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       # taz.de -- Das Erbe der Piratenpartei: Die letzte Utopie
       
       > Fünf Jahre nach dem Erfolg droht den Piraten der Niedergang. Eine
       > Erkundung unter verbitterten Profis und geduldigen Freaks.
       
   IMG Bild: Sie waren jung und wollten die Demokratie neu erfinden – was davon ist gelungen?
       
       Martin Delius hat fast alles weggepackt. Im Raum 542, seinem
       Abgeordnetenbüro, hängen nur noch leere Hängemappen im Registerschrank.
       Zehn leere Aktenordner stehen auf einer Schrankkommode aus braunem Furnier;
       ihren Inhalt hat er zur Archivierung freigegeben oder im blauen
       Gittercontainer im Flur entsorgt.
       
       Es ist ein windiger Tag im August 2016, das Berliner Abgeordnetenhaus ist
       noch in der Sommerpause, nun ist noch Aufräumen angesagt. „Abwicklung“,
       sagt Delius und zündet sich eine neue Zigarette an. Er spricht über die
       Piratenfraktion wie über ein Unternehmen, 27 Mitarbeiter, 1,2 Millionen
       Euro Jahresbudget.
       
       Aus der Piratenpartei ist Martin Delius, [1][@martindelius], 32 Jahre alt,
       bereits Ende 2015 ausgetreten, er hat ein Foto seines zerschnittenen
       Mitgliedsausweises getwittert. Dazu die Nachricht: „Ich habe keine Lust
       mehr, mich für das Gebaren von #piraten zu rechtfertigen.“
       
       Am 18. September sind Wahlen in Berlin. Delius, der sein Physikstudium für
       die Politik abgebrochen hat, wird noch fünf Monate Übergangsgeld beziehen
       und dann mal schauen. „Vielleicht werde ich Gärtner“, sagt er.
       
       Nur fünf der 15 Piratenabgeordneten treten noch einmal an. Dass sie gewählt
       werden, ist unwahrscheinlich. In Umfragen stehen sie so schlecht, dass sie
       gar nicht mehr ausgewiesen werden. Es spricht vieles dafür, dass Berlin, wo
       der Boom der Partei vor fünf Jahren begann, auch deren Abschied aus den
       Parlamenten einläutet. In drei weiteren Ländern, in denen Piraten im
       Landtag sitzen, in Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein und dem
       Saarland, sind im kommenden Jahr Wahlen.
       
       ## Der Profi gibt auf, der Freak kämpft weiter
       
       Alexander Spies, [2][@sozialpirat], 60 Jahre alt, von Beruf
       Softwareentwickler, steht vor Karstadt in Berlin-Tempelhof, er trägt eine
       Windjacke und wie immer Schiebermütze. Als er und die anderen Piraten ihren
       Wahlstand aufgebaut haben, ausgeklappt aus einem Lastenfahrrad, haben sie
       erst mal Ärger bekommen. Jemand hat die Polizei gerufen, es fehle die
       Genehmigung. Dabei haben sie dieses Mal doch alles beantragt. Die
       Polizisten ließen sich überzeugen.
       
       Spies geht ein paar Schritte auf einen jungen Radfahrer zu, streckt ihm
       eine Wahlkampfzeitung hin. Der lehnt ab. „Aber Sie haben nicht so schlechte
       Chancen bei mir.“ Das ist ein Moment, der ihm Hoffnung macht.
       
       „Die Kür in der Demokratie ist die Wiederwahl“, sagt Spies. Im Jahr 2009
       ist er den Piraten beigetreten, er hat lange gezögert und sich erst mal auf
       einem Bundesparteitag vergewissert, dass die anderen vernünftige Leute
       sind. Seit Sommer 2013 ist er Fraktionsvorsitzender der Berliner Piraten,
       länger schon als sein Co-Chef Martin Delius, der im Abgeordnetenbüro die
       Aktenordner wegwirft. Aber im Gegensatz zu Delius kennt ihn kaum einer. In
       einer Umfrage kam heraus, dass er der unbeliebteste Berliner
       Spitzenpolitiker ist.
       
       Spies und Delius, die beiden Chefs der Berliner Piratenfraktion, sind 2011
       zusammen als Abgeordnete gestartet. Einer von ihnen ist in den vergangenen
       Jahren zum Politprofi geworden, hat sich Ansehen erarbeitet – und erkannt,
       dass die Piraten keine Zukunft haben. Einer ist immer noch unsicher in
       seiner Rolle, aber sicher, dass es die Piraten weiter braucht.
       
       Lässt man die AfD außen vor, ist die Piratenpartei die erfolgreichste
       Parteineugründung seit den Grünen. Ihre Geschichte ist die Geschichte eines
       radikalen Selbstversuchs, einer sozialen Utopie – und einer Generation, die
       letztlich an ihren eigenen Ansprüchen scheitert.
       
       Die Frage ist: Was bleibt von den Piraten?
       
       Irgendwo am Anfang der Piratenidee steht die Erfahrung, dass vieles, was
       man sich wünscht, nur einen Klick weit entfernt ist. Statt in Plattenläden
       zu gehen, gewöhnen sich Jugendliche daran, Musik herunterzuladen. Eine der
       Fundgruben, die das möglich macht, heißt Pirate Bay. Piratenbucht.
       
       Aber dann bekommen plötzlich viele Eltern Post, ihre Kinder hätten
       Urheberrechte verletzt. Die Forderungen: Tausende Euro. Ist das zeitgemäß?
       
       In diesen Jahren passiert noch etwas: Es wird über Vorratsdatenspeicherung
       diskutiert. Sämtliche Verbindungsdaten aller Kunden sollen gespeichert
       werden. Die, die mit dem Internet aufgewachsen sind, realisieren, welche
       Kontrollmöglichkeiten dem Staat daraus erwachsen würden. In der C-Base
       Berlin, einem Hackertreffpunkt, gründet sich die Piratenpartei. Das war vor
       genau zehn Jahren, am 10. September 2006.
       
       ## Aus der Generation Nerd wird eine Bewegung
       
       Zu dieser Zeit verbringt ein unscheinbarer Physikstudent namens Martin
       Delius, Sohn eines Bürgermeisters, in der TU Berlin viel Zeit in
       Gremiensitzungen: Studierendenparlament, Strukturkommission, Fakultätsrat.
       Es geht um den Anschub von Forschungsprojekten zu
       Rastertunnelmikroskopiemessungen und immer auch ein bisschen darum, die
       Universität an die Jetztzeit anzupassen. In Universitätsprotokollen stehen
       Sätze wie: „Da alle Fakultätsratsmitglieder per e-mail zu erreichen sind,
       wird angeregt, die Einladungen zu den Sitzungen (…) per e-mail zu
       verschicken.“
       
       Während hier noch fast niemand die Partei kennt, erzielen die Piraten bei
       der Europawahl 2009 in Schweden 7,2 Prozent. Ein Coup. Auch in Deutschland
       entfaltet das Projekt einen Sog: Innerhalb weniger Monate wächst die Partei
       von 1.000 auf über 10.000 Mitglieder an. Ursula von der Leyen, #zensursula,
       mobilisiert ungewollt mit, als sie mit dem Argument des Kinderschutzes
       Netzsperren plant.
       
       Aus der Generation der Nerds, lang belächelt, wird eine Bewegung. Im Jahr
       2009 schreibt der inzwischen verstorbene FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher
       ein Loblied auf den Nerd. Darin stellt er auch die Piraten vor, erklärt den
       Typus des technischen Avantgardisten. „Sie haben unsere Welt programmiert“,
       [3][schreibt Schirrmacher.]
       
       Blogs haben an Bedeutung gewonnen, Twitter und Facebook werden Mainstream.
       Vermeintlich rein technische Neuerungen werfen gesellschaftliche Fragen
       auf. Letztlich übertragen die Piraten die Idee der Allmende, also des
       gemeinschaftlichen Eigentums, auf die Welt des Internets. Es geht um das
       Recht auf gesellschaftliche Teilhabe für alle – auf allen Ebenen.
       
       Die Piraten lehnen ein strenges Urheberrecht ab, sie wollen einen
       kostenlosen Nahverkehr und ein bedingungsloses Grundeinkommen. Nur auf
       dieser Basis, das ist der Gedanke, könne eine freie Welt entstehen, in der
       die Menschen abgesichert leben und sich entfalten können. Es ist ein
       radikaler Humanismus, gekoppelt an die Sprache der Programmierer.
       
       „Wir sind nicht rechts und nicht links. Wir sind vorn“, sagen die Piraten.
       Alexander Spies und Martin Delius hängen Plakate auf, auf denen steht:
       „Trau keinem Plakat!“ Das Piraten-Orange wird eine Farbe des Aufbruchs.
       
       Es ist einer der wenigen Momente seit der Wiedervereinigung, in denen eine
       progressive Gesellschaftsidee das Zeug hat, Wirklichkeit zu werden.
       
       Für die Debatten, die Piraten in Blogs und auf Twitter führen,
       interessieren sich ab dem 18. September 2011 plötzlich viele. Die Piraten
       werden an diesem Tag mit 8,9 Prozent in das Berliner Abgeordnetenhaus
       gewählt, alle 15 Kandidaten sind nun Parlamentarier, 14 Männer, eine Frau.
       Viele sind jung, einer trägt einen Blaumann und ein Palästinensertuch auf
       dem Kopf.
       
       ## Die plötzliche Aufmerksamkeit überfordert viele
       
       Martin Delius sucht im Abgeordnetenhaus das Büro des Präsidenten, es geht
       um die Frage, welche Räume die Piraten beziehen werden. Delius ist jetzt
       Parlamentarischer Geschäftsführer einer Fraktion. Er kann das selbst kaum
       fassen. „Nun wollen die Piraten ganz Deutschland erobern“, schreibt der
       Spiegel.
       
       Eine Frau wird zum Gesicht der Partei: [4][Marina Weisband]. Sie spricht
       vor der Bundespressekonferenz, in Talkshows. Sie erklärt, dass von den
       Piraten nichts Schlimmes zu erwarten sei, sondern etwas, was das Land
       besser mache. Bald hat die Partei mehr als 30.000 Mitglieder, bei der
       Sonntagsfrage liegt sie bei 13 Prozent.
       
       Doch die plötzliche Aufmerksamkeit überfordert viele Piraten. Weil sie
       nicht in Hinterzimmern diskutieren, sondern in 140-Zeichen-Nachrichten, ist
       jeder Streit öffentlich, wird zum „Gate“, so nennen sie Skandale und
       Skandälchen. Servergate, Anzuggate, Bombergate.
       
       Denn ganz so visionär wie Frank Schirrmacher es gerne hätte, sind nicht
       alle in der Partei: Während Piraten im Norden, vor allem in Berlin,
       beginnen, einen Gesellschaftsentwurf zu entwickeln, wollen
       Piratenmitglieder vor allem in Süddeutschland eine Netzpartei bleiben.
       
       Im Streit über das Grundsatzprogramm führt der Umstand, dass alle bei allem
       mitreden können, dazu, dass ein löchriger Flickenteppich entsteht. Aus
       einem Projekt des Aufbruchs wird eine Geschichte des Zanks, einschließlich
       Mobbing, Sexismus und dubioser Mitglieder mit rechten Weltbildern.
       
       Theoretisch könnten die Piraten schnell zu allen möglichen Themen eine
       Position entwickeln. Denn sie haben sich neue Methoden ausgedacht, wie man
       mithilfe des Internets Entscheidungen treffen kann. Diese Methoden sollen
       die ganze Gesellschaft verändern. Statt alle paar Jahre zu wählen, sollen
       Bürger in Echtzeit Sachentscheidungen treffen oder delegieren können.
       Liquid Democracy.
       
       Marina Weisband, die Hoffnung der Partei, bleibt nicht einmal ein Jahr im
       Amt. Anfang 2012 ist sie ausgebrannt, will ihre Psychologie-Diplomarbeit
       fertig schreiben. Und sie kann den Vollzeitjob auch nicht mehr leisten. Die
       Partei ist nicht bereit, ihr Gehalt zu zahlen.
       
       Sobald ein Parteivertreter einigermaßen bekannt ist, ist er schon wieder
       weg. Es ist die Kehrseite der Forderung nach Schwarmintelligenz und Themen
       statt Köpfen.
       
       Im Oktober 2012 sitzt Marina Weisbands Nachfolger Johannes Ponader bei
       Günther Jauch. Er kommt in Strickjacke und Sandalen, tippt demonstrativ auf
       seinem Smartphone herum. Es ist die Pose eines Gegenwartshippies, der sich
       darin gefällt, als echter Revoluzzer anzutreten. Allerdings: Die meisten
       finden es bescheuert.
       
       Im Herbst 2012 ist der gesamte Bundesvorstand nicht mehr arbeitsfähig, weil
       Ponader und der damalige Parteichef nicht mehr miteinander reden. Aber in
       Bochum steigt noch mal eine große Piratenparty.
       
       ## Was ist vom Hype geblieben?
       
       Ruhrcongress-Halle, November 2012. Viele junge Männer, manche mit
       Augenklappen; ein paar Frauen mit neonfarbenen Haaren; rosa Plüschponys.
       Mehr als 2.000 Mitglieder sind zum Parteitag gekommen, ein Rekord. Das
       Antragsbuch füllt fast 1.500 Seiten. Es gibt gegensätzliche Anträge, die
       gleichzeitig angenommen werden, und eine Debatte über die „intensive
       Erforschung von Zeitreisen“.
       
       Knapp vier Jahre später, Ende August 2016, eine Mehrzweckhalle am Rande von
       Wolfenbüttel. Der 18. Bundesparteitag der Piraten beginnt mit einer Ansage:
       „Wir haben ein Problem mit dem Netzwerk.“ Ein Mann mit Pferdeschwanz
       spricht auf der Bühne. Bitte nicht unnötig YouTube-Videos schauen: „Sonst
       sind wir morgen offline.“
       
       Es ist wenig geblieben von den Bildern des Hypes. 300 Mitglieder sind
       dieses Mal da. Die Organisatoren haben wieder ein Bällebad aufgestellt,
       aber es bleibt die meiste Zeit leer.
       
       Alexander Spies ist mit einem Fraktionskollegen mit dem Elektroauto nach
       Wolfenbüttel gefahren. Unterwegs wären sie fast liegen geblieben, weil das
       mit dem Batterieaufladen nicht so klappte wie gedacht.
       
       Spies hat sich an einen Tisch in der fünften Reihe gesetzt, den Laptop
       aufgeklappt. Er ist konzentriert, hebt die Abstimmungskarte. Zeit für ein
       Gespräch? Später, jetzt komme schließlich die Vorstandswahl. Spies ist es
       wichtig, wie es mit seiner Partei weitergeht.
       
       Im Jahr 2012 berichteten dutzende Journalisten vom Piraten-Parteitag, heute
       sind vier da.
       
       Es fällt leicht, die Piraten hier als eine Partei im Niedergang zu
       beschreiben. Die Generalsekretärin spricht vom Mitgliederschwund. Der
       scheidende Bundesvorsitzende sagt in seiner Begrüßungsrede: Die Partei ist
       de facto pleite. Warum braucht es die Piraten noch?, fragt er.
       
       In Wolfenbüttel findet ein Parteitag der Hartnäckigen statt. Der
       Übriggebliebenen. Für viele ist es eine gute Nachricht, dass andere nun
       kaum noch in der Partei mitarbeiten: Die, denen Feminismus besonders
       wichtig war; die, die immer weiter das bedingungslose Grundeinkommen
       debattieren wollen; die Karrieregeilen; die Trolle.
       
       Im Prinzip sind alle weg. Zwei ehemalige Bundesvorsitzende machen Politik
       bei der FDP, der Berliner Polterpirat Christopher Lauer sieht sich in der
       SPD. Die Piratenpartei ist gleichförmiger geworden, normaler – und dadurch
       auch weniger interessant.
       
       ## Die Themen der Piraten werden Mainstream
       
       Aber wo es weniger Reibung gibt, funktioniert auch alles reibungsloser.
       Beim Parteitag in Wolfenbüttel gibt es keine Zwischenrufe, keinen Streit
       über die Tagesordnung, keine Wortmeldung zur Arbeit des Vorstands.
       
       Alexander Spies ist ganz froh, dass alles nun ruhiger läuft. Auch in der
       Fraktion war ihm zu viel Durcheinander.
       
       Als die sich komplett zerstritten hatte, nach Vorwürfen von
       Vetternwirtschaft und Streit über die Nutzung eines Getränkeautomaten, wird
       er 2013 in die Fraktionsspitze gewählt. Um die Wogen zu glätten. Er ist ein
       fleißiger Fachpolitiker, Soziales, Behindertenpolitik, Europa;
       zwischendurch hält er den Rekord, was parlamentarische Anfragen angeht.
       Aber mit seiner Rolle als Fraktionsvorsitzender hadert Spies, in das Spiel
       mit den Medien findet er nie richtig hinein. Er will Anträge schreiben,
       Dokumente durchackern. Konkrete Politik machen.
       
       Denn während sich die Bundespartei schon zerlegt hat, fangen die Piraten in
       den Landesparlamenten gerade mit der eigentlichen Arbeit an.
       
       Die Abgeordneten in Berlin, Kiel, Saarbrücken und Düsseldorf wissen nicht
       unbedingt, wie das geht mit der Politik. Aber sie hinterfragen mit einem
       teils naiven Blick die Prozesse. Konstruktive Opposition, das liegt ihnen.
       Allen Skandalen zum Trotz.
       
       In Berlin sollen auf Schulrechnern Programme installiert werden, um nach
       Kopien urheberrechtlich geschützter Werke zu suchen. Die Piraten verlangen
       vom Senat in 26 Fragen Auskunft. Sie überzeugen die Große Koalition, eine
       Gewaltschutzambulanz einzurichten und eine Strategie zu verabschieden, wie
       Forschungsergebnisse zugänglicher werden. Ihrer Forderung nach einem
       günstigeren Sozialticket stimmt zwar keine Fraktion zu – aber sie landet
       schließlich im Wahlprogramm der Linken und der SPD.
       
       Ein Abgeordneter profiliert sich ganz besonders: Martin Delius. Im Skandal
       um den Berliner Großflughafen BER wird ein Untersuchungsausschuss
       eingerichtet. Delius übernimmt den Vorsitz. Kann man souverän sein, aber
       auch piratig? Delius ruft Flugroutengegner und Bürgerinitiativen auf, sich
       einzubringen. Als er vorschlägt, die Sitzordnung im Untersuchungsausschuss
       frei zu gestalten, erntet er Widerstand. Also hält er die Spielregeln ein
       und gilt bald als verlässlich. Am Ende hat der Ausschuss 70 Zeugen befragt,
       mehr als 1.600 Akten ausgewertet. Der Regierende Bürgermeister Klaus
       Wowereit ist inzwischen zurückgetreten.
       
       In Nordrhein-Westfalen bringen Piraten ihre Kollegen von den anderen
       Parteien dazu, auch die Zuschauer im Livestream zu begrüßen. Weil Debatten
       interessanter werden müssen. Der Fraktionsvorsitzende hält als Erster im
       Plenarsaal in Düsseldorf eine Rede ohne Jackett. Die Piraten klagen gegen
       die Sperrklausel bei Kommunalwahlen.
       
       In Schleswig-Holstein setzen die Piraten ein Transparenzgesetz durch, nach
       dem alle Vorstandsgehälter von öffentlichen Unternehmen veröffentlicht
       werden. Sie bringen den Robenzwang für Rechtsanwälte zu Fall, dämmen die
       Videoüberwachung in Zügen ein, bringen Leichte Sprache in die Publikationen
       des Landtags.
       
       Die Erfolge sind klein. Aber dazu kommt eine andere Wirkung. Der größte
       Einfluss kleiner Parteien, analysieren Politikwissenschaftler, liegt darin,
       dass sie große Parteien dazu bringen, neue Themen in ihre Agenda
       aufzunehmen.
       
       ## Geile Inhalte, aber kein Mut, sie zu etablieren
       
       SPD-Chef Sigmar Gabriel sagte einmal, dass die Piraten „eine neue, andere
       Kultur verkörpern“, und empfahl anderen Parteien, zu reagieren. Das Thema
       Netzpolitik wird nun ernst genommen, die Fachpolitiker in diesem Bereich
       machen Karriere. Auch Kommunen lassen sich anstecken, in Niedersachsen
       startet das Projekt „Liquid Friesland“, die Bürger sollen online Anträge
       einbringen, bearbeiten. Das Ergebnis landet als Eingabe im Kreistag.
       
       „Unser Ziel ist, uns selbst überflüssig zu machen. Wenn die anderen unsere
       Ideen stehlen, könnten wir uns guten Gewissens auflösen“, sagt Marina
       Weisband im Januar 2012.
       
       Haben die Piraten sich selbst überflüssig gemacht, Frau Weisband?
       
       Marina Weisband, @Afelia, 28 Jahre alt, sitzt im Prütt Café in Münster. Sie
       hat nun Distanz zu dem, was in Berlin passiert und in Wolfenbüttel. Vor
       Kurzem, erzählt sie, habe sie zum ersten Mal seit Jahren das Wort Piraten
       gehört und an Seeräuber gedacht. Bereits vor einem Jahr ist sie
       ausgetreten, ohne es groß zu erzählen, weil sie den Piraten nicht schaden
       wollte.
       
       Nein, die Piraten hätten sich noch nicht selbst überflüssig gemacht, sagt
       sie. Die Ideen der Piraten seien noch nicht wirklich in den anderen
       Parteien angekommen.
       
       Und dann sagt sie, das mit der Idee der Selbstabschaffung, das sei eine
       „teilkluge Sache“ gewesen: „Es war naiv zu glauben, dass das Thema reicht,
       die Frage ist, was man damit macht.“ Die anderen Parteien durchdringen die
       Digitalisierung nicht, man sehe das beim Leistungsschutzrecht und der
       Netzneutralität. „Für uns ist es viel zu früh, abzudanken.“ Sie sagt immer
       noch „uns“. Und: „Wir“.
       
       „Wir hatten ein System, das besser war, aber keinen Mut, es zu etablieren.“
       Für sie ist das die herbste Enttäuschung: dass ihre Partei die
       Onlineabstimmung nicht verbindlich einführte. Also misslang der Beweis,
       dass es klappen kann. So sind auch Projekte wie „Liquid Friesland“
       eingeschlafen und von den Onlinetools anderer Parteien ist nichts mehr zu
       sehen.
       
       Das Label Piraten hält Weisband für verbrannt. Es hielt den Projektionen
       all derer nicht stand, die den frischen Wind gut fanden, die es denen da
       oben zeigen wollten, die auf Parteitage fuhren, ohne zu wissen, wer die
       Piraten sind. So sieht sie es. Aber von vielem ist sie nach wie vor
       überzeugt. „Es war gut, dass wir populistisch waren“, sagt sie. „Es braucht
       progressiven Populismus!“ Populismus ohne Fremdenfeindlichkeit. Populismus
       mit Alternativen.
       
       Auf der Website von Martin Delius ist inzwischen ein Logo der Linkspartei
       zu sehen. Gerade erst war er für eine Woche in Portugal, um an einem
       Marxisten-Treffen teilzunehmen.
       
       Er habe viel gelernt, sagt Martin Delius. Das Problem sei gewesen, dass
       keine Professionalisierung stattfand. „Geile Inhalte reichen nicht, wenn
       man nicht handlungsfähig ist.“
       
       Im Januar 2016 hat er mit dem Chef der Berliner Linken ein Papier
       vorgestellt, in dem es heißt: „Eine Erkenntnis des Jahres 2015 ist – die
       Piratenpartei ist tot.“ Zusammen mit 34 weiteren enttäuschten Piraten
       unterstützt er nun die Linke. Am Donnerstag vergangener Woche hat Delius
       den finalen Schritt gemacht und ist in die Partei eingetreten.
       
       Im Prütt Café spricht eine Frau Marina Weisband an: „Schade, dass Sie nicht
       mehr in der Politik sind. Verständlich, aber schade.“
       
       Weisband lächelt verlegen. Das hört sie öfter. Sie will ein Comeback ja gar
       nicht ausschließen.
       
       Aber jetzt hat sie erst mal ein neues Projekt: „Aula“, Liquid Democracy für
       Schulen, gerade läuft die Pilotphase. Nebenbei will sie beweisen, dass
       verbindliche Onlinebeteiligung funktioniert. Was bei den Piraten nicht
       klappte, soll nun im Kleinen ausprobiert werden. Als Vorbereitung auf das
       nächste Große.
       
       Was bleibt von den Piraten? Im Prinzip alles, sagt Marina Weisband: Die
       Personen sind noch da. Die Fragen sind noch da. Die Antworten sind noch da.
       
       Auch die Farbe Orange ist noch da. Aber die nutzt jetzt nur noch die CDU.
       
       13 Sep 2016
       
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   DIR [4] https://twitter.com/Afelia
       
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   DIR Nach Ausscheiden aus Berliner Parlament: Piraten auf zu neuen Ufern
       
       Was machen die Mitglieder der Piratenfraktion heute? Neue Heimathäfen
       finden sich in allen politischen Lagern – von der Linke über die FDP bis
       zur AfD.
       
   DIR Piraten-Abgeordneter tot aufgefunden: Gerwald Claus-Brunner gestorben
       
       Der Piratenabgeordnete Gerwald Claus-Brunner – bekannt als „Faxe“ – hat
       sich offenbar das Leben genommen. Er wurde 44 Jahre alt.
       
   DIR Ex-Pirat Lauer wird SPD-Mitglied: Neuer Heimathafen
       
       Er war einer der bekanntesten Politiker der Piraten. Aber schon vor einigen
       Jahren überwarf sich Christopher Lauer mit seiner Partei. Dann folgte der
       Austritt.
       
   DIR Martin Delius über die Linkspartei: „Netzpolitik ist ein soziales Thema“
       
       Der Ex-Pirat Martin Delius ist kurz vor der Wahl in Berlin zur Linkspartei
       gewechselt. Für die sucht er jetzt den Internetanschluss.
       
   DIR FDP in Kreuzberg: Den Abstand zu Rumänien reduzieren
       
       Parteichef Christian Lindner und Ex-Piratenchef Bernd Schlömer buhlen um
       die Startup-Szene. Sie fordern mehr Mut zur Digitalisierung.
       
   DIR Abschied von Berliner Piraten: Die Qual der Wahl
       
       2011 zogen die Piraten mit fast 9 Prozent ins Parlament ein. 2016 werden
       sie in Umfragen nicht mal mehr erfasst. Für wen können ihre einstigen
       WählerInnen stimmen?
       
   DIR Niedergang der Piratenpartei: Abschied in die Bedeutungslosigkeit
       
       Mit Marina Weisband haben die Piraten eines ihrer bekanntesten Mitglieder
       verloren. Doch zur Berlin-Wahl bekommen sie unerwartete Hilfe.