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       # taz.de -- Marktforschung bei Online-Videotheken: Amazon stellt die eine Frage
       
       > Nutzer können jetzt abstimmen, welche neue Serie der Anbieter produzieren
       > soll. Amazon gelangt so vor allem an wertvolle Informationen.
       
   IMG Bild: Auch „Transparent“ war Sieger einer Nutzerabstimmung – behauptet jedenfalls Amazon
       
       Bei Amazon Video dürfen die Zuschauer heute Studioboss spielen. In seiner
       Onlinevideothek veröffentlicht der Onlineversandhandel drei Serien-Piloten
       aus eigener Produktion. Die Zuschauer sollen darüber entscheiden, welche
       das Zeug zur ganzen Staffel hat. Bei Amazon Video gab es das schon mal,
       Sieger dieser Abstimmungen waren, laut eigener Aussage, der Golden-Globe-
       und Emmy-Gewinner „Transparent“, der ebenfalls Golden-Globe-ausgezeichnete
       „Mozart in the Jungle“ und „The Man in the High Castle“.
       
       Diesmal stehen drei sehr unterschiedliche Pilotfolgen zur Auswahl. Da wäre
       „The Tick“, eine Superhelden-Show. Mit diesem Thema ist Amazon Video zwar
       spät dran – Konkurrent Netflix hat mit „Daredevil“ und „Jessica Jones“
       bereits zwei Superheldenshows von „Marvel“ im Angebot, auf Pro7 laufen mit
       „Arrow“, „The Flash“ und „Supergirl“ die Serien des anderen Big Players DC.
       Allerdings ist „Tick“ weniger glossy als die anderen, eher Anti-Helden- als
       Superhelden-Serie. Protagonist Tick ist mit Selbstüberschätzung statt mit
       besonderen Kräften gesegnet, sein junger Sidekick Arthur Everest hat
       psychische Probleme. Erzählweise und Humor sind düster.
       
       Die zweite Option ist „I love Dick“, Adaption des feministischen Klassikers
       der Künstlerin und Autorin Chris Kraus. Darin schildert die Autorin
       schonungslos, wie sie sich in Dick (hier gespielt von Kevin Bacon), den
       Kollegen ihres Manns verliebt, wie sie über ihn fantasiert und was das für
       die Beziehungsdynamik der beiden Verheirateten bedeutet. Wo das Buch
       manchmal zu verkopft, zu intellektuell daher kommt, fügt die Pilotfolge der
       Erzählung Komödienelemente und menschliche Abgründe hinzu. Liebevoll und
       detailliert blicken die Macherinnen – Jill Soloway und Andrea Sperling
       („Transparent“) sowie Sarah Gubbins („Ten Aker Wood“) – außerdem auf die
       mit sich selbst beschäftigte Boheme- und Künstlerszene in Marfa im
       US-Bundesstaat Texas.
       
       In der dritten Serie, „Jean-Claude Van Johnson“, spielt Jean-Claude Van
       Damme einen Action-Schauspieler und Undercover-Agent, der aus der Rente
       zurückkehrt, aber nicht mehr in psychischer Höchstform ist. Schon in dem
       Indie-Film-Hit „JCVD“ hat Jean-Claude Van Damme erfolgreich eine
       überzeichnete Version von sich selbst gespielt. Hier wird die Idee so
       erweitert, dass sie für eine ganze Staffel taugen könnte.
       
       ## Rechenfaktor Geschmack
       
       Ob aber am Ende wirklich die Serie mit den meisten Stimmen gewinnt, werden
       wir wohl nie erfahren. Wahrscheinlicher ist, dass das Ganze der
       Marktforschung dient. Denn heißer umkämpft als der Serienmarkt ist nur noch
       der Video-on-Demand-Markt. Diesen teilen in Europa bisher Amazon Video und
       Netflix untereinander auf. Wahrscheinlich verspricht sich Amazon Video mit
       ihrer „Pilot Season“ eine Antwort auf die Frage, für welche Serien die
       Zuschauer bereit sind, Geld und Zeit zu opfern.
       
       Diese Antwort ist so etwas wie der heilige Gral der Unterhaltungsindustrie.
       Hollywood-Filmstudios versuchen das Risiko ihrer teuren Produktionen zu
       minimieren – meistens, indem sie Hits von der Kinokasse für den Homescreen
       klonen. Das ist der Grund, warum seit Jahren immer gleich gestrickte
       Actionfilme, Rom-Coms, Superhelden-Reihen und Remakes produziert werden.
       
       Der Video-on-Demand-Service Netflix, der seit ein paar Jahren vermehrt
       Eigenproduktionen im Angebot hat, setzt hingegen auf die Macht der
       Algorithmen. Das jüngste Ergebnis ist die Teenie-Horror-Serie „Stranger
       Things“, die so ziemlich alles zusammenmischt, was aus dieser Ecke in der
       Netflix-Mediathek häufig abgerufen wurde.
       
       Doch auch dieses Verfahren hat Tücken. Gerade bei den Empfehlungssystemen
       versagen die Berechnungen oft. Bei der Geschmacksfindung kommen einfach zu
       viele Faktoren zusammen. Das kennt man ja von sich selbst: Wie oft schaut
       man Filme, die einem aufgrund des zuletzt Geschauten aufgelistet werden?
       Und wie oft schaut man Filme, die einem von Freunden oder in einer
       Rezension empfohlen wurden? Man darf davon ausgehen, dass dieses Problem
       beim Online-Shopping-Giganten Amazon bekannt ist – und dass man dort nicht
       nur ausgefeilten Algorithmen vertrauen möchte, sondern die fast schon
       altertümliche Marktforschung bemüht.
       
       19 Aug 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Nina Scholz
       
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