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       # taz.de -- Die Wahrheit: Muscheln à la seekranke Landratte
       
       > Zwar isst das Auge durchaus gerne mit, doch gibt es Speisen, die so
       > hässlich sind, dass man sie besser mit geschlossenen Lidern verzehrt.
       
   IMG Bild: Kocht mit seinem Team auf offener Bühne: Kevin Fehling.
       
       Ich habe nichts dagegen, wenn Speisen hübsch aussehen. Einmal hatte mich
       jemand in ein Restaurant eingeladen, in dem ein Spitzenkoch tätig war.
       Vorneweg servierte man uns einen „Gruß aus der Küche“: Auf dem Teller war
       aus verschiedenen Leckereien ein Stück Waldboden im Miniaturformat so
       täuschend echt nachgebildet, dass mir vor Entzücken die Kinnlade wie einem
       erzgebirgischen Nussknacker runterklappte. Zumal das Kunstwerk auch
       sensationell schmeckte – inklusive der aus einer Entenlebermousse gerollten
       Hasenköttel.
       
       Andererseits weiß ich sehr genau, dass ein Gericht hässlich und trotzdem
       lecker sein kann. Das Lieblingsessen meiner Kindheit war Labskaus, eine
       Seemannsspeise, die aus Kartoffeln, Zwiebeln und gepökeltem Rindfleisch
       zusammengerührt wird. Noch heute bringt mich sein Wohlgeschmack zum
       Schnurren, doch es gibt Menschen, die meinen, dass sich der Erfinder des
       Gerichts vom Mageninhalt seekranker Landratten zu seiner Kreation
       inspirieren ließ.
       
       Insofern schockte es mich nicht, als Maik den Deckel von dem riesigen Topf
       hob, der in der Mitte des Tisches stand. Er hatte mich und ein paar andere
       Jungs zum Essen eingeladen, die ihm geholfen hatten, bei Nacht und Nebel
       aus der Wohnung seiner nunmehrigen Exfreundin auszuziehen. „Mmh,
       Muscheln!“, sagte ich, denn als Sohn eines Fischauktionators habe ich schon
       in Knirpstagen gelernt, dass Miesmuscheln viel zu köstlich schmecken, als
       dass man sich von ihrem Anblick einschüchtern lassen sollte.
       
       Andere freilich haben diese Lektion auch mit fünfzig noch nicht gelernt.
       „Maik, oh Gott“, schnaufte Luis, nachdem er ein paar geöffnet hatte, „die
       müssen dir irgendwelchen verdorbenen Mist angedreht haben, die Biester
       können doch nicht so aussehen, wenn sie gut sind!“ Bernd wiederum war so
       grün im Gesicht wie eine seekranke Landratte kurz vor der
       Labskauserfindung. Und Rudi, der Blödmann, hauchte bloß: „Alieneier! Jede
       Wette, das sind Alieneier!“
       
       „Alieneier?“, flüsterte Bernd entsetzt. „Klar“, krächzte Rudi: „Kuck dir
       die schwarze Schleimfransennaht an, die grünen Dottersackbeulen …
       Alieneier, und wir haben sie in kochendes Wasser geworfen – das werden wir
       büßen!“ Schon hörten wir auf der Treppe lautes Stampfen und Rufen. „Sie
       kommen!“, kreischte Bernd: „Sie werden uns nach Alpha Centauri mitnehmen
       und mit extragalaktischen Foltermethoden quälen!“
       
       Er sprang auf und versuchte, sich unter dem Sofa zu verstecken. Auch ich
       stand auf. Irgendwie roch es brenzlig. Ich trat hinaus in den Flur und
       blinzelte durch den Spion. Und weil ich draußen im Treppenhaus keine grünen
       Männchen sah, sondern nur dicke Rauchwolken und ein paar Feuerwehrmänner,
       die gerade die Tür zur Nachbarwohnung einschlugen, konnte ich den anderen
       mitteilen, dass wir leider doch nicht die ersten Menschen auf Alpha
       Centauri sein würden, dafür aber gleich rausfinden könnten, wie es sich
       anfühlt, von einem Balkon im vierten Stock in ein viel zu kleines
       Sprungtuch springen zu sollen.
       
       6 Sep 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Joachim Schulz
       
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