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       # taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Schönen Gruß von der Erde​
       
       > Wie ein Zeichen senden, ein unverkennbares Signal, universal
       > verständlich? Ein kleiner Leitfaden für die Verständigung mit
       > Außerirdischen.
       
   IMG Bild: Das größte Teleskop (der Erde), in China
       
       Ein Unwetter kommt auf, viel stärker als erwartet. Die Mannschaft war nicht
       darauf vorbereitet. Das Schiff sinkt, doch du überlebst, an ein Wrackteil
       geklammert. Erst nach Tagen wirst du an einer unbekannten Küste angespült.
       Ein Rettungstrupp wird dich suchen. Wie machst du dich bemerkbar?
       
       Das Problem ist nicht nur, dass du mitteilen musst, dass du hier bist. Du
       musst das mit den Mitteln tun, die deine Umgebung dir bietet, und zwar so,
       dass deine Signale von den Äußerungen der Natur zu unterscheiden sind. Sie
       müssen erkennbar von Menschen stammen, sie müssen neu und universal
       verständlich sein, denn du weißt nichts über die Sprache und Kultur der
       Suchmannschaften.
       
       Camper, Seeleute und Flugzeugpiloten in aller Welt kennen die Antwort. Sie
       lautet: deutliche Muster und Lichtzeichen. Aus Steinen arrangierte
       geometrische Figuren, etwa ein Dreieck oder ein SOS; oder ein
       reflektierender Gegenstand, um rhythmische Blinksignale zu erzeugen; oder
       ein Signalfeuer.
       
       Wenn du den Rettern einen Suchpfad weisen willst, lege kleine Steinhügel,
       schnitze oder brenne ein Muster in die Rinde von Bäumen. Doch was machst
       du, wenn es um kompliziertere Mitteilungen geht? Etwa dass sie Insulin
       abwerfen sollen oder dass hier kein sicherer Landeplatz ist oder dass du
       Richtung Nordwest ins Landesinnere aufbrechen wirst, um nach Nahrung zu
       suchen?
       
       Machen wir es noch schwieriger: Du weißt nicht, wie die Suchmannschaft
       operiert – aus der Luft, zu Fuß, vom Meer aus oder mithilfe von
       Satellitenbildern. Ja, du weißt nicht einmal, ob überhaupt jemand sucht. Es
       kann Monate oder Jahre – womöglich Jahrzehnte oder Jahrhunderte – dauern,
       bis dein Zeichen entdeckt wird. Gehen wir außerdem davon aus, dass du nicht
       einmal weißt, ob die Suchenden menschliche Wesen sein werden. Du weißt
       nichts über ihre Anatomie und ihre Technologie, weißt nicht, was genau und
       wie sie suchen.
       
       ## Ein Zeichen senden
       
       Also, wie ein Zeichen senden? Die Wasserfläche um unsere kleine Insel
       erstreckt sich in ozeanische Weiten, die sich nach Lichtjahren bemessen.
       Das ist das Dilemma von uns Erdbewohnern.
       
       Als wir begonnen haben, die Dimensionen und die Struktur des Sonnensystems
       zu verstehen, erkannt haben, dass es irgendwo da draußen andere, der
       unseren ähnliche Welten geben könnte, fingen wir auch an, über deren
       Bewohner zu spekulieren. Und darüber, wie man mit ihnen Kontakt aufnehmen
       könnte.
       
       Während wir uns früher im triumphalen Zentrum des Universums wähnten, sind
       wir heute nur noch „Isolatoes“, wie der US-amerikanische Schriftsteller
       Herman Melville uns nannte: Bewohner einer isolierten Sterneninsel, deren
       unvorstellbare Einsamkeit innerhalb des Alls mit der eines winzigen Atolls
       in der Weite des Pazifiks vergleichbar ist.
       
       Als wir den Mars und seine Monde studieren konnten, behaupteten einige
       Astronomen, sie könnten Kanäle, Bewässerungsgräben und Wüstenstädte
       erkennen – bleich schimmernde Zeugnisse einer weit entfernten Insel. Und
       unter den Wolkenschichten der Venus wurden üppige Dschungellandschaften und
       Inselgruppen vermutet, fast wie in Brasilien oder am Kongo.
       
       Das aschgraue Licht, das zuweilen auf der Nachtseite der Venus zu
       beobachten ist, führte der deutsche Astronom Franz von Paula Gruithuisen
       (1774–1852) auf „allgemeine Feuerfeste der Venusbewohner“ zurück, die bei
       „Regierungsveränderungen oder religiösen Perioden gefeiert werden möchten“.
       Von Gruithuisen gibt es auch wunderbare Skizzen von skelettartig angelegten
       Städten, die er in einem Mondkrater entdeckt zu haben glaubte. All das
       legte die Vermutung nahe, dass die Mars- oder Venusbewohner uns ebenfalls
       sehen konnten. Und damit stellte sich die Frage, wie man mit ihnen
       kommunizieren könnte.
       
       Die erste Antwort auf diese Frage erfolgte noch ganz im Sinne der
       Schiffbrüchigen. Der große deutsche Mathematiker Carl Friedrich Gauß
       (1777–1855) regte den Bau eines riesigen Spiegeltelegrafen an. Der von ihm
       entwickelte „Heliotrop“ konnte Sonnenlicht über große Entfernungen
       reflektieren und war zunächst für Vermessungszwecke vorgesehen. Ein
       Riesenheliotrop mit 100 Spiegeln sollte Lichtsignale „nach außen“ senden.
       
       ## Aufmerksamen Marsianern zuzublinzeln
       
       Es wäre ein Pendant zum Jantar Mantar in Jaipur, Indien, gewesen – einer
       gigantischen, aus 14 Gebäuden bestehenden Anlage für astronomische
       Messungen. Eine ähnliche Idee wurde ebenfalls Gauß – und dem
       österreichischen Astronomen Joseph von Littrow – zugeschrieben: der Bau
       eines riesigen, in geometrischen Figuren angelegten Kanals in der Sahara,
       den man mit Kerosin füllen und nachts in Brand stecken sollte, damit das
       Feuer dann auf dem Mars zu sehen wäre. Oder die Bepflanzung von Feldern in
       Sibirien in Form eines Hypotenusenquadrats, das so riesig dimensioniert
       sein sollte, dass es mit einem guten Teleskop von unserem Nachbarplaneten
       aus sichtbar wäre.
       
       Im späten 19. Jahrhundert kam das elektrische Licht dazu: Der französische
       Astronom Camille Flammarion (1842–1925) dachte an eine Riesenfläche
       künstlichen Lichts in der Sahara, das aufscheinen sollte, wenn der Mars in
       der richtigen Position steht. Und sein Kollege Louis-Sébastien Mercier
       erwog sogar den Bau einer mit einem Riesenspiegel versehenen Elektrolampe
       mitten in Paris – passenderweise auf dem Champ de Mars.
       
       Da damals jedoch schon der Bau des Eiffelturms viele Pariser in Rage
       versetzt hatte, rechnete Mercier mit einem gewissen Widerstand gegen eine
       Anlage, die so groß wie ein Stadion sein und das hellste Licht der Erde
       erzeugen sollte. Deshalb schlug er vor, zwei Spiegel auf einem Berg zu
       installieren, um das Licht der untergehenden Sonne auf die Schattenseite zu
       lenken, von wo es in Richtung Mars leuchten sollte, da es vor dem dunklen
       Hintergrund einen besseren Effekt erzielen würde.
       
       Der US-amerikanische Physiker Robert W. Wood (1868–1955), ein bedeutender
       Forscher auf dem Gebiet der Wellenoptik und speziell des ultravioletten
       Lichts, schlug für die Wüste ein gigantisches Gebilde aus Fächern von
       schwarzem Stoff vor, die mithilfe eines Motors geöffnet und geschlossen
       werden könnten. Damit wollte er ein Netz von Lichtpunkten erzeugen, um
       aufmerksamen Marsianern sozusagen zuzublinzeln. Und der Russe Konstantin
       Ziolkowski (1857–1935), der große frühe Pionier der Raumfahrt, der an eine
       kosmische Zukunft der Menschheit glaubte, hatte noch mehr verspiegelte
       Flächen im Sinn. Wäre für die „Marsmanie“ der damaligen Jahrhundertwende
       etwas mehr Kapital verfügbar gewesen, hätten wir heute irgendwo auf einem
       Wüstenplateau vielleicht ein verlassenes Riesenfeld mit verstaubten, schräg
       gestellten Reflektoren, in denen sich der Himmel spiegelt – ein Monument
       der Leere und der Vergeblichkeit.
       
       Was all diese frühen Ideen und Vorschläge gemeinsam hatten, war die
       Kombination aus naturwissenschaftlichem Pioniergeist und philosophischer
       Faulheit. Die ursprünglichen Ideen waren brillant. Sie lesen sich wie
       Anregungen für Land-Art-Projekte und minimalistische Skulpturen im
       Großformat, aber mit der Absicht, Beobachter in einer anderen Welt zu
       erreichen.
       
       ## Sie sind älter als wir und kälter
       
       Die gedankliche Faulheit ist offensichtlich: die Annahme, dass benachbarte
       Welten von Leuten bewohnt würden, die uns mehr oder weniger ähneln, und
       dass, sobald wir ihnen Beweise für unsere Existenz geliefert hätten, die
       bloße Gegenseitigkeit eine Art Konversation ermöglichen würde. Die
       Kommunikation würde wohl, wie Gauß annahm, mittels jener mathematischen
       Betrachtungen und Ideen beginnen, die wir und sie gemeinsam haben.
       
       All diese Riesenanlagen von Spiegeln, die ganze Berghänge bedecken, sollten
       Kontakt mit Wesen herstellen, die uns nicht unähnlich, aber eben älter und
       kälter waren – und uns wahrscheinlich „weit überlegen“, wie Flammarion
       vermutete. Man fantasierte also über irgendwelche Super-Kants, die von
       ihrem Schreibtisch aus auf die Marskanäle blicken, hinter denen sich der
       höchste Berg des Mars, der Olympus Mons, erhebt.
       
       Der Franzose Charles Cros (1842–1888) ist heute – wenn überhaupt – als
       Autor von entzückend frustrierenden Gedichten und als einer der Verlierer
       der Mediengeschichte bekannt. Er war ein Pionier der Farbfotografie und
       Erfinder eines Phonographen, wobei er jedoch beide Erfindungen mehr oder
       weniger gleichzeitig mit erfolgreicheren Projekten anderer anmeldete. Sein
       Phonograph mit dem wunderbaren Namen Paléophone („alte Stimme“) glich in
       vielerlei Hinsicht dem Zinnfolienphonographen, den Thomas Edison 1878
       patentieren ließ. Cros war ein Schriftsteller, der abseitige Themen mit
       einem kryptisch-lakonischen Stil kombinierte. Neben seinen
       kommunikationstechnischen Tüfteleien und der absichtlich gescheiterten
       Verständigung mit seinen lesenden Mitmenschen fand er Zeit für eine
       Petition an die französische Regierung mit der Forderung,
       Kommunikationsversuche mit den Marsbewohnern zu finanzieren.
       
       In seiner Schrift „Étude sur les moyens de communication avec les planètes“
       griff Cros auf das inzwischen allseits anerkannte Grundprinzip eines
       riesigen Parabolspiegels zurück, der Lichtsignale in Richtung anderer
       Planeten aussenden sollte. Aber er ging einen Schritt weiter und warf die
       Frage auf, wie man Informationen übermitteln könnte, wenn die
       Kommunikationswege erst einmal eröffnet seien. Zunächst dachte er an eine
       Abfolge rhythmischer Lichtblitze, die kodierte Zahlen signalisieren, und
       daran, mittels dieser Zahlen auch Bilder zu übermitteln. Er zog in
       Betracht, dass eine Zahlenfolge binäre Bildpunkte – schwarze oder weiße –
       in Linien auf einem strukturierten Gitter übertragen könnte und dass man
       dafür eher ganze Zahlen verwenden sollte, als all die Signale einzeln zu
       blinken – das heißt beispielsweise, dass statt „6-1 2-0 3-1 1-0“
       „XXXXXX00XXX0“ geblinkt würde.
       
       Wer das heute liest, wird erkennen, dass Cros eine Version der Technik
       entwickelt hat, die wir heute Lauflängenkodierung nennen: eine Methode zur
       Kompression und Transmission von Bildern, wie wir sie von Faxgeräten,
       frühen Rastergrafiken und den ersten Fernsehtechnologien kennen. Cros
       brauchte für sein Vorhaben eine Kodierungsmethode, um Bilder – und
       potenziell andere Kommunikationsträger – in Material für seine Apparatur zu
       verwandeln. Als Vorbild dienten ihm dabei andere „analoge
       Notationsverfahren, um Muster als Zahlenfolgen wiederzugeben“, etwa jene
       von Web- und Stickereiapparaten. „Es ist ein ganzer Wissenschaftszweig, bei
       dem die Praxis der Theorie vorausging, was gar nicht so selten ist.“ So war
       etwa die numerisch kontrollierte Webmaschine von Joseph-Marie Jacquard
       (1752–1834) eine ausschlaggebende Inspiration für den mechanischen Computer
       von Charles Babbage. Und das Lochkartenverfahren von Herman Hollerith
       (1860–1929) war die Ausgangsbasis für die Entwicklung des modernen
       Computers – und für das Unternehmen IBM.
       
       ## Verwandlung der Erde in Grafikkarten
       
       Für Cros war „das Studium von Rhythmen“, also von Mustern und
       Kodifizierungsmethoden, „ein neuer und wichtiger Zweig der Mathematik“, der
       sich neben dem „Studium der Zahlen“ etablieren würde. Was wir hier sehen,
       ist mit anderen Worten ein Versuch, die Erde in Grafikkarten zu verwandeln
       und Algorithmen zu erstellen, die alle Bilder und letztlich auch andere
       Daten kodifizieren können, um sie zu übertragen und an anderer Stelle
       sichtbar zu machen.
       
       In der Entwicklung technischer Kommunikation ist vor allem das Problem der
       Abstraktion, Kodifizierung und Kompression von Daten zu lösen, was sich im
       Grunde ganz ähnlich in der Entwicklung rechnergestützter Medien stellt.
       „Wir nennen das heute programmieren“, schrieb der englische Zoologe und
       Medizinstatistiker Lancelot Hogben im Jahr 1952.
       
       Hogben stellte sich das Universum viel einsamer vor als all die
       Marsianerenthusiasten vor ihm. Er wusste, dass die Kommunikation mit
       extraterrestrischen Lebewesen ein langsamer Prozess sein würde und dass er
       wahrscheinlich über Radiowellen, die zu einem weit entfernten Stern
       gesendet werden, und nicht mittels elektrischer Lampen oder sibirischer
       Weizenfelder stattfinden würde.
       
       Hogbens unbekümmerte, aber höchst elaborierte Idee einer
       Kommunikationssprache trug den Namen Astraglossa, wobei es sich eigentlich
       nicht um eine Sprache handelte, sondern um eine Analyse der Bedingungen für
       die Kommunikation mit einem nichtmenschlichen unbekannten Gegenüber.
       Nachdem er sich beruflich lange Zeit mit den hormonellen Signalen von
       Krallenfröschen, farbwechselfähigen Reptilien und Lurchen beschäftigt
       hatte, interessierte er sich nun für die kleinste Ordnung der
       Signalübertragung: „eine Technik, auf Dinge hinzuweisen“, beruhend auf
       Zeit, Zahl, Intervall, und Sternen.
       
       Mithilfe einer rhythmischen Abfolge von Impulsen und Pausen wollte Hogben
       Addition, Subtraktion und Identifikation mitteilen. Auch traute er seinem
       System zu, Fragen anzudeuten. Sein Ehrgeiz beschränkte sich nicht darauf,
       einen „Monolog einfacher Aussagen“ zu produzieren, vielmehr wollte er einem
       tatsächlichen kommunikativen Austausch näher kommen. Dabei analysierte er
       spielerisch und sorgfältig zugleich die Möglichkeit, gewisse Pronomen (wie
       „euer“ und „unser“) einzuführen, aber auch Ausdrücke für Zustimmung und
       Ablehnung, Zweifel und Vorbehalte, Ursachen und Folgen. Er entwickelte
       sogar eine „überirdische“ Version von Schach.
       
       Hogbens Ziel war eine „reziproke Kommunikation“ mit dem Unbekannten: etwa
       auf dieselbe Weise, wie „unsere neolithischen Vorfahren“ mit uns durch die
       Relikte von Zahlensymbolen und Kalendern aus eingekerbten Knochen und
       Pfeilersteinen kommunizieren konnten oder wie wir „Anweisungen an die neuen
       elektronischen Rechenmaschinen übermitteln“.
       
       Hogbens Ansatz ist und bleibt der Rahmen für alle Bemühungen um möglichst
       eindeutige Kommunikation mit Außerirdischen. Aber für welche Inhalte? Wie
       steht es um die Substanz der Kommunikation mit nicht nur unbekannten,
       sondern auch unkennbaren Gesprächspartnern? Fast immer wird man einen
       Minimalbestand an Fakten übermitteln: ein Zahlensystem, einen Satz
       stellarer Koordinaten, ein paar chemische Fakten, eine menschliche
       Silhouette.
       
       So hat auch der US-Astronom Frank Drake über das Radioteleskop von Arecibo
       in Puerto Rico 1974 eine Botschaft ausgesandt, die aus einer Serie von 1679
       An- und Ausschaltimpulsen bestand. 1679 ist das Produkt der beiden
       Primzahlen 23 und 73. Arrangiert man die Signale zu einem Raster aus 23
       Säulen und 73 Reihen, so entsteht daraus ein Bild. Wenn man das von oben
       nach unten liest, ergeben sich binäre Zahlen, die bestimmte Informationen
       enthalten: die Atomgewichte der wichtigsten chemischen Elemente und die
       chemische Zusammensetzung der DNA, Angaben über die Weltbevölkerung und
       über die physische Gestalt des Menschen, über unser Sonnensystem und
       schließlich über die Antenne selbst. Die meisten solcher Botschaften sind
       ähnlich aufgebaut: Ihr Informationsgehalt ist notgedrungen gering, und sie
       konzentrieren sich vor allem auf die Struktur der Entzifferungsmethoden.
       
       Aber selbst beim Aussenden minimaler Signale zu weit entfernten und stummen
       Sternen gilt aller Ehrgeiz dem Ziel, die Kapazitäten dieser Kommunikation
       zu erweitern. Ein wahrhaft exzentrisches intellektuelles Projekt des 20.
       Jahrhunderts ist die Entwicklung einer „Lingua Cosmica“, abgekürzt Lincos.
       Mit ihr wollte der niederländische Mathematiker Hans Freudenthal „die
       Gesamtmenge unseres Wissens“ in eine Form bringen, in der sie jedem
       intelligenten Lebewesen vermittelbar ist. Sein Entwurf einer „kosmischen
       Sprache“, von dem nur der erste Band erschienen ist, verdient einen
       Ehrenplatz in der Sammlung visionärer und bizarrer Dokumente. Der
       US-Amerikaner Marvin Minsky, der große Erforscher der künstlichen
       Intelligenz (und Berater von Stanley Kubrick bei der Produktion des Filmes
       „2001: Odyssee im Weltraum“) schrieb über Freudenthal und sein
       Lincos-Projekt: „Er beginnt mit elementarer Mathematik und zeigt auf, wie
       viele andere Vorstellungen, einschließlich sozialer Ideen, auf diesem
       Fundament errichtet werden könnten.“
       
       Es handelt sich um eine „Sprache“, die mit piepsenden Radioimpulsen zur
       Übermittlung natürlicher Zahlen anfängt und mit der relativistischen
       Mechanik von Albert Einstein endet. Hinzu kommt die Darstellung der
       Mengenlehre, Aussagen wie: „Zukünftige Ereignisse sind nicht vorhersehbar“,
       eine „kurze Geschichte des Großen Fermat’schen Satzes“, „Beispiele für
       höfliche Rede“, eine Beschreibung von Wetten und Glücksspielen und vieles
       mehr. All diese Darstellungen sind in einer immer komplexer werdenden
       Zeichensprache abgefasst, die ihre mögliche Übermittlung durch Radioimpulse
       abbildet.
       
       Jenseits der Basiselemente, die in irgendeiner Form bei jedem
       Übertragungskonzept auftauchen (Zahlen, räumliche Koordinaten, zeitliche
       Abfolgen, mathematische Grundrechenarten), hatte Freudenthal – wie schon
       Hogben – ein weitaus ehrgeizigeres Ziel. Er ersann eine Reihe menschlicher
       Akteure, mit denen er eine ganze Serie logisch-minimalistischer
       Dialogszenen gestaltete. Mithilfe der zwei Personen namens Ha und Hb
       erzählt Freudenthal – durchweg in seiner eigenen Zeichensprache –
       Geschichten über die Natur der Welt und speziell über die Grunderfahrungen
       des Menschen.
       
       ## Ha und Hb simulieren das Leben der Menschen
       
       Zum Beispiel: Ha wirft einen Ball weiter, als er für Hb zu fangen ist.
       Oder: Hb weiß etwas, aber sagt es nicht, was heißt, dass Ha es nicht weiß;
       Ha kann zu raten versuchen, was das ist, was Hb weiß. Oder: Ha und Hb
       wissen, was in der Vergangenheit geschehen ist, aber nicht, was in Zukunft
       geschehen wird, und sie wetten über die Frage, was passieren wird. Oder: Ha
       hat etwas nicht gesehen und fragt Hb danach.
       
       Die beiden Figuren leben gemeinsam in einer Welt, in der es noch viele
       andere Dinge gibt, mit denen sie aber nicht auf dieselbe Weise
       kommunizieren können, obwohl diese Dinge ebenfalls in der Lage sind, zu
       sehen, zu hören, sich zu bewegen, die Vergangenheit zu kennen und einen
       Ball zu fangen. Und Ha und Hb können sterben wie all die anderen Dinge, mit
       denen sie ihre Welt teilen. Ha und Hb können wünschen, dass die Welt anders
       aussieht, als sie ist. Und wenn einer von ihnen stirbt, können sie nicht
       mehr miteinander reden.
       
       Es würdigt die Freudenthal’sche Errungenschaft – das menschliche Leben im
       Universum in totalisierter Form durch ein Grundmuster elektromagnetischer
       Signale auszudrücken – keinesfalls herab, infrage zu stellen, ob sie für
       den ursprünglichen Zweck geeignet sind. Schließlich ist das nächste
       mögliche Leben räumlich so weit entfernt, dass jedes Mal Jahre oder
       Jahrzehnte vergehen würden, bis ein Gegensignal zeigen könnte, ob die
       Botschaft empfangen und verstanden wurde.
       
       Freudenthal entwickelt einige Dialogszenen in Hunderten von
       Einzelschritten, von denen viele einer Bestätigung bedürfen. Allein dieses
       Hin und Her würde das Ganze zu einem Jahrtausendprojekt machen. Was
       Freudenthal geschafft hat, nämlich die Eigenschaften und Verhaltensweisen
       von Menschen darzustellen, entspricht viel eher den Erfordernissen einer
       Kommunikation nicht mit Außerirdischen, sondern mit Maschinen. Seine
       erstaunlichen Lehrstücke taugen also weniger dazu, an das Lichtjahre
       entfernte Sternsystem Alpha Centauri gesendet zu werden, als vielmehr dazu,
       die Befindlichkeiten des Menschen einem Empfänger zu vermitteln, der
       lediglich über ein Gedächtnis und den Input einer sehr begrenzten Menge an
       elektromagnetischen Symbolen verfügt.
       
       Kein Wunder, dass Marvin Minsky, der das erste künstliche neuronale Netz
       konstruiert hat, auf Freudenthal und seine Forschungen abgefahren ist.
       Dessen Ideen zielten auf die Sterne, um am Ende im Labor für Künstliche
       Intelligenz am Massachusetts Institute of Technology in Boston zu landen,
       wo Minsky Grundlagenforschung betrieb.
       
       Und doch haben wir es tatsächlich geschafft, eine Verbindung mit einem
       fremden Planeten aufzubauen. Aber diesen Planeten haben wir selbst
       erschaffen, und wir tun alles, um ihn zu erhalten. Wir lehren seine
       Bewohner, ihre Welt räumlich zu erfassen, Geheimnisse zu bewahren,
       Gesichter zu erkennen, Stimmen zu hören, zu komprimieren und zu filtern,
       Konversation zu führen und eine breite Skala elektromagnetischer Strahlen
       zu interpretieren, die weit über simple Radiowellen und das Lichtspektrum
       hinausreicht. Und das alles mithilfe binärer Impulse und logischer
       Verfahren sowie Ver- und Entschlüsselungstechniken.
       
       Der kommerzielle und der private Austausch von Informationen vollzieht sich
       in unserer eigenen Welt, auf dieser Erde, über ein dichtes Netz von
       Marskanälen, die wir im Lauf der letzten 60 Jahre gegraben haben. Dieses
       Netz besteht aus Unterseekabeln, Serverfarmen und Mobilfunkmasten, aus
       Computern in Hosentaschen, auf Tischen, in Schuhen und in Körpern. Das
       normalste Lebewesen auf unserer Insel ist mittlerweile der nichtmenschliche
       Gesprächspartner mit fremder Adresse: Wir reagieren auf automatisierte
       Warnsignale, sprechen mit einem Kundenservice, der mit automatischer
       Spracherkennung arbeitet, wir lösen Captchas, um uns bei Facebook
       einzuloggen, um dort unsere algorithmisch sortierte Timeline zu sehen. Und
       rund um diese von uns geschaffene Insel liegt das Wogen und Schweigen des
       endlosen Ozeans.
       
       Aus dem Englischen von Niels Kadritzke
       
       13 Aug 2016
       
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       Ein Flug zum Mars muss sein. Nicht um eine zweite Erde zu schaffen. Sondern
       um die erste zu retten. Die Idee sollte zum Projekt der Weltgemeinschaft
       werden.
       
   DIR Suche nach außerirdischen Signalen: Ein fast religiöses Motiv
       
       Astrophysiker und Alienjäger Seth Shostak vom Seti-Institut in Kalifornien
       sucht im All nach Aliens. Er glaubt, dass es sie gibt.