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       # taz.de -- Portugiesische Kino-Trilogie „1001 Nacht“: Die dümmste Idee seines Lebens
       
       > Miguel Gomes erzählt von den sozialen Verzerrungen Portugals in Folge der
       > EU-Sparauflagen. Das ist ein Höhepunkt des europäischen Kinos.
       
   IMG Bild: Viele der Geschichten fand der Regisseur Miguel Gomes in der Zeitung
       
       Vor zwei Wochen startete mit Pietro Marcellos „Bella e perduta“ ein
       halbdokumentarischer Film aus Italien im Kino, der die prekäre Situation
       des Landes als traurig-schönes Märchen erzählt. Von der giftmüllgeplagten
       „terra di fuochi“ um Neapel erfährt man in der Begegnung eines engagierten
       Denkmalschützers mit einem sprechenden Büffelkälbchen.
       
       Jetzt kommt ein kongeniales Komplementärstück aus Portugal. Statt Giftmüll
       und Camorra geben die Portugal aufgebrummten EU-Sparauflagen und die daraus
       folgenden sozialen Verzerrungen programmatisch den Ton vor. Ja, zu Beginn
       stellt „1001 Nacht“ in an Buñuel geschulter, surrealistischer Manier sogar
       die Herren der ominösen Troika selbst als triebgesteuerte Lachnummern ins
       Zentrum.
       
       Im Weiteren aber fokussiert der Film die kleinen Leute in den Barrios und
       Vorstädten, Kranke und verarmte Kleinbauern, demonstrierende Polizisten
       oder chinesische Sexarbeiterinnen. Sie werden in immer wieder auch
       untereinander korrespondierenden Episoden sehr unterschiedlicher Länge,
       Intensität und Machart vorgestellt: als knappes Schriftinsert,
       dokumentarische Beobachtung, realistische oder theatrale Inszenierung.
       
       Viele der Geschichten, wie etwa die vom Familienhahn, dem von Nachbarn per
       Gericht das Krähen verboten wurde, fand der Regisseur Miguel Gomes in der
       Zeitung. Oft sind dabei die Bezüge zur aktuellen Krise eher atmosphärisch
       subtil als analytisch oder augenfällig plakativ. Und, aktuell: Sport gibt
       es auch, Fußball aber nur indirekt mit den Farben des Boavista FC im
       schwarz-weiß-gerauteten Leibchen eines Hündchens, das mehrere Episoden
       verbindet.
       
       ## Das Wettsingen der Buchfinken
       
       Eine der vielleicht schönsten und ausführlichsten betrifft einen sehr
       spezifischen Sport: In Konkurrenz singende Buchfinken, die von arbeitslosen
       Männern der Vorstädte selbst gefangen und trainiert und dann in
       tuchverhangenen Käfigen zum Wettträllern aufgestellt werden. Im Hintergrund
       dröhnen Maschinen im Anflug auf den Flughafen Lissabon.
       
       Die Kamera ist hier in beobachtender Manier dabei, während die vorher im
       Film eher spärlich angebrachten Texttafeln sich zu einem wahren Stakkato an
       Hintergrundinformationen verdichten: Ein nicht gerade publikumsfreundlicher
       Exzess des 1971 geborenen brillanten Filmkünstlers, der nach ersten
       Kurzfilm-Erfolgen 2012 mit „Tabu“ erst auf der Berlinale gefeiert wurde und
       dann auch in deutsche Kinos kam.
       
       Nun hat ihn die soziale Krise des Südens in ein wahres Opus magnum
       getrieben. Das Dilemma des damit verbundenen ästhetischen Programms erklärt
       Gomes in einer Film-im-Film-Szene zu Anfang. Da sitzt er selbst an einem
       Cafétisch und grübelt, wie er – „dümmste Idee seines Lebens“ – in seinem
       geplanten Film die Schließung einer Schiffswerft miterzählen könne, ohne
       dabei die Freude an der Kunst zu verraten: „Einen schönen Film […] voller
       wundervoller und verführerischer Geschichten, der zugleich ein Jahr lang
       Portugals aktuelle unglückliche Situation verfolgen (soll)…Dabei versteht
       doch jeder Idiot, dass das nicht geht.“
       
       Der Filmemacher im Film flieht. Und er löst die Situation, indem er die
       Autorschaft an eine Figur abgibt, die für ihre trickreiche List ebenso
       bekannt ist wie für die Verführungskunst ihrer Geschichten: Scheherazade
       und die von Indien über Persien ins Arabische migrierten „Geschichten aus
       1001 Nacht“, deren literarische Motive dann auch amüsant in einige Episoden
       ausstrahlen. Die überstrapazierten Orientalismen gehen einem allerdings
       zunehmend auf die Nerven. Auch sonst hätte eine Straffung der drei Teile,
       381 Minuten Länge, der künstlerischen Qualität nicht geschadet.
       
       ## Ungünstige Staffelung
       
       Nichtsdestotrotz ist „1001 Nacht“ ein beglückender Höhepunkt des
       europäischen Kinos – und großartig, dass er nun ein gutes Jahr nach seinem
       Festivalpremiere in Cannes auch ins reguläre Kino kommt. Zu fragen wäre
       nur, ob die angekündigte Zwei-Wochen-Staffelung der einzelnen Starts dem
       Sehglück guttut, da sich der ganze inhaltliche und formale Reichtum des
       Films doch erst im Kontext des Gesamtgefüges entfaltet. Und wessen
       Erinnerungsvermögen überspannt schon zwei Wochen?
       
       Andererseits lohnt die zauberhafte Qualität der farbsatten 16-mm-Bilder
       schon für sich den Kinobesuch. Miguel Gomes selbst widmet den Film am Ende
       seiner zur Zeit der Dreharbeiten achtjährigen Tochter mit dem großzügigen
       Wunsch: „… möge sie sich davon nehmen, was ihr gefällt.“
       
       26 Jul 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Silvia Hallensleben
       
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