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       # taz.de -- Wiederaufbau Berliner Stadtschloss: Die Maske der Vergangenheit
       
       > Die Rückkehr des Historizismus in Berlin: Im Wiederaufbau des
       > Stadtschlosses drückt sich ein Unbehagen mit der Gegenwart aus. Eine
       > Streitschrift.
       
   IMG Bild: Reaktionär? Sicher. Das fast fertige Stadtschloss, mitten in Berlin
       
       Je mehr sich die Fassade des Humboldtforums über dem Beton schließt, desto
       mehr wird das Gebäude zum Symbol für einen neuen Historismus – nicht nur in
       der Architektur. Denn Historismus ist nicht nur ein Stil, wie er im 19.
       Jahrhundert Mainstream war. Historismus ist eine Haltung, eine
       Weltanschauung und – so könnte man sagen – das Mittel, sich über die
       Fragwürdigkeit des eigenen Selbst hinwegzuhelfen.
       
       Dieses Gefühl war kennzeichnend für eine Zeit, die zu ihrem
       wissenschaftlichen, technischen und ökonomischen Fortschreiten keinen
       formalen Ausdruck gefunden hatte. Das heißt, im Grunde war man sich seines
       Status in der Weltgeschichte keinesfalls wirklich bewusst. Die
       Großspurigkeit, die im Laufe des 19. Jahrhunderts im Bauen Einzug hielt,
       versichert sich doch immer nur durch die Anleihe bei anderen Epochen der
       eigenen vermeintlichen Größe.
       
       Man denke hier nur an den Berliner Dom, der, obwohl im 20. Jahrhundert
       fertiggestellt, doch eine der letzten Ausgeburten des vorangegangenen
       Jahrhunderts darstellt und als protestantische Kirche klar erkenntlich dem
       katholischen Petersdom Konkurrenz machen will.
       
       Über die Rekonstruktion des Berliner Schlosses gleich gegenüber vom Dom ist
       bereits viel gesagt und gestritten worden. Fest steht, dass auch dieser Bau
       als symbolische Form und Ausdruck der Berliner Republik gedacht ist.
       Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) spricht vom „bedeutendsten
       Kulturprojekt Deutschlands, auf das die ganze Welt schaut“. Was also soll
       das Berliner Schloss bedeuten?
       
       Zunächst ist der Neubau der Schlossattrappe ein Siegeszeichen über die
       untergegangene DDR. Die hatte ihrerseits an gleicher Stelle mit dem Palast
       der Republik ebenfalls schon ein Zeichen setzen wollen, und zwar durch
       Abriss der Kriegsruine des Berliner Hohenzollernschlosses.
       
       Das Schloss wiederholt nun mit der Überbauung des Orts noch einmal die
       gleiche Geste: Das Nachwendedeutschland rekonstruiert hier das Äußere eines
       barocken Prunkbaus, der zur Erhöhung Friedrich I., als erstem König „in
       Preußen“ im Jahre 1701, das nötige repräsentative Prestige bereitstellen
       sollte. Die Verherrlichung der preußischen Herrschaft wird der
       rekonstruierten barocken Fassade nun also noch einmal eingeschrieben.
       
       Dazu in merkwürdiger Diskrepanz steht das Innere des Gebäudes mit seiner
       Nutzung als Museum für die außereuropäischen Sammlungen der Stiftung
       Preußischer Kulturbesitz (siehe Grafik). Das alte Außen und das moderne
       Innen der Museumsräume des Humboldt-Forums passen eigentlich nicht
       zusammen.
       
       Aber gerade diese Diskrepanz zwischen Fassade und dem sie tragenden Bauwerk
       zeichnet den Historismus aus. Die repräsentativen Gebäude dieser Epoche
       setzten sich Masken auf, die Architektur war im Grunde eine regelrechte
       Verkleidung, ein jeweilig als passend erachtetes Stilgewand.
       
       Banken bekamen eine italienische Renaissancearchitektur verpasst, Museen
       sahen aus wie antike Tempel, Gerichte wie barocke Schlösser und Kirchen
       wurden bevorzugt im gotischen Stile errichtet. Nun also wiederholt das
       Schloss als Symbolbau der Berliner Republik jene Manie des 19.
       Jahrhunderts, sich in allem Tun und Wirken immerfort auf die Geschichte
       berufen zu müssen.
       
       Friedrich Nietzsche hat über „Nutzen und Nachteil der Historie“ eigentlich
       schon 1874 alles Wesentliche gesagt. Und man kann in diesem Pamphlet auch
       Passendes zur Rekonstruktion des Berliner Schlosses finden: „Denen wird der
       Weg verlegt; denen wird die Luft verfinstert, wenn man ein halb begriffenes
       Monument irgendeiner großen Vergangenheit götzendienerisch und mit rechter
       Beflissenheit umtanzt, als ob man sagen wollte: ‚Seht, das ist die wahre
       und wirkliche Kunst: was gehen euch die Werdenden und Wollenden an!‘“
       Genauso aber passiert es heute wieder: Die Geschichte wird als Argument
       benutzt, so, als wäre sie eine Wahrheitsinstanz und eine des guten
       Geschmacks noch dazu.
       
       Wie konnte es zu dieser erneuten Vergötzung der Geschichte kommen?
       Architektur ist dabei ja nur das sichtbarste Symptom einer historistischen
       Haltung, wie sie schon einmal im 19. Jahrhundert vorexerziert wurde. Denn
       die Geschichte ist ja nichts anderes als eine kodifizierte Erzählung der
       Vergangenheit.
       
       Zunächst scheint es dabei bloß um Sinngebung zu gehen. Doch damit geht noch
       etwas anderes einher: Das Heute legitimiert sich durch eine Geschichte, die
       in der Gegenwart ihr – vermeintlich – teleologisches Ziel gefunden hat. All
       jene, die von dieser Gegenart profitieren, die Macht, Einfluss und Prestige
       haben, berufen sich deshalb nur allzu gern auf Geschichte. Es sind
       schließlich immer die Sieger, die (ihre) Geschichte schreiben.
       
       Wer heute die Gegenwart zu seinen Gunsten umgestalten will, der sucht seine
       Vorlagen und Vorbilder nicht mehr in der Zukunft, sondern in der
       Vergangenheit. Das ist der entscheidende Unterschied zur Moderne. Denn seit
       Mitte der 70er Jahre scheint in die Zukunft kein Heilsversprechen mehr zu
       liegen. Der sogenannte Fortschritt hatte zwar fließend Warmwasser,
       Massenmotorisierung und Bildung für alle gebracht, aber er konnte das
       Gefühl der existenziellen Unbehaustheit in den modernen Verhältnissen nicht
       vermeiden.
       
       Die egalitäre Massengesellschaft der Moderne fand damals ihren Ausdruck in
       „unwirtlichen“ Großsiedlungen am Stadtrand, die – kaum waren sie in Beton
       gegossen – als gescheitert galten. Und das, obwohl keiner in das
       Mietskasernenelend mit Außenklo und Kohleofen zurückkehren wollte.
       
       Nur: Glanz und Gloria, Prunk und Prestige, womit sich die ehemaligen
       Untertanen immer noch gern identifizieren, lassen sich offenbar mit
       sozialem Wohnungsbau – anders als mit einem Schloss – nur unzureichend
       verwirklichen. Oder anders gesagt: Wer sich – zum Beispiel beim Bauen – zur
       Fortsetzung einer großen Tradition erklärt, erhöht sich selbst, auch wenn
       die eigene Größe unter Umständen nur eine Augentäuschung darstellt, weil
       man sich auf den Schultern von Riesen platziert.
       
       Die städtebauliche Entwicklung der letzten vier Jahrzehnte ist dafür ein
       prädestiniertes Beispiel. Das „Europäische Denkmalschutzjahr“ 1975 mit
       seiner Aufwertung des Historischen an sich steht als Wendepunkt für den
       Rollback der Traditionalisten gegen die Moderne. Spätestens seit Mitte der
       siebziger Jahre – Berlin ist da keine Ausnahme – wird die Moderne durch die
       Idee einer Postmoderne angegriffen. In den Achtzigern blickt man im
       Städtebau nur noch zurück.
       
       Zeilenbau und Wohnhochhäuser sind von nun an passé und Großsiedlungen wie
       die Gropiusstadt und das gerade erst 1974 fertiggestellte Märkische Viertel
       werden als antiurban verteufelt. Josef Paul Kleihues bebaut 1971–76 im
       kahlschlagsanierten Brunnenviertel im Wedding als Erster wieder ein ganzes
       Straßengeviert mit einem Wohnblock in traditionellen Dimensionen – nur die
       Hinterhöfe fehlen.
       
       Prompt wird er ab 1979 Planungsdirektor der Internationalen Bauaustellung
       (IBA) und prägt in den Achtzigern mit dem Stichwort „Kritische
       Rekonstruktion“ die weitere Geschichte im Berliner Stadtbau. Blockrand und
       Traufhöhe werden dann in der Ära des Senatsbaudirektors Hans Stimmann von
       1991 bis 2006 für die Berliner Innenstadt zum Dogma. So gut wie alle
       Neubauten haben sich seitdem in ein historisches Korsett zu fügen, auch
       wenn das angeblich Historische sich bei näherem Betrachten als höchst
       zweifelhaft ausnimmt.
       
       ## Hochhäuser versenkt
       
       Zum Beispiel in der barocken Friedrichstadt, die 1688 als westliche
       Stadterweiterung im Schachbrettmuster angelegt wurde – übrigens auf Geheiß
       ebenjenes Friedrich I., der sich bei Andreas Schlüter eine imposante
       Erweiterung seiner Berliner Residenz bestellte, die jetzt in der Fassade
       des Humboldtforums kopiert wird. Daher also der Name Friedrichstadt.
       
       Die barocke Bebauung dieser Gegend, die heute von der U-Bahn als
       „Stadtmitte“ bezeichnet wird, war zunächst niedrig, die Höfe noch
       Gartenland. Das sogenannte Schleiermacher-Haus in der Taubenstraße/Ecke
       Glinkastraße von 1738 mit einem einzigen Obergeschoss und Mansardendach ist
       heute das letzte Zeugnis der Bebauung des 18. Jahrhunderts.
       
       Was jetzt aber in dem auf Stimmann zurückgehenden Planwerk Innenstadt als
       historisch festgeschrieben wird, ist eine wilhelminische Überbauung des
       Blocks, also ein Zustand aus der Zeit um etwa 1900 – eine Historie wird der
       anderen vorgezogen. Was nun heute im barocken Stadtgrundriss steht, sind
       allerdings keine parzellengroßen Wohn‑ und Geschäftshäuser mehr wie um
       1900, sondern Megastrukturen, die einen ganzen Block umfassen und bis zu
       fünf Tiefgeschosse und mehrere Dachgeschosse über der „historischen“
       Traufhöhe von 22 Metern aufweisen. Es sind also in Wirklichkeit im Boden
       steckende Hochhäuser. So viel zur Berufung auf die Geschichte.
       
       ## Überkommene Idee
       
       Als Argument für die Doktrin des (Pseudo‑)Historischen beim derzeitigen
       Bauen dient noch ein weiterer Begriff als Argument: die sogenannte
       europäische Stadt. Auch das meint in Wirklichkeit kein historisches
       Phänomen, sondern ist reine Ideologie, die eine bestimmte überkommene Idee
       von Stadt als Norm für die aktuelle Stadtgestalt festlegen will, und zwar
       ähnlich herrschaftlich wie einst im alten Preußen.
       
       Das von der Moderne so vehement bekämpfte „steinerne Berlin“ wird jetzt zum
       Vorbild für den Städtebau. Die Hierarchisierung in Straßenfront‑ und
       Hinterhof, aber auch in Zentrum und Peripherie ist einer der Effekte der
       Rückkehr zur „europäischen Stadt“ genauso wie die Korridorstraße, die
       rechts und links von Häuserreihen gesäumt ist, und die Lochfassade, die
       weniger Licht hereinlässt und Flexibilität erlaubt als durchgehende
       Fensterbänder. Allesamt Merkmale, die die Moderne abschaffen wollte.
       
       Aber was ist so schlecht am „befreiten Wohnen“ mit Licht, Luft und Sonne,
       das die Moderne forderte? Nun, vielleicht die Tatsache, dass es bei der
       „europäischen Stadt“ gar nicht in erster Linie um gutes Wohnen geht,
       sondern um die Rekonstruktion einer idealisierten Historie, ungeachtet der
       Tatsache, dass sich Schmuckplätze im Stadtgefüge oder kleine Läden im
       Erdgeschoss heute nur ausnahmsweise realisieren lassen.
       
       ## Der Stil kommt zum Schluss
       
       Die sogenannten „europäische“ manchmal auch „historische Stadt“ genannten
       Areale, in Berlin also das Altbaugebiet innerhalb des S-Bahn-Rings, werden
       ungeachtet veränderter Lebens‑, Arbeits‑ und Verkehrsverhältnisse von der
       real existierenden Stadtplanung zur idealen Schablone auch für das heutige
       Bauen festgeschrieben. Und das historische Vorbild gilt inzwischen nicht
       mehr allein im Städtebau, sondern wird immer öfter auch auf die jeweilige
       Architektur appliziert, bei der Säulen, Gesimse und Quaderputz keine
       Seltenheit mehr sind.
       
       Beim Häuserbau läuft es heute strukturell ähnlich wie im 19. Jahrhundert,
       ob bei Wohnbauten oder Bürohäusern: Es wird ein Kasten mit Fensterlöchern
       aus Beton gegossen, dann kommt heute die Wärmedämmung dran, und obenauf
       folgt schließlich, was früher „der Stil“ war. Statt aus Stuck ist das heute
       meist eine dünne Steintapete. Am Ende sieht alles ziemlich gleich aus.
       
       Der 1997 fertiggestellte Block von Aldo Rossi in der Friedrichstadt ist
       hier zugleich Ausnahme und Regel: Rossi hat seinem 08/15-Bau – mit
       postmodernem Augenzwinkern – an der Schützenstraße drei Fensterachsen vom
       Palazzo Farnese aus Rom aufgepappt: Renaissance à la Michelangelo,
       jedenfalls bis zur Wärmedämmung. Im Grunde unterscheidet sich dieses
       ironische Fassadenzitat nicht viel von jenem Gehabe aus historistischen
       Zeiten. Die immer wieder gern zitierte Anekdote für das Bauen im 19.
       Jahrhundert lautet: Kommt der Polier zum Bauherrn und fragt: „Das Haus ist
       fertig, was soll’n nun für ein Stil dran?“ Den Stil aber besorgte man sich
       in der Historie – ob aus Rom oder anderswo.
       
       Und das Stadtschloss unterscheidet sich im Prinzip nicht von dieser
       historisierenden Praxis, ja die Rekonstruktion des Schlosses überbietet sie
       sogar noch, weil hier die historische Fassade zuerst da war und das Haus
       gleichsam in sie hineingebaut werden musste.
       
       Nun kann man nicht sagen, dass Schlüter oder dessen Nachfolger, Eosander
       von Göthe, für den König von Preußen schlechten Stil fabriziert hätten,
       obwohl auch sie aus Rom zitiert haben. Wenn man aber heute mit einem
       rekonstruierten Schloss über die Geschichte triumphieren will, eine
       Geschichte, die den Staat Preußen ausgelöscht hat und seine Residenz gleich
       dazu, dann legitimiert auch der schöne Schein früherer Tage dieses
       Unternehmen nicht.
       
       Warum – so könnte man fragen – hat man denn nicht im Geist der eigenen Zeit
       gebaut? Oder ist dieser so rückwärtsgewandt, dass es ihm gefällt, sich in
       barocken Fassaden feudaler Herrscher widerzuspiegeln? Das wäre als Zeichen
       allerdings mehr als bedenklich, das wäre buchstäblich reaktionär.
       
       6 Sep 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ronald Berg
       
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