von
       Paris teilweise ausgesetzt, ebenso wie die Regierung in Kiew wegen der
       Gewalt in der Ostukraine. Laut der Konvention ist die Aussetzung bestimmter
       Grundrechte nicht möglich, etwa das Recht auf Leben. Auch die türkische
       Verfassung schützt das Recht auf Leben selbst im Ausnahmezustand.
       
       ## Ausnahmezustand und Feiertag
       
       Nach dem gescheiterten Putsch in der Türkei hatte Erdogan in der Nacht zu
       Donnerstag den Ausnahmezustand ausgerufen. Dieser trat am Donnerstagmorgen
       mit der Veröffentlichung im Amtsanzeiger in Kraft und gilt 90 Tage. Das
       Parlament billigte die Maßnahme am Donnerstag auch mit Stimmen aus der
       Opposition. 346 der 550 Abgeordneten votierten dafür, 115 dagegen. Die AKP
       verfügt über 317 Sitze.
       
       Bereits vor dem Ausnahmezustand waren in der Türkei Tausende Menschen
       festgenommen worden. Zehntausende mutmaßliche oder vermeintliche Anhänger
       der Gülen-Bewegung in Militär, Polizei, Justiz, Schulen und Hochschulen
       wurden suspendiert. Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU)
       kritisierte, das übersteige eine „verhältnismäßige Antwort“. „Auch
       Nato-Partner sind an Werte gebunden.“
       
       Den 15. Juli, der Tag an dem der Putschversuch in der Türkei begann,
       erklärte Erdogan inzwischen zum „Gedenktag für Märtyrer“. „Kommende
       Generationen werden die Helden des Kampfes für die Demokratie nie
       vergessen“, sagte Erdogan laut der Nachrichtenagentur Anadolu an seinem
       Amtssitz. Er rief dazu auf, die von der Regierung als „Demokratie-Wachen“
       bezeichneten Versammlungen in den türkischen Städten fortzuführen. Die
       Bürger sollten sich versammeln und die zentralen Plätze der Städte
       besetzen, „bis unser Land diese schwere Phase vollständig hinter sich
       gelassen hat“.
       
       22 Jul 2016
       
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