URI: 
       # taz.de -- Ströbele über Berlin und Rot-Grün: „Chance für eine andere Politik“
       
       > Der Berufskreuzberger analysiert linke Bündnisse und Kontroversen bei den
       > Berliner Grünen. Außerdem verrät er, warum er nicht zur Linken wechselt.
       
   IMG Bild: „Ich finde, wenn es eine Kontroverse gibt, muss man sie auch austragen“, sagt Hans-Christian Ströbele
       
       taz: Herr Ströbele, Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller hofft
       nach der Abgeordnetenhauswahl auf ein rot-grünes Projekt. Sie haben das
       1989/90 schon erlebt. Damals sprachen Sie von einer „Jahrhundertchance“.
       Ist es jetzt auch eine? 
       
       Hans-Christian Ströbele: Leider nicht – aber es ist natürlich eine Chance
       für eine andere Politik. Damals war das Besondere, dass die Grünen erstmals
       in Westberlin regieren konnten. Vor der Wahl hatte SPD-Spitzenkandidat
       Walter Momper noch beteuert: Mit den Grünen auf keinen Fall – am Tag der
       Wahl gab es erste Gespräche.
       
       Eine Chance für welche Politik? 
       
       Für mehr demokratische Mitbestimmung zum Beispiel. Ich sehe übrigens eine
       kleine Parallele zu 1989: In den frühen 80er-Jahren haben wir stark unter
       Repression durch die Polizei unter dem CDU-Innensenator Heinrich Lummer
       gelitten, der mit fast militärischen Strategien gegen Hausbesetzer vorging.
       Jetzt haben wir beim aktuellen Streit über die Rigaer Straße in
       Friedrichshain wieder einen CDU-Innensenator, Frank Henkel, der völlig
       abgedreht ist und all die Erfahrungen mit Eskalation, die auch die CDU
       kennen müsste, ignoriert.
       
       Die Offerte von Michael Müller liest sich nicht so, als würde er die Grünen
       wirklich auf Augenhöhe sehen. Die Grünen hätten lange „allen alles
       versprochen“ und müssten künftig „auch Verantwortung übernehmen“, schreibt
       er. 
       
       Die SPD hat die Grünen immer ein bisschen wie unartige Kindern eingeordnet,
       die gegen die Eltern rebellieren, aber irgendwann vernünftig werden. Wir
       haben 1989 in Berlin gezeigt, dass die Grünen eigenständiger und
       selbstbewusster in einer Koalition bleiben als die Linken später während
       Rot-Rot – weil wir letztlich nicht alles mit uns haben machen lassen.
       
       1989/90 knallte es wegen Stadtentwicklungsthemen und innerer Sicherheit:
       des Verkaufs des Potsdamer Platz an Investoren und der Räumung der
       besetzten Häuser in der Mainzer Straße. Sind es heute dieselben Themen, die
       Rot-Grün gefährlich werden können? 
       
       Es waren 1989 nicht nur die Inhalte, die zum Scheitern der Koalition
       geführt haben. Walter Momper ist damals nach der Wende und seiner
       plötzlichen großen Bekanntheit mit seinem roten Schal ein wenig abgehoben
       und hat mit uns diese und andere zentrale Punkte nicht mehr abgesprochen –
       das funktionierte nicht länger in der Koalition.
       
       Vor zehn Jahren haben sich SPD, Linke und Grüne in Berlin einen Wettkampf
       geliefert, wer mehr Wohnungen privatisiert, jetzt versprechen alle mehr
       bezahlbaren Wohnraum. 
       
       Na ja, damals waren die Schulden aus dem CDU-Bankenskandal die Ursache.
       Jetzt setzt die SPD nur auf Neubau und eine Mietpreisbremse, die nicht
       funktioniert und nun nachgebessert werden muss. Dabei gibt es ja Konzepte
       unterhalb dieser Ebene: etwa in Milieuschutzgebieten wie in
       Friedrichshain-Kreuzberg ein kommunales Vorkaufsrecht zu nutzen, um private
       Gebäude für Personen mit niedrigem Einkommen bezahlbar zu erhalten. Allein
       dass es das Instrument gibt, kann Investoren dazu bewegen, Mieten zum Teil
       auf Dauer niedriger zu halten.
       
       In Kreuzberg klagen Mieter, dass der grüne Baustadtrat das Vorkaufsrecht in
       der Praxis kaum nutzt. 
       
       Über das Geld dafür verfügt nur der Senat. Was soll der Bezirk denn machen,
       wenn der Senat keins rausrückt?
       
       Zuletzt haben Sie in Ihrem Wahlkreis 39,9 Prozent bekommen. Aber das
       scheint ja gerade das Problem zu sein: dass sich die Grünen-Erfolge auf
       wenige Stadtbezirke beschränken. Ist die Politik der Grünen in ihrer
       Hochburg Kreuzberg abschreckend für Berliner außerhalb der Innenstadt? 
       
       Davor waren es schon 47 Prozent – nicht nur in Kreuzberg, sondern im ganzen
       Wahlkreis, von dem fast zwei Drittel, Friedrichshain und Prenzlauer
       Berg-Ost, Stadtteile mit Plattenbausiedlungen sind. Natürlich kann man
       nicht überall meine Wahlplakate einfach hinhängen. Außerhalb der Innenstadt
       wohnen viele, die anders sozialisiert, aus einer anderen politischen Kultur
       sind. Manchmal würde ich gern mal Wahlkampf auf dem Land machen, um
       auszuprobieren, wie dort mehr Leute für grüne Inhalte zu gewinnen sind.
       Aber das wird wohl in diesem Leben nicht mehr passieren.
       
       Auch taz-Kollegen mit Familie sind vom Görlitzer Park weggezogen, weil sie
       die Dauerpräsenz der Dealer ratlos machte. Manchmal scheint uns, als hätten
       die Kreuzberger Grünen die Haltung „Geht doch nach drüben in andere
       Bezirke, wenn es euch hier nicht gefällt“. 
       
       Ich kenne niemanden, der so redet. Kreuzberg gehört zu den gesuchtesten
       Wohnkiezen der Stadt. Massivste Polizeigewalt hat das Dealerproblem nicht
       gelöst. Da hat der Bezirk vorgeschlagen, die Kinder vor der kriminellen
       Szene durch kontrollierte Abgabe von Cannabis zu schützen, was nicht
       erlaubt wurde. Ich hoffe, dass sich ein rot-grüner Senat an die Spitze der
       Bewegung setzt, Drogenkonsum zu entkriminalisieren.
       
       Die Berliner Grünen haben das Image, besonders links zu sein. Warum
       eigentlich? 
       
       Im bundesweiten Vergleich war Berlin ein linker Landesverband. Natürlich
       gab es immer Realos und nichtlinke Mehrheiten in der
       Abgeordnetenhausfraktion. Aber das jetzige Wahlprogramm ist ein linkes.
       
       Trotzdem ist die Spitzenkandidatin Ramona Pop eine Reala. 
       
       Es gibt ja nicht nur eine Spitzenkandidatin …
       
       … Ramona Pop steht auf Platz 1 der Landesliste … 
       
       … die Grünen haben ein Spitzenteam aus vier Personen. Ich verhehle nicht,
       dass ich lieber wieder auf eine grüne Doppelspitze gesetzt hätte. Aber ich
       finde, die vier machen das gut.
       
       Wenn Ramona Pop nicht die Spitzenkandidatin ist: Wer wird denn dann
       Regierungschef, wenn die Grünen am 18. September vorn liegen? Sie
       vielleicht? 
       
       Personalfragen entscheidet letztlich die grüne Basis. Aber jetzt über eine
       grüne Regierende Bürgermeisterin zu reden, halte ich für falsch. Wir
       kämpfen für eine Chance einer anderen Politik in der Stadt. Dafür lohnt es
       sich, grün zu wählen. Die bisherige Koalition kann es nicht – nicht nur
       beim BER.
       
       1989 war die Polizei für die Grünen ein Gegner. Heute betonen führende
       Grüne ein gutes Verhältnis zu den Ordnungskräften. Ramona Pop hat jüngst
       darauf gedrängt, endlich in Berlin wie in anderen Bundesländern den finalen
       Rettungsschuss, also den tödlichen Einsatz von Schusswaffen in
       Notsituationen, gesetzlich zu regeln. 
       
       Ich glaube, das war jemand anderes.
       
       Der innenpolitische Sprecher Benedikt Lux und Ramona Pop haben ein
       gemeinsames Papier dazu veröffentlicht. 
       
       Das kenne ich nicht. Was der Vorschlag soll, weiß ich nicht. Ich bin aber
       durchaus dafür, mehr Polizisten ansprechbar auf die Straße zu bringen, also
       das, was mal der Schutzmann an der Ecke gewesen ist.
       
       Das steht ja auch so im grünen Wahlprogramm, der Rettungsschuss nicht. 
       
       Der Rettungsschuss ist eine uralte Diskussion. Ich kenne keinen Vorfall, wo
       so was in Betracht kam. Solche Fälle können mit übergesetzlichem Notstand
       auch ohne Gesetz geregelt werden.
       
       Die Berliner Grünen gelten nicht nur als linker, sondern auch als
       zerrissener als der Rest der Partei. Wenn bei einer zentralen Rede von
       Ramona Pop beim Parteitag linke Delegierte blockweise sitzenbleiben,
       während der Realo-Flügel stehend applaudiert, spricht das Bände. Können
       sich die Grünen das im Wahljahr leisten? 
       
       Auseinandersetzungen über Inhalte, aber auch Personen, finde ich gar nicht
       schlimm. Das gehört dazu. Nicht richtig finde ich, dass Kandidaten 93 oder
       95 Prozent Stimmen bekommen müssen, sonst bewertet die Presse das als
       schlechtes Ergebnis. Wieviel hatte Ramona Pop bei ihrer Nominierung?
       
       61 Prozent. 
       
       Das ist doch eine komfortable deutliche Mehrheit.
       
       Aber Ramona Pop hatte gar keine Gegenkandidatin – mehr als ein Drittel der
       Partei hat sie grundsätzlich abgelehnt. Das kann man nicht gerade
       konstruktiv nennen. 
       
       Ich finde, wenn es eine Kontroverse gibt, muss man sie auch austragen.
       
       Wenn alle von der künftigen Linksregierung in Berlin reden, klingt das nach
       Einheitsbrei – was sind denn für Sie die entscheidenden Unterschiede, vor
       allem zwischen Grünen und Linkspartei? 
       
       Oft werde ich gefragt, warum ich nicht zur Linken gehe. Auch weil ich mit
       ihren führenden Leuten, Harald Wolf etwa, in gemeinsamen Vorstandszeiten
       bei der Alternativen Liste gut zusammengearbeitet habe. Aber viele der
       Mitglieder und Anhänger kommen aus einer ganz anderen politischen Denke und
       Kultur – einer traditionelleren, autoritären, kleinbürgerlichen, eben nicht
       alternativen. Sozialistisch allein reicht nicht, wenn das Antiautoritäre,
       liberal Spontane zu kurz kommt. Da würde ich mich nicht wohlfühlen. Das
       wird deutlich – nicht nur in der Drogenpolitik …
       
       Auch in der Flüchtlingspolitik? 
       
       Ja, so ist zu erklären, dass die AfD für viele Positionen Unterstützung von
       Leuten findet, die bisher Linkspartei gewählt haben. Im Wahlprogramm der
       Linken steht zwar viel Richtiges zu Flüchtlingen und auch den Drogen. Aber
       in Gesprächen mit Anhängern wird klar, dass dies weniger verankert ist als
       bei Grünen, die häufig aus der Flüchtlingshilfe kommen.
       
       8 Sep 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Martin Reeh
   DIR Stefan Alberti
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Landtagswahlen
   DIR Lesestück Interview
   DIR Berlin
   DIR SPD
   DIR Hans-Christian Ströbele
   DIR Bündnis 90/Die Grünen
   DIR Canan Bayram
   DIR Lesestück Interview
   DIR Hans-Christian Ströbele
   DIR Abgeordnetenhauswahlen 2016
   DIR Schwerpunkt Landtagswahlen
   DIR Wochenvorschau
   DIR Abgeordnetenhauswahlen 2016
   DIR Schwerpunkt Wahlen in Berlin
   DIR Hans-Christian Ströbele
   DIR Abgeordnetenhauswahlen 2016
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Grüne wählen Ströbele-Nachfolgerin: Das Vermächtnis
       
       Die Grünen in Friedrichshain-Kreuzberg nominieren Canan Bayram als
       Bundestagskandidatin. Ströbele mahnt zum Abschied zu linker Politik.
       
   DIR Christian Ströbele zu seinem Abschied: „Schwarz-Grün hieße Anpassung“
       
       Sein größtes Ziel, eine politische Revolution in Deutschland, hat der
       Christian Ströbele nicht erreicht. Trotzdem verlässt er sein Amt nicht ohne
       Hoffnung.
       
   DIR Ströbele verlässt Bundestag: Der Held des Weitermachens hört auf
       
       Grünen-Urgestein Christian Ströbele scheidet aus der Bundespolitik. Die
       Grünen werden den 77-jährigen Querkopf vermissen.
       
   DIR Berliner Grünenchef Wesener zur Wahl: „Jetzt warten wir erst mal ab“
       
       Ein Weiter-so mit der SPD kann es nicht geben, sagt der grüne Landeschef.
       Daniel Wesener über die Wahl in Berlin, mögliche Koalitionen und die FDP.
       
   DIR Aus der zeozwei: Nicht viel mehr als Öko-Eis
       
       Berlin gilt als hippe Hauptstadt der Kreativen. Warum hat es dort bei der
       Wahl Politik für eine sozialökologisch moderne Stadt so schwer?
       
   DIR Die Wochenvorschau von Anna Klöpper: Dank MacGyver im Wahllokal
       
       Die Wahlleiterin wartet auf den Wahlsonntag, der Showdown um die Rigaer
       Straße geht weiter und am Samstag marschieren die „Lebensschützer“.
       
   DIR Vor der Wahl in Berlin: Michael Müller auf Tauchstation
       
       Berlins Regierender Bürgermeister und Kultursenator setzt auf die
       Globalisierung der Theater. Darüber will er im Wahlkampf aber nicht reden.
       
   DIR Plakatmotive bei der Berlin-Wahl: Scharf erst in der zweiten Welle
       
       Die SPD wirbt mit dezenter Unschärfe, die Grünen zeigen Comics und die
       Linke setzt auf Spaß. Sinnvolle Informationen wären noch besser.
       
   DIR Ströbele und die taz: Die gute Autorität
       
       Hans-Christian Ströbele ist der lebende Beweis für den Geist von 68. Ein
       Buch über den Mann, der eine wichtige Rolle in der taz-Geschichte spielt.
       
   DIR Abgeordnetenhauswahl in Berlin: Aderlass bei den Grünen
       
       Viele langjährige Mitglieder der Grünen-Fraktion verlassen in diesem Jahr
       noch das Parlament, darunter politische Schwergewichte wie Dirk Behrendt.