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       # taz.de -- Polnisches Kino: History-Horror aus der Grube
       
       > In „Dibbuk – Eine Hochzeit in Polen“ erzählt der Regisseur Marcin Wrona
       > klug und witzig von Gespenstern der Vergangenheit.
       
   IMG Bild: Die Festgesellschaft bechert, um dem Horror zu entkommen
       
       Es beginnt mit einem Bagger. In mehreren Einstellungen sehen wir ihn durch
       ein menschenleeres polnisches Dorf rattern. Das Wetter ist trüb, und aus
       dem Off schallt eine einsame Klarinette ins Bild.
       
       Er rollt an morschen Fassaden vorbei, biegt um enge Kurven, zieht seine
       Bahn sicher durch dieses triste Gelände, ganz so, als gehorche er seinem
       eigenen Bewusstsein, als würde er sein eigenes geheimes Ziel ansteuern.
       
       Tatsächlich kommt mit diesem Bagger ein Fluch über die Welt in Marcin
       Wronas Spielfilm „Dibbuk – Eine Hochzeit in Polen“. Denn die Grube, die der
       zugezogene Piotr (Itay Tiran) eigentlich für den Pool ausheben wollte,
       offenbart sich als Grabstätte. Ein menschliches Skelett liegt hier
       bestattet, ausgerechnet auf dem Grundstück, auf dem er mit Zaneta
       (Agnieszka Żulewska) die gemeinsame Zukunft verbringen will. Und das alles
       geschieht auch noch am Vorabend ihrer Hochzeit.
       
       Ein klassisches Horrorszenario nutzt der polnische Regisseur: Mit den alten
       Knochen wird der Geist der Leiche freigeschaufelt. Hana hieß das jüdische
       Mädchen, das zur Zeit des Dritten Reiches umgekommen ist und das jetzt als
       Dibbuk, als eine aus dem jüdischen Volksglauben stammende
       Totengeisterfigur, die Gegenwart befällt, indem sie während der Hochzeit in
       Piotrs Körper einfährt und aus ihm heraus zu sprechen beginnt – in
       jiddischer Sprache.
       
       ## Die Logik der Grube
       
       Selbstverständlich deuten die Zeichen hier in Richtung jener Ereignisse der
       polnischen Geschichte, denen gegenüber kein Narrativ angemessen sein kann,
       auch wenn Wronas Film auf der Oberfläche zunächst keine Auseinandersetzung
       mit der Schoah im Sinn zu haben scheint. Deutet man die Zeichen aber erst
       einmal so, dann ist auch weniger der Umgang mit der finsteren Geschichte
       selbst interessant als der Umgang mit der Inadäquatheit solchen Umgangs
       überhaupt. Und aus dieser Perspektive betrachtet ist „Dibbuk – Eine
       Hochzeit in Polen“ tatsächlich eine kluge Auseinandersetzung mit dem
       prekären Verhältnis von Gegenwart und Vergangenheit.
       
       Obwohl sich auf der Hochzeitsfeier, die den Hauptteil des Films einnimmt,
       die zentrale Gespenstergeschichte immer weiter ins Dramatische ausfaltet,
       obwohl Piotr immer öfter mit epileptischen Anfällen zu Boden geht und immer
       deutlicher die Gestalt Hanas durch den Raum schweben sieht, sind die
       eigentlich spannenden Momente jene, in denen versucht wird, die Grube
       wieder zuzuschütten. Die Erde ist zu schwer, die Schaufel zu zerbrechlich.
       Dabei liegt auf diesen Momenten nicht das geringste dramaturgische Gewicht.
       
       Fast wirkt das absurde Spektakel in den Innenräumen, die sich sukzessive
       bewusstlos bechernde Festgemeinde und der immer fremder werdende Piotr wie
       ein gigantisch exaltiertes Ablenkungsmanöver gegen den eigentlichen Horror:
       von der Eigenlogik dieser Grube, aus der die Vergangenheit entstieg und die
       sich nun nicht mehr zuschütten lässt; von der geheimnisvollen
       Intentionalität des Baggers, der sie aushob.
       
       „Dibbuk“ ist eine Art filmische Zentrifuge, die mit der grotesken und im
       wahrsten Sinne grauenvollen Hochzeitsfeier derart viel Fahrt aufnimmt, dass
       sie ihre eigentlich schauderhaftesten Momente an den Rand schleudert.
       Dorthin, wo sie uns kaum auffallen und wo sie deshalb erst recht ihren
       Schauder entfalten.
       
       Der Bagger und die Grube – bald schon sind alle Hochzeitsgäste zu besoffen
       oder zu besessen, um sich noch um sie scheren zu können – sind die
       zentralen gespenstischen Grenzvermittler zwischen Vergangenheit und
       Gegenwart. History-Horror könnte man das nennen. Und wenn „Dibbuk“ so ein
       Film ist, dann deshalb, weil man sich nicht vorstellen möchte, was passiert
       wäre, hätte man noch tiefer gegraben.
       
       31 Jul 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Lukas Stern
       
       ## TAGS
       
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