URI: 
       # taz.de -- Neuer Film von Pedro Almodóvar: Aus den Bildern atmet etwas Gutes
       
       > Buntes Geschirr und bemalte Fliesen: „Julieta“ von Pedro Almodóvar zeigt
       > eine verlassene Mutter in einer atmosphärischen Welt.
       
   IMG Bild: Konfrontation in der Küche: Adriana Ugarte (links) und Rossy de Palma in „Julieta“
       
       Der spanische Regisseur Pedro Almodóvar zeigt in seinem Film „La flor de mi
       secreto“ (Mein blühendes Geheimnis) von 1995 einen denkwürdigen Dialog
       zwischen Mutter und Tochter: Die frisch verlassene und nervlich abgekämpfte
       Schriftstellerin Leo Macías (Marisa Peredes) wird von ihrer verzopften
       Mutter (Chus Lampreave) in den Kreis der „Kühe ohne Glocken“ eingeführt.
       
       Glockenlose Kühe, das sind jene verirrten Frauenzimmer ohne Mann,
       orientierungslos umherwandernde, die ihren Anschluss an die Herde verloren
       haben. Die einzige Möglichkeit für eine Frau in solch einer Situation:
       zurück ins Dorf, zu den Nachbarinnen, der Handarbeit, den Gebeten.
       
       Gewissermaßen ist auch Julieta – in der frischgebackenen Variante gespielt
       von Adriana Ugarte und in der reiferen von Emma Suárez – eine Kuh ohne
       Glocke. Vor allem ist sie eine Mutter ohne Tochter. Zwölf Jahre ist es her,
       dass sich ihre gerade volljährig gewordene Ántia (Blanca Parés) in die
       Berge verabschiedet hat, um an einem dreimonatigen spirituellen Retreat
       teilzunehmen. Hier fasst sie den Entschluss, mit der Mutter zu brechen.
       Seither gibt es keinen Kontakt.
       
       Ántias Perspektive berücksichtigt Pedro Almodóvars neuer Spielfilm
       „Julieta“ dabei nicht, dem Titel entsprechend stellt er sich ganz an die
       Seite seiner vergehenden Hauptprotagonistin. Und die erzählt. Wie in vielen
       Filmen Almodóvars, beispielsweise in „Los abrazos rotos“ (Zerrissene
       Umarmungen) von 2009, arbeitet der spanische Regisseur mit ausschweifenden
       Rückblenden. In „Julieta“ wird diese durch eine Zufallsbegegnung
       vorbereitet.
       
       In Madrid trifft Julieta nämlich auf Beatriz (Sara Jiménez), Ántias beste
       Freundin aus Teenagertagen. Die erzählt ihr, sie habe Ántia am Comer See
       getroffen, zum Shoppen sei sie dort gewesen, eine Mutter dreier Kinder.
       Julieta bugsiert das indirekte Lebenszeichen der Vermissten in verdrängte
       Tiefen. Es ist, als hätte sie über die gravierende Kerbe, welche die
       Vergangenheit in ihr Leben geschlagen hat, nur einen bunt gemusterten
       Teppich gelegt, der bei Betreten eine gefährliche Fallgrube preisgibt.
       
       ## Blond toupierte junge Lehrerin
       
       Julieta beschließt, sich freizuschreiben mithilfe des Blicks in den
       Rückspiegel. In ihm ist sie die blond toupierte junge Lehrerin der
       klassischen Literatur, die ihren Schülern die griechische Mythologie
       näherbringt und während einer Zugreise dem hochattraktiven Fischer Xoan
       (Daniel Grao) begegnet, Ántias Vater.
       
       Die Welt, die Pedro Almodóvar nun zeigt, ist eine, an der sich kaum
       sattzusehen ist. Es ist das bunte Geschirr der Küstenregion, es sind die
       bemalten Fliesen in der Küche und das Meer, das direkt vor den Fenstern zu
       fließen scheint. Etwas atmet aus diesen Bildern, etwas Gutes, das Almodóvar
       – Meister der Atmosphären kreierenden Ausstattung – dennoch immer wieder
       mit dem Unheimlichen kontrastiert.
       
       Xoans Haushälterin Marian (die großartige Rossy de Palma) ist so ein
       schwarzes Loch, das sich verdächtig durch die fröhliche Wohnung des
       Geliebten bewegt. Übrigens ist dessen Ehefrau gerade verstorben, viele
       Jahre habe sie im Koma gelegen. Merkwürdige Bemerkungen, die Marian in die
       Worte einer Prophezeiung hüllt.
       
       ## Ein Band siechender Frauen
       
       Sowieso ist „Julieta“ von einem Band siechender Frauen inmitten
       herrlichster Landschaften durchzogen: Auch Julietas eigene Mutter ist eine
       bleiche Bettlägerige, deren Mann einen zweiten Frühling mit der
       jugendlichen Hausperle erlebt. „Julieta“ berichtet von rätselhaften
       Leidensketten, die wissend von einer Frau zur nächsten weitergegeben
       werden; von Schicksalen, die sich in stickiger, längst verbrauchter Luft
       erfüllen. Kuhglockenschicksalen.
       
       Es sind lähmende Vorhersagen, denen Pedro Almodóvar bisher immer etwas
       Lebendiges entgegenzusetzen wusste. Und er weiß es auch in „Julieta“, einem
       nicht sehr großen, doch sehr souveränen Film.
       
       4 Aug 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Carolin Weidner
       
       ## TAGS
       
   DIR Drama
   DIR Spanien
   DIR Historienfilm
   DIR Film noir
   DIR Spielfilmdebüt
   DIR Filmfestspiele
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Film über das post-francistische Spanien: Halluzination mit Vögeln
       
       Sehr gutes Gespür für Geschichten und ihre Settings: „La isla mínima“ von
       Alberto Rodríguez erzählt auch von der Zeit nach der Diktatur.
       
   DIR Historienfilm von Mika Kaurismäki: Aufklärerin auf verlorenem Posten
       
       Mika Kaurismäki porträtiert in „The Girl King“ die progressive schwedische
       Königin Kristina als Antiheldin par excellence.
       
   DIR Retrospektive im Berliner Kino Arsenal: Feministische Ikone des Films
       
       Ida Lupino war nicht nur eine große Schauspielerin. Sie führte auch als
       erste Frau in Hollywood Regie. Das Arsenal zeigt im Juli eine
       Retrospektive.
       
   DIR Regisseurin Borchu über Spielfilmdebüt: „Die Frau ist extrem spannend!“
       
       Die Regisseurin Uisenma Borchu spricht über Grenzen der Weiblichkeit bei
       der Filmförderung und ihren Spielfilm „Schau mich nicht so an“.
       
   DIR Kolumne Cannes Cannes: Rumpeln im Dunkeln
       
       Grusel, der sich konstant steigert: Kristen Stewart sieht in Assayas
       „Personal Shopper“ Gespenster. Und Almodóvar recycelt Motive aus seinen
       Filmen.