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       # taz.de -- Rolf Verleger über Antisemitismus: „Das ist doch kein Terrorangriff!“
       
       > Antisemit ist nicht, wer Israels Politik kritisiert, sagt Rolf Verleger,
       > Psychologe aus Lübeck: Den Groll gegen die Juden befördert, wer jede
       > Kritik unterbindet.
       
   IMG Bild: Aktivisten der Bokyott-Kamapgne gegen Israel protestieren zusammen mit jüdischen Friedensgruppen vor dem Büro des New Yorker Gouverneurs Andrew Cuomo
       
       taz: Herr Verleger, wann wurde Ihnen erstmals Antisemitismus vorgeworfen?
       
       Rolf Verleger: Das erste Mal, an das ich mich erinnere, war durch meine
       Großtante.
       
       Weshalb? 
       
       Ich weiß nicht mehr, worum es genau ging. Aber irgendetwas Kritisches hatte
       ich als – ich weiß nicht, vermutlich 18-Jähriger – über Israel gesagt. Und
       das fand sie antisemitisch.
       
       Ihre Kritik an Israel hat auch vor zehn Jahren zum Ausscheiden aus dem
       Direktorium des Zentralrats der Juden geführt. Nicht ganz freiwillig … 
       
       Das Direktorium ist die Delegiertenkonferenz der Landesverbände. Ich war
       damals Vorstand der Jüdischen Gemeinde Lübeck und auch Vorsitzender des
       schleswig-holsteinischen Landesverbands, weil ich mich wesentlich für
       dessen Aufbau und die Eigenständigkeit von der Hamburger Gemeinde engagiert
       hatte. Deshalb war ich von 2005 bis 2009 Delegierter beim Zentralrat, hatte
       dann aber schon 2006 einen offenen Brief zu Israels Gewaltpolitik
       geschrieben.
       
       Das war kein Problem? 
       
       Mit den meisten kam ich gut aus. Man hat da so einmal im Vierteljahr eine
       Sitzung, und da waren manche unverhohlen freundlich, andere offen
       feindselig.
       
       Und dann? 
       
       Der Tropfen, der bei der schleswig-holsteinischen Basis das Fass zum
       Überlaufen brachte, war, dass ich einen Vortrag beim Jahrestreffen der
       Muslimischen Jugend Deutschlands hielt. Das war zu viel! „Bei den Muslimen:
       Das ist Verrat!“ Da wurde ich abgewählt.
       
       Sie kommen ja zum taz Salon über Antisemitismus nach Bremen, deshalb hatte
       ich Ihnen vorab ein paar Artikel gemailt. Sie antworteten mir: Eher als ein
       Antisemitismusproblem hätten wir ein Problem vor allem des Wissens darüber,
       was Judentum ausmacht. Was meinen Sie damit? 
       
       Ich meine damit, dass Judentum sehr viel mehr ist als die Unterstützung
       Israels. Der geistige Führer des liberalen deutschen Judentums, Rabbiner
       Leo Baeck, hat das Judentum als die Religion der tätigen Moral
       charakterisiert. Das Judentum sollte und wollte das Leuchtfeuer der Moral
       unter den Völkern sein. Dazu ist es nach der Tradition auserwählt unter den
       Völkern, um das Gesetz Gottes unter den Menschen zu verbreiten – und nicht
       etwa, um ein schönes Land zu bekommen.
       
       Also Israel …
       
       Wenn man sieht, was Israel macht, ist man im Dilemma: Findet man das in
       Ordnung? Soll man den Staat der Juden unter allen Umständen unterstützen –
       oder soll man die moralische Botschaft des Judentums unterstützen? Was
       davon ist antisemitisch? Ich finde es antisemitisch, das zu unterstützen,
       was Israel macht.
       
       Inwiefern? 
       
       Weil es sich gegen die zentrale Botschaft des Judentums richtet.
       
       So pauschal? 
       
       Nein, was Israel macht, ist nicht per se zu verdammen. Das ist ein Punkt.
       Die Menschen- und Völkerrechtsverletzungen, die Israel begeht,
       unhinterfragt hinzunehmen, finde ich aber in letzter Konsequenz
       antisemitisch.
       
       Zugleich behaupten Sie, der Vorwurf des Antisemitismus werde strategisch
       genutzt: Er solle Kritik an Israel zum Schweigen bringen. 
       
       Ja, häufig. Von manchen. Aber das ist nicht dasselbe wie das, von dem ich
       gerade geredet hatte. Da geht es ja darum: Wie definiert man heute sein
       eigenes Judentum? Religiös im engeren Sinne ist ja keiner mehr, ich auch
       nicht.
       
       Und stattdessen? 
       
       Eine einfache Möglichkeit ist die Identifikation mit Israel: Israel ist der
       Phönix aus der Asche nach der Vernichtung des Judentums. Also greift, wer
       das angreift, das Judentum zentral an, in diesem Verständnis. Das finde ich
       zwar platt, aber es ist nachvollziehbar – und es ist dann ein Angriff auf
       den Kern.
       
       Dass ein Vorwurf mitunter strategisch verwendet wird, heißt ja nicht, dass
       er substanzlos wäre – es also kein Antisemitismusproblem in Deutschland
       gäbe. 
       
       Sicher. Das ist aber nahezu völlig unabhängig von dem, wie man über Israel
       denkt. Man kann positiv oder negativ über Israel denken – und schlecht oder
       gut über Juden.
       
       Dann müsste Antisemitismus losgelöst beobachtet werden vom
       Israel-Palästina-Konflikt? 
       
       Es gibt ja Fremdenhass: Da muss man sich ja nicht lange umsehen, bei 20
       Prozent AfD-Wählern in Mecklenburg-Vorpommern. Ich weiß natürlich nicht, ob
       die etwas gegen Juden haben, – ich denke, in der Mehrheit ja.
       
       Dass es keine klare Korrelation zwischen Israelkritik und Antisemitismus
       gibt, war ein bemerkenswertes Resultat der großen empirischen Studie von
       Wilhelm Kempf, an der Sie mitgewirkt haben. 
       
       Mitgewirkt ist etwas zu hoch gegriffen. Ich war da im wissenschaftlichen
       Beirat, ich habe den Verlauf der Studie verfolgt und alle halbe Jahre auf
       Treffen diskutiert, aber sie nicht gemacht. Aber es stimmt: Es gibt keinen
       linearen Zusammenhang zwischen der Haltung zu Israel und Antisemitismus. Im
       Mittel haben die Freunde Israels sogar mehr Vorurteile gegen Juden als die
       Unterstützer der palästinensischen Position. Und im Übrigen gibt es einen
       klaren Zusammenhang zwischen dem Ausmaß an Vorurteilen gegen Juden mit dem
       Hass auf andere Fremde – diesen Zusammenhang zeigt die Kempf-Studie sehr
       deutlich.
       
       Die tiefe Verankerung des Antisemitismus in der westlichen Kultur ist
       allerdings ein Fakt. 
       
       Ja, wobei Juden historisch die einzige relevante Minderheit waren. Das
       Problem heißt Hass gegen Minderheiten – nur waren die Juden halt immer da,
       um sich an ihnen zu entladen. Beispielsweise habe ich mit Verblüffung
       gelesen, dass 1885 beim Bau der Synagoge hier in Lübeck die Juden die
       größte Minderheit waren: Es gab hier mehr Juden als Katholiken. Es gab
       keinen anderen, gegen den sich solche Vorurteile hätten entladen können.
       
       Die Gefahr einer einseitigen Stellungnahme im Israel-Palästina-Konflikt ist
       aber, gerade solche überlieferten Feindbilder neu zu beleben. 
       
       Die Gefahr könnte man sehen. Aber es geht doch um das
       Israel-Palästina-Problem. Es geht darum, dass Europa, dass Deutschland
       gesagt hat: „Ihr Juden, haut ab. Nehmt dort den Leuten das Land weg. Das
       ist in Ordnung.“ Das nenne ich: das Minderheitenproblem der Europäer auf
       Kosten der Palästinenser entsorgen. Das als moralische Lösung zu vertreten,
       ist völlig unglaubwürdig. Man macht sich so doch zum Idioten seiner
       Vergangenheit.
       
       Land wegnehmen ist bereits eine polemische Formulierung – die automatisch
       bei einem Argumentationsmuster landet von der vermeintlichen Urbevölkerung
       und ihren in mythischen Ursprüngen gründenden Rechten. 
       
       Wenn man vor Tatsachen die Augen verschließt, kann man ein dreimal heiliger
       Judenfreund sein – man ist letztlich moralisch unglaubwürdig.
       
       Welche Tatsachen genau? 
       
       Dass 700.000 Palästinenser damals im Wesentlichen vertrieben wurden. Da
       kann man natürlich behaupten, die wären im Wesentlichen freiwillig gegangen
       oder „ihre Muftis“ hätten sie dazu aufgefordert. Aber dann wurde ihr Land
       enteignet. Wie wollen Sie das anders nennen als: weggenommen? Es gibt das
       „Absentee Property Law“, das regelt diese Enteignung – wer zurückkam, war
       ein Infiltrant und wurde erschossen.
       
       Die Darstellung unterschlägt die vorhergehenden Landkäufe, die Spannungen
       und die gewaltsamen arabischen Übergriffe während der osmanischen Periode.
       Aber die Idee ist ja auch gar nicht, eine historische Debatte zu führen … 
       
       Aber darum geht’s ja. Nicht abstrakt darum, ob man antisemitisch ist oder
       nicht. Es geht für mich um die Frage, wie beziehe ich Stellung zu
       historischen Tatsachen. Und ich halte es für ungerechtfertigt, Diskussion
       über Tatsachen – was trifft zu, was nicht – mit Antisemitismus überhaupt
       nur in Zusammenhang zu bringen. Was die Leute für eine Motivation dahinter
       noch haben, ist sicher auch eine relevante Frage. Aber man kann Diskussion
       über Fakten nicht mit dem Verweis auf die vermeintliche Motivation aus dem
       öffentlichen Diskurs wischen.
       
       Es geht nicht darum, etwas aus dem öffentlichen Diskurs zu wischen. Aber
       wenn die Meinung über den Staat Israel sich berauscht an ungeprüften
       Erzählungen über dessen vermeintliche Gräueltaten: Artikuliert sie dann
       nicht doch nur Ressentiments? 
       
       Wir können uns sicher stundenlang darüber streiten, was vermeintlich oder
       real ist, was Übertreibung und was realistisch ist. Belassen wir es doch
       einfach bei der Frage der „Nakba“…
       
       … also der wörtlich als „Katastrophe“ bezeichneten Vertreibung der
       arabischen Bevölkerung.
       
       Oder bei der Frage ob es das „Absentee Property Law“ gibt – oder nicht, ja
       oder nein? Ist denen das Land weggenommen worden, ja oder nein? – Ja! Das
       ist das zugrunde liegende Problem.
       
       Damit stellen Sie die Existenz Israels infrage? 
       
       Ja. Tue ich. Aber ich gebe darauf auch eine Antwort: Israel muss sich mit
       diesem Problem auseinandersetzen und die Palästinenser für dieses Unrecht
       um Verzeihung bitten. Man sollte zu einer einvernehmlichen Lösung kommen.
       
       So greifen Sie allerdings diejenigen an, die ihre jüdische Identität durch
       Identifikation mit dem Staat Israel herstellen. 
       
       Ja. Wenn jemand seine persönliche Identität in Nationalismus und
       Chauvinismus findet, wird er dadurch angegriffen, klar. Das kam vorhin
       vielleicht zu verständnisvoll rüber: Ich halte Nationalismus für eine
       Identitätskrücke. Das war nie etwas Gutes.
       
       Wird es durch die Infragestellung denn besser? 
       
       Das ist doch kein terroristischer Angriff, wenn man solche Gedanken hat!
       Auch die USA sollten sich damit auseinandersetzen, dass durch ihre Existenz
       die Indianer vernichtet worden sind. Es wäre schön, wenn die ihre nationale
       Seele davon irgendwie reinigen könnten. Tun sie ja auch, langsam. Nachdem
       die alle tot sind. So weit sollten wir es mit den Palästinensern nicht
       kommen lassen. Und das zu fordern ist nicht Antisemitismus.
       
       Aber daran anschlussfähig? 
       
       Dass man Israel aus menschenrechtlichen Erwägungen heraus kritisiert, ist
       das anschlussfähig an rechte Positionen? Ich finde eigentlich: Nein. Oder
       meistens nein. Oder von mir aus sogar vielfach ja, manchmal nein.
       
       Muss uns die hohe Empfänglichkeit der Deutschen für antisemitische
       Ressentiments also Sorge bereiten? 
       
       Ja. Genau das ist meine Sorge: Dass aufgrund der berechtigten Empörung über
       das, was Israel macht, und was Israel international, insbesondere von
       unserer westlichen Welt, einfach durchgelassen wird, die Verstöße gegen
       sämtliche relevanten UN-Resolutionen: Ich fürchte, das genau befördert den
       Groll gegen Juden. Man sieht ja durchaus, dass Rabbiner mit Kippa
       verprügelt werden. Genau deshalb müssen wir schauen, dass der berechtigte
       Unwillen über das, was in Israel passiert, seinen öffentlichen Ausdruck
       findet – und nicht zu Antisemitismus wird. Nebenbei: Ich finde das Wort
       sowieso blöd.
       
       Das Wort Antisemitismus? 
       
       Ja. Dieses Wort wurde doch von geistigen Vorläufern der Nazis in die Welt
       gesetzt, als sei es eine legitime Weltanschauung, dabei geht es doch nur um
       hässliche Vorurteile und Diskriminierung. Außerdem wirkt der Begriff so,
       als wäre Antisemitismus eine geschlossene Persönlichkeitseigenschaft, eine
       innere Nussschale, die jemand hätte und die man freilegen muss. Aber das
       trifft ja nicht zu. Es geht um Verhaltensmuster. Die Reduzierung von
       Verhalten auf eine zu entlarvende Eigenschaft ist in anderen
       Lebensbereichen zu Recht unüblich: Wenn ich den Abfall nicht runterbrächte
       und meine Frau dann sagte: „Ich habe es schon immer geahnt, jetzt ist es
       gewiss: Du bist ein Antifeminist.“ Das wäre nicht konstruktiv.
       
       Mehr zum aktuellen taz nord Schwerpunkt „Antisemitismus“ finden Sie in der
       gedruckten Wochenend-Ausgabe oder [1][hier] im e-paper.
       
       10 Sep 2016
       
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