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       # taz.de -- Kolumne Riologie: Fremd in der eigenen Stadt
       
       > Unsere Autorin ist „Carioca“, eine Einwohnerin von Rio. Doch dort hält
       > sie jeder für eine Ausländerin. Sie hat eine Taktik, um damit umzugehen.
       
   IMG Bild: Wer ist ein echter Carioca? Ein Straßenhändler am Bahnhof Central do Brasil
       
       Es vergeht kein Tag in meinem Leben, an dem ich mich nicht wie eine Fremde
       fühle. Aber das seltsame ist, dass es mir in meiner eigenen Stadt so geht.
       Die Olympischen Spiele haben mir klar gemacht: Ich bin definitiv eine
       Gringa-Carioca.
       
       Ich bin nie lange an ein und demselben Ort geblieben oder nur in den
       Stadtvierteln herumspaziert, in denen ich lebe oder arbeite. Ich empfinde
       mich als „Rebellin“ und treibe mich gern in allen möglichen Ecken der Stadt
       herum. Seit ich für Zeitungen und Zeitschriften schreibe, habe ich wohl
       hundert Mal mehr Straßen, Viertel, Städte, Bundesstaaten und Länder kennen
       gelernt, als zuvor. In keinem davon gehe ich als Einheimische durch. Auch
       nicht in Rio.
       
       Vielleicht ist es meine Hautfarbe: sehr weiß. Oder meine Augenfarbe: grün.
       Womöglich liegt es an meinem Haarschnitt: modern. Oder an meinem
       Kleidungsstil: lässig. Oder es ist all das zusammen. Jedenfalls muss ich
       mich nur in eine Bar setzen und schon werde ich von den Straßenverkäufern
       belagert. Oder ich laufe alleine durch die Straße und hinter mir schleicht
       ein junger Taschendieb, oft in der Absicht, mich auszurauben.
       
       Aber ich habe gelernt damit umzugehen. Schon seit einiger Zeit schlage ich
       mich wirklich tapfer. Wenn sich mir jemand auf komische Art nähert, rede
       ich sofort lauter und flechte in meine Worte Slang und Fehler, wie es für
       Carioca typisch ist: “Was geht ab, Bruder? Gibts irgendwas? Nix, wa? Na
       dann, schieb ab, Alter, geh Deinen Weg und ich geh meinen!“
       
       Normalerweise verlieren die Typen dann den Mut und insistieren nicht. Auch
       während der Olympischen Spiele läuft es nicht anders. Im Gegenteil, ich
       werde noch stärker „verfolgt“. Sowohl die typischen Cariocas, als auch die
       volunteers, die bei Olympia arbeiten, sprechen mich auf englisch an.
       Genauso die Touristen, die ich auf dem Weg zu den Spielen treffe.
       
       Gerade in dieser Woche passierte es wieder. Ich nahm den berühmten Zug an
       der Bahnstation Central do Brasil, der durchschnittlich 750.000 Passagiere
       am Tag transportiert, eine Strecke von 270 Kilometer zurücklegt und an 102
       Stationen in 12 Gemeinden der Metropolregion Rio de Janeiro hält, also der
       ärmsten Region der Stadt. Auf dem Weg zum Olympiastadion Engenhão sah ich
       einen Keksverkäufer, der fragte, wer ihm einen 10-Reais-Schein in zwei
       Fünfer wechseln könne.
       
       Als sich unsere Blicke trafen, verfiel er sofort in einen englischen
       Akzent: “Fuuunf! Fuuunf!“ Ich musste handeln: “Was geht, mein Bruder? Ich
       bin Carioca! Und leider habe ich nur einen 5-Reais-Schein. Den kann ich Dir
       gegen Deinen Zehner tauschen, wenn Du willst!“ Alle um uns herum lachten
       über so viel Schlitzohrigkeit dieser kleinen Weißen da. Der junge Mann
       stammelte nur noch: “Mann, da hab ich mich echt vertan! Die ist ja wirklich
       eine Carioca!“
       
       Aus dem Brasilianischen Portugiesisch: Sunny Riedel
       
       20 Aug 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Christina Fuscaldo​
       
       ## TAGS
       
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