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       # taz.de -- Geschichte des Herrenanzugs: Herrschaftsverhältnisse verschleiern
       
       > Anja Meyerrose zeichnet nach, wie der Herrenanzug zum universalen
       > Kleidungsstück wurde. Einst machte er Unterschiede unsichtbar.
       
   IMG Bild: Olympia 1968: Athleten in Anzügen
       
       Diese modesoziologische Studie verdient es, bemerkenswert genannt zu
       werden. Denn „Herren im Anzug“, mit der Anja Meyerrose bei Detlev Clausen
       promoviert hat, vollzieht eine nachhaltige Revision der Modegeschichte. Der
       Männeranzug, kann die Autorin am Schluss ihrer Untersuchung bilanzieren,
       „hat eine Geschichte, eine andere, als sie in vielen Modebüchern steht, wo
       geschrieben wird, dass er sich verändert, ohne zu fragen, warum sich die
       Männerkleidung verändert. Die Gründe für die Veränderung liegen in seiner
       Produktion als Ware.“
       
       Indem Anja Meyerrose die Geschichte der Produktion der Männerbekleidung
       nachvollzieht, kann sie gleich zwei Standards zur Geschichte des
       bürgerlichen Anzugs ad acta legen: Nicht Frankreich und nicht die
       Französische Revolution haben die Männerbekleidung entscheidend beeinflusst
       und auch nicht die englische Maßschneiderei, obwohl England eine zentrale
       Rolle bei der Entwicklung und weltweiten Verbreitung des Anzugs spielte.
       Daher unterzieht Anja Meyerrose auch den Begriff der Bürgerlichkeit einer
       Revision, wie ihn eine deutsche historische Forschung formuliert, für die
       die gleichmacherische Kleidung der Männer aus Frankreich kommt.
       
       Ihre Untersuchung ist also auch ein Beitrag zur Begriffsgeschichte und der
       Frage, wie Gesellschaften vergleichend analysiert werden können. In allen
       von ihr untersuchten Ländern – England, Frankreich, Deutschland und den
       Vereinigten Staaten – gilt aber, dass die Frauen noch immer ihre Kleidung
       selbst schneiderten, als die Männer ihre Kleidung schon vorgefertigt von
       der Stange kauften.
       
       Folglich erzählen die „Herren im Anzug“ auch von einem wichtigen Kapitel
       Konsumgeschichte. Dass sie von der Industriegeschichte handeln, versteht
       sich von selbst: Die Produktion von Männerkleidung war ein ganz
       wesentlicher Motor der industriellen Revolution.
       
       ## Der Aufstieg der Merchants
       
       Doch schon zuvor ist im England des frühen 18. Jahrhunderts zu beobachten,
       wie sich eine uniforme standardisierte Kleidung durchsetzt, an der sich
       weltweit Männer zu orientieren beginnen. Erfinder dieses Kleidungsstils
       waren die merchants, wie sie Shakespeare im „Kaufmann von Venedig“
       auftreten lässt. Dabei ist vor allem Shylock interessant, der seine
       Geschäfte – anders als der venezianische Kaufmann – unabhängig von
       persönlichen Beziehungen, allein in Hinblick auf seinen Gewinn macht. Als
       Jude definiert ihn Shakespeare als den Fremden, der mit Fremden Geschäfte
       macht. Das aber ist der Kaufmann der Zukunft, und in der dem Freihandel
       aufgeschlossenen englischen Gesellschaft findet dieser betriebsame merchant
       gesellschaftliche Anerkennung und Aufnahme in die herrschende Gesellschaft.
       
       Die merchants bringen Waren aus fremden Ländern nach England und sprengen
       damit berufsständische Grenzen, etwa indem die aus den Niederlanden
       emigrierten protestantischen Kaufleute die Baumwollproduktion nach
       Manchester brachten. Anders als bei Wolle und Leinen unterlag die
       Verarbeitung von Baumwolle, da sie bislang unbekannt war, keinen
       einschränkenden Regulierungen. Damit blühten Gewerbe und Handel auf, und
       immer mehr betriebsame Männer suchten in England ihr unternehmerisches
       Glück. Weder durch geografische oder gesellschaftliche Herkunft noch durch
       Religion geeint, sahen sie in einer einheitlichen Außendarstellung das
       probate Mittel, zuverlässig erkannt und anerkannt zu werden.
       
       Die neuen industriellen Zentren der Baumwollindustrie etablierten sich im
       ländlichen England der Gentry. Sie spielte in England eine besondere Rolle
       – auch als modisches Vorbild −, da sich die englische Gesellschaft nicht
       nach dem Hof, sondern nach dem Land orientierte, wo Gentry und merchants
       profitables Gefallen aneinander fanden. Dabei fusioniert die bequeme, fürs
       Reiten und Jagen geeignete Kleidung der Gentry mit der schlichten, in
       gedeckten Farben gehaltenen Kleidung der merchants zur Alltagsbekleidung
       einer neuen Bourgeoisie. Es waren die Stoffe, die sie trugen, die nun
       Aufsehen erregten und den Luxus ausstellten.
       
       Bürgerlichkeit entsteht in England also nicht im Sinne eines
       Klassenaufstiegs und der Befolgung bürgerlicher Werte – es gab hier keinen
       Kampf zwischen Adel und Bourgeoisie −, sondern dadurch, dass speziell die
       Unterschiede, die heute als religiöse, kulturelle oder ethnische bezeichnet
       werden, im einheitlichen schlichten Anzug unsichtbar wurden. Ihn zu tragen
       stand prinzipiell jedem offen, was dazu beitrug, die veränderten
       Herrschaftsverhältnisse zu verschleiern: „Der dress coat war, im Gegensatz
       zu Hofkleidung, Militäruniform oder Zunftkleidung, prinzipiell für jeden
       frei wählbar, wenn der Mann den Preis dafür zahlen konnte.“
       
       ## England, nicht Paris, war bestimmend für Männerkleidung
       
       Auch in Frankreich hatte sich schon im 17. Jahrhundert ein betriebsames
       Bürgertum aus Kaufleuten, Großhändlern und Gewerbetreibenden entwickelt.
       Ihr Lebensstil ist in den Stücken Molières zu entdecken. Da dem Hof hier
       große Bedeutung zukam, mussten die bürgerlichen Männer einen Kompromiss mit
       dessen Lebensstil eingehen: der dress coat konnte sich hier erst nach 1835
       durchsetzen. Die Textil- und Kleiderproduktion in Frankreich blieb eine
       Luxusproduktion. Mit der roten Wollmütze und den weiten langen Hosen hatten
       die berühmten Sans culotten, denen die modernen Männer angeblich ihre
       Kleider verdanken, aus ihrer Kleidung eine sichtbare politische Waffe
       gemacht und damit das glatte Gegenteil des dress coat. In ihrem Stil
       kleideten sich Handwerker, Gesellen, Kleinhändler und Manufakturarbeiter.
       Doch gerade politisch spielten die radikalsten Revolutionäre des Jahres
       1789 schon nach dem Sturz Robbespierres 1794 keine Rolle mehr.
       
       Erst mit der Regierung Louis Philippes („enrichez-vous!“) kam die
       gesellschaftliche Anerkennung der Bourgeoisie. Da war aber längst nicht
       mehr Paris, sondern England bestimmend für die Männerkleidung. „Gerade
       wegen der Rückständigkeit der im Absolutismus geförderten
       Produktionsverhältnisse“, schreibt Anja Meyerrose, „konnte sich Paris als
       die Modehauptstadt für Frauenkleidung auch über die Revolutionszeit hinaus
       behaupten.“ Dass die deutsche Modegeschichte den Ursprung bürgerlicher
       Kleidung dennoch in Frankreich verortet, erklärt sich dadurch, dass viele
       Deutsche den dress coat erstmals in Paris sahen oder über ihn in
       französischen Journalen lasen. In den deutschen Staaten, die in Hinblick
       auf die wirtschaftliche Entwicklung gegenüber Frankreich und England extrem
       rückständig waren, verlief denn auch die Anerkennung in der Gesellschaft
       gerade nicht über den bürgerlichen Anzug − es gab ja nirgendwo
       Bürgerlichkeit −, sondern über die Uniform des Offiziers.
       
       Die Uniform stand aber wie das militärische System generell für
       Unterordnung, während der dress coat, die Uniform der Bourgeoisie,
       Einordnung privilegierte und ermöglichte. Aus der Militäruniform
       entwickelte sich als anerkannteste Bekleidung der deutschen Gesellschaft
       die jeweilige Uniform der Berufe. (Was sich noch in den Fotografien August
       Sanders von deutschen Menschen des 20. Jahrhunderts zeigt, möchte man
       ergänzen.) Männer ohne Berufsuniform wurde der gesellschaftliche Respekt
       verweigert. Zu ihnen gehörten auch die Arbeiter, die den schlichten Anzug
       trugen. Und es gehörten hierzu, da die Industrialisierung vom Staat ausging
       und die alten Eliten der Großagrarier und der Beamtenbürokratie ihre
       herrschende Stellung behielten, auch die von diesen Eliten abhängigen
       Industriellen. Auch sie erfuhren, dass Anerkennung in Deutschland nicht
       über Besitz erfolgte und auch nicht wirklich über Bildung oder Arbeit,
       sondern über den Beruf.
       
       ## Kleider machen Deutsche
       
       Ohne gesellschaftliches Ansehen blieben daher auch sehr gebildete Männer,
       sofern sie Demokraten, Sozialisten oder Juden waren. Vor allem Letzteren
       war der Zugang zu vielen Berufen versperrt. Gleichzeitig wurden die
       Berufsfelder, die ihnen offenstanden wie das Bankgeschäft, die Warenhäuser
       und die Kleidungsindustrie, als jüdisch-bourgeois geschmäht.
       
       Verschärft wurde die Situation dadurch, dass die Deutschen überhaupt erst
       mal zu Deutschen werden und sich in die modernen Strukturen eines
       Industriestaats einfinden mussten, der schon 1870 drittgrößter
       Warenexporteur der Welt war und in seiner Abhängigkeit von ausländischen
       Arbeitskräften nach den USA an zweiter Stelle stand. In dem bislang so
       nicht gekannten, enormen Kommen und Gehen fremder Arbeitskräfte beobachtete
       man auch die Deutschen selbst, die in Massen auswanderten, etwa in die USA.
       
       Dort war nun längst die Produktion des in England entwickelten Anzugs
       radikal modernisiert worden. Seine dadurch erlangte neue Bedeutung und
       weite Verbreitung wirkte auf die europäischen Gesellschaften zurück. Schon
       unter englischer Kolonialherrschaft entwickelte sich in Amerika das
       betriebswirtschaftliche Denken und die kapitalistische Produktionsweise
       sogenannter merchant farmers, selbstständiger, Handel treibender Farmer,
       die für den Export, etwa nach England, anbauten. Sie trugen
       ready-to-wear-suits in guter Stoffqualität, die sie bestellen konnten und
       die ihnen im ganzen Land ausgeliefert wurden. Dieses sowohl in der
       Stofffabrikation wie der schneidertechnischen Herstellung restlos
       industrialisierte Produkt stieß in der amerikanischen Gesellschaft auf
       einen Massenmarkt, denn Arbeiter, Kaufleute, Farmer, Akademiker und
       Unternehmer, sie alle trugen diesen Anzug.
       
       ## „Big business men“ und der Tuxedo
       
       In England selbst führte die durch Amerika beeinflusste Intensivierung der
       maschinellen Produktion zu einer Zunahme der Klassenspannungen. Daraus
       folgenden Abgrenzungsanstrengungen in der Upperclass ergänzten sich bestens
       mit dem Versuch der freigesetzten Schneider, ihr Heil erneut in der
       Luxusproduktion zu suchen. Sie sind die Urheber der Uniform des Gentleman,
       des Maßanzugs. Dieser brachte eine Menge geheimes, eben dem wahren
       Gentleman vorbehaltenes Wissen mit sich, wie was wann und wo getragen oder
       nicht getragen werden darf. Herrschaftswissen, das den Besuch der richtigen
       Schulen und Universitäten selbstredend miteinschloss. Dieser invention of
       fashion tradition genannte Prozess gelang den Briten so gut, dass die viel
       wichtigeren amerikanischen Einflüsse auf die Männerkleidung bis heute kaum
       beachtet wurden.
       
       Das wichtigste Zentrum der Männerbekleidungsindustrie war New York, wo die
       big business men wie John D. Rockefeller oder J. P. Morgan auftraten. Mit
       ihnen wird nun ein besonderes Kleidungsstück in Verbindung gebracht: der
       Tuxedo, eine nach dem Tuxedo Club benannte neue Anzugsjacke ohne Schöße.
       Die big business men liebten es, ihr Geld zu zeigen. Sie kauften ihre
       Anzüge in der Savile Row, nicht weil sie Gentlemen waren (eher alles andere
       als das), sondern weil dies die teuersten Männeranzüge waren, die für Geld
       irgendwo zu bekommen waren.
       
       Diesem Phänomen, so möchte man Anja Meyerrose ergänzen, huldigen heute
       Fußballstars wie Pierre-Emerick Aubameyang, weswegen Labels wie Vêtement,
       das Street und Sports Wear zu schwindelerregenden Preisen anbietet, heute
       Kult sind. Hier kann, wie Anja Meyerrose sagt, „bis heute daran, wer wann
       welche Bekleidung warum trägt, immer noch die weitere Transformation
       moderner Klassengesellschaften abgelesen werden“.
       
       21 Aug 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Brigitte Werneburg
       
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