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       # taz.de -- Kolumne Globettrotter: Apropos Psychose
       
       > An Frankreichs Schulen herrscht nach wie vor Verunsicherung wegen der
       > Terrorgefahr. Das erzählen LehrerInnen der Autorin.
       
   IMG Bild: Polizist vor einer Schule in Marseille
       
       Am 1. September endeten für alle Schülerinnen und Schüler Frankreichs die
       Sommerferien. Am frühen Abend des 2. September sitze ich (gerade zu Besuch
       an der heimatlichen Atlantikküste) mit alten Freundinnen und Freunden bei
       Wein und Melone am Strand.
       
       Der Schulanfang ist natürlich Thema: J. und M. arbeiten beide im Gymnasium
       als Französischlehrerinnen. „Na, keine Lust, an die Front zurückzukehren?“,
       scherzt D., wobei er auf M.s Gips deutet.
       
       Vor drei Tagen hatte sich M. das Handgelenk gebrochen und drei Wochen
       Krankenurlaub bekommen. „Nett von dir, mich an die Terrorgefahr zu
       erinnern“, antwortet M. unerwartet schnippisch und schiebt sich ein zu dick
       geschnittenes Stück Melone in den Mund.
       
       Nach den Anschlägen vom 13. November betrachtete man die Schulen der
       Republik offiziell als potenzielles Ziel des IS. Damals war ich gerade in
       Paris. Eine Lehrerin, die ich während meines Aufenthalts kennenlernte,
       erzählte mir, mit welcher Ungeduld sie auf die Ferien wartete: „Durchatmen,
       den Kopf lüften.“
       
       ## Briefing vom Ministerium
       
       Sämtliche Schulausflüge waren gestrichen worden, Schulein- und -ausgänge
       wurden strengstens kontrolliert, doch Hinweise auf Verhaltensregeln im
       Falle eines Überfalls hatte es seitens des Bildungsministeriums keine
       gegeben. „Einen Plan sollten wir eigentlich im Januar bekommen“, teilte mir
       die müde Lehrerin mit.
       
       Also frage ich nun J. und M., während sie sich immer wieder nach ihren im
       Wasser spielenden Kindern umsehen, wie sie denn gebrieft worden sind. „Uns
       wurde nur gesagt, wir sollen mit den Schülern darüber reden. Aber nicht,
       wie“, sagt M.
       
       „Also ließ ich sie unter sich diskutieren, ohne zu moderieren. Ich wäre nur
       eingeschritten, falls das Ganze ausartet.“ Intervenieren musste sie nicht.
       „Aber in jeder meiner Klassen gab es immer mindestens zwei bis drei
       Schüler, die geweint haben.“
       
       Das erinnert mich an die Ratlosigkeit, mit der ich von den Bewohnerinnen
       und Bewohnern von Paris im Dezember 2015 empfangen wurde. Sie fühlten sich
       vom Staat im Stich gelassen: „Was wir tun sollen, sagt uns keiner“,
       beklagten sich viele – und es klang fast wie: „Was sollen wir denken?“ Der
       Staat als moralische Instanz.
       
       Meine Frage an J. und M. bezog sich auf die verordneten
       Sicherheitsmaßnahmen. „Ach so, ja“, fängt J. zögernd an, während sie sich
       wieder aufrichtet und den an ihrem Arm klebenden Sand wegwischt. „Also,
       wenn es zu einem Anschlag kommt, sollen wir die Tür der jeweiligen
       Klassenräume zuschließen, alle Gardinen zuziehen, uns ruhig auf den Boden
       legen und warten.“
       
       ## Die Schüsse galten den Staren
       
       Man wies die Schülerinnen und Schüler darauf hin, keine Gruppe vor dem
       Eingang zu bilden, falls sie verspätet kommen und das Tor bis zur nächsten
       Unterrichtspause verschlossen vorfänden. „Geht in den Park, ins Café, ins
       Kino, verteilt euch.“ Seid unauffällig.
       
       J. erinnert sich, wie sie vor den Ferien einen Theaterregisseur in ihre
       Klasse geladen hatte und es plötzlich aus der Ferne Schüsse zu hören gab.
       „Einige Schüler wirkten auf einmal erschrocken und unkonzentriert, also
       unterbrach ich den Regisseur und beruhigte sie, denn ich wusste, dass die
       Schüsse den Staren galten.“
       
       So verzweifelt war die Stadt über die seit Jahren andauernde Vogelplage
       durch die säuerlich aus der Luft kackenden Tiere, dass sie nun mittels
       kleiner Kanonen versuchte, dagegen anzukämpfen. „Aber dann bereute ich
       gleich wieder mein Eingreifen, denn vielleicht hatte ich ihre Unruhe
       überinterpretiert – oder gar befeuert.“
       
       Eine polizeiliche Überwachung aller Schulen sei sowieso nicht machbar und
       wäre zudem das falsche Zeichen, fährt sie fort. Da kann ich nur zustimmen:
       Am Strand, an dem wir liegen, laufen gerade Soldaten mit MPs die Promenade
       rauf- und runter. „Apropos Psychose“, bringt sich D. wieder ein. „Hast du
       in Deutschland deine Hamsterkäufe schon erledigt?“
       
       20 Sep 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Elise Graton
       
       ## TAGS
       
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