URI: 
       # taz.de -- Die Wahrheit: Der Wurzelschläger
       
       > Wenn alte Bekannte plötzlich nach verrottendem Laub riechen, steht es um
       > ihren Geisteszustand womöglich gerade nicht zum Besten.
       
       „Schnupper mal an ihm“, meinte Raimund an der Theke; „man riecht sein
       meschugge werden.“ – „Blödsinn“, sagte ich, „sowas kann man nicht riechen.“
       – „Kann man doch!“ – „Kann man nicht!“ – „Kann man doch!“ So stritten wir,
       bis ich zur Toilette musste, den kleinen Tisch streifte an dem Speedo saß,
       und feststellte, dass er tatsächlich seltsam roch: Nach feuchter Erde,
       Moos, verrottendem Laub – nach altem, kalten Wald.
       
       Dass sich Speedo in den letzten Wochen verändert hatte, war klar. Seit
       Langem schon zog er samstags über die Ü40- Partys, die inzwischen überall
       stattfanden, um dort eine Frau für eine Nacht aufzugabeln. Sein Tanzstil
       war ein atemloses Hochgeschwindigkeitstrappeln ohne Rhythmusgefühl (daher
       auch sein Spitzname) – und wenn seine Eroberungszüge niemals vergeblich
       waren, so lag das weniger an dem Getrappel als vielmehr an dem Männermangel
       auf jenen Veranstaltungen.
       
       Obschon Speedo aber eigentlich nur Singlefrauen abschleppte – einmal musste
       es schiefgehen. Fest stand, dass er sich in der Schlafzimmerdunkelheit
       eines Hauses am Stadtrand befand, als plötzlich die Haustür klappte und
       eine Frauenstimme im Dunkeln japste: „Ach, du Scheiße, mein Mann!“ Speedo
       sprang aus dem Bett, fand in der Eile sein Gewand nicht, war aber dank
       seiner auf vielen Tanzpartys trainierten Grundschnelligkeit im
       Nullkommanichts durch das Fenster im angrenzenden Wald verschwunden. Dort
       war es so dermaßen finster, dass ihn kein Ehemann jemals aufspüren würde.
       In dem tiefen Dickicht gab es allerdings auch ziemlich angsteinflößende
       Geräusche. Und ohne Taschenlampe und GPS ließ sich aus diesem Grün
       garantiert niemals wieder hinausfinden.
       
       Spaziergänger entdeckten Speedo am nächsten Morgen. Er hockte auf einem
       bodennahen Ast, klapperte vor Kälte mit den Zähnen und gab nur noch
       ängstliche Piepsgeräusche von sich.
       
       Nach zwei Tagen in der psychiatrischen Klinik Ochsengrün war er weitgehend
       wieder alltagstauglich. Seitdem aber gingen deutliche Veränderungen mit ihm
       vor: Er zog nur noch Wildledersachen mit Fransen an, trug am Gürtel ein
       Fahrtenmesser mit Hirschhorngriff und wurde dabei gesehen, wie er am Fluss
       mit den Enten sprach. Abends saß er nun immer an dem kleinen Tisch im Café
       Gum, murmelte vor sich hin und beugte sich manchmal zu den Leuten am
       Nebentisch hinüber, um dann Sachen zu sagen wie: „In der Wildnis kommt es
       nur darauf an zu überleben!“ oder: „Könnt ihr vielleicht Feuer ohne
       Streichhölzer und Grillanzünder machen?“
       
       „Schätze, er wird bald verschwinden und ein Leben in den Wäldern führen“,
       sagte Raimund schließlich. Doch als Speedo eines Abends tatsächlich nicht
       im Gum auftauchte, fand man ihn am nächsten Morgen neben einem Rotdorn in
       einem Pflanzkübel auf dem Goetheplatz, und als dann wieder zwei Pfleger aus
       Ochsengrün auftauchten, die ihn zu einer Spritztour einluden, sagte er, sie
       sollten ihn doch bitteschön nicht beim Wurzelnschlagen stören und sich
       verpissen.
       
       13 Sep 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Joachim Schulz
       
       ## TAGS
       
   DIR Partnerschaft
   DIR Psychiatrie
   DIR Bäume
   DIR Freundschaft
   DIR Wohnungen
   DIR Feuerwehr
   DIR Vampire
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Die Wahrheit: Hebe dich hinweg, Abrissbirne!
       
       Der Kampf um einen hässlichen Waschbetonquader führt weit in die
       Vergangenheit und zu einer wilden Party in einer heißen Nacht …
       
   DIR Die Wahrheit: Onkel Františeks Heimkehr
       
       Auf einmal stand er vor ihrer Tür: der nette unbekannte Onkel. Er
       verschwand erst, als sie mal wieder ihre Mutter anrief. Zufall?
       
   DIR Die Wahrheit: Muscheln à la seekranke Landratte
       
       Zwar isst das Auge durchaus gerne mit, doch gibt es Speisen, die so
       hässlich sind, dass man sie besser mit geschlossenen Lidern verzehrt.
       
   DIR Die Wahrheit: Meine Cousine Stine
       
       Sie war breit wie ein Schrank, ein Schlag von ihr konnte einen Elefanten in
       Vollnarkose versetzen. Seit Kindstagen waren wir einander versprochen…
       
   DIR Die Wahrheit: Kreaturen der Nacht
       
       Einst gingen furchterregende Gestalten umher, deren Augäpfel gelb waren wie
       geronnene Mayonnaise. Ein Augenzeugenbericht aus dunklen Tagen.